(K)eine Ampel gegen Fehlernährung
Bundesregierung lehnt eine verständliche Kennzeichnung der Lebensmittel ab
Deutsche Kinder sind zu dick. Das ist nicht neu. Dass Kinder von bildungsfernen Eltern dicker sind als der Nachwuchs von Bildungsbürgern ist ebenfalls bekannt. Folglich müsste eine Kennzeichnung von Nährstoffen möglichst einfach und allgemein verständlich sein. So wie eine Ampel. Aber genau das will die Bundesregierung nicht, weil Nestlé und andere dagegen sind.
Der Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Seehofer beklagt selbst, dass in Deutschland circa 37 Millionen Erwachsene und rund zwei Millionen Kinder und Jugendliche übergewichtig oder adipös (fettleibig) seien, dass ein Viertel der Erwachsenen an Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Bluthochdruck leide und mehr als jedes fünfte Kind Symptome einer Essstörung aufweise. Die Folgekosten, die durch ernährungsbedingte Krankheiten entstehen, werden mit 30 Prozent aller Gesundheitskosten kalkuliert und belaufen sich jährlich mehr als 70 Milliarden Euro.
Unstrittig ist unter Fachpolitikern aller Couleur, dass neben mehr Bewegung und Sport auch eine gesündere Ernährung notwendig ist. Wenn es aber darum geht, Lebens- und Genussmittel klar zu kennzeichnen, findet diese Einmütigkeit ihre Grenzen. Dabei gäbe es für die Verbraucherinformation eine simple und allgemein verständliche Lösung - die Ampel. Diese Kennzeichnung wäre auch für Kinder und „bildungsferne“ Menschen auf Anhieb zu verstehen. Schließlich kennt jeder Ampeln aus dem Straßenverkehr.
Noch bei der Vorlage der „nationalen Verzehrstudie“ hatte Verbraucherminister Seehofer selbst auf den Zusammenhang von „Bildungsferne“, Fehlernährung und Fettleibigkeit hingewiesen. Dort heißt es in der Betrachtung nach soziodemografischen Merkmalen:
- Je höher der Schulabschluss desto geringer ist der BMI(= Body Mass Index)bei Männern und Frauen.
- Mit steigendem Pro-Kopf-Nettoeinkommen zeigt sich bei Männern und Frauen ein Absinken des BMI.
In Großbritannien erfolgreich erprobt
Bei der Nährwert-Ampel, die in Großbritannien bereits erfolgreich erprobt wurde und auch in der Schweiz eingeführt werden soll, sieht der Verbraucher auf den ersten Blick, wie er das Produkt einzuordnen hat: Auf der Vorderseite der Verpackung wird der Gehalt an Nährstoffen wie Fett, gesättigte Fettsäuren, Zucker und Salz jeweils durch eine der drei Ampelfarben angezeigt. Rot steht dabei für einen hohen Nährstoffgehalt, gelb für einen mittleren und grün für einen geringen Anteil.
Die Ampel kommt auch bei den Verbrauchern gut an. Das ergab eine Verbraucherbefragung der britischen Verbraucherorganisation 'Which?' im Sommer 2006. Im Vergleich zu anderen Kennzeichnungsformen wurde die Ampel von über 90 Prozent der Befragten als leicht und schnell verständlich bewertet.
Grund genug für den Bundesverband der Verbraucherzentralen (vzbz), die Ampel als Form einer künftigen Nährwertkennzeichnung auch in Deutschland zu fordern. "Studien zeigen, dass viele Verbraucher beim Einkaufen die Rückseite von Produkten einfach ignorieren", unterstützt Entscheidungspsychologin Jutta Mata vom Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung die Forderung der Verbraucherzentralen.
Auch Dr. Ulrich Fegeler, Sprecher des Berufsverbandes der Ärzte für Kinderheilkunde und Jugendmedizin Deutschland e.V. favorisiert diese Kennzeichnung. Angesichts der mehrfach untersuchten Fehlernährung bei zahlreichen Jugendlichen und Kinder fordert er eine einfach zu verstehende Nährwertkennzeichnung und unterstützt deshalb das Ampelsystem. Fegeler zufolge ist die „mangelnde und unverständliche Nährwertkennzeichnungen mit Schuld an ernährungsbedingten Krankheiten wie Fettleibigkeit und Diabetes". Denn, so der Kinderarzt, „insbesondere Kinder aus bildungsfernen Familien und Familien mit Migrationshintergrund weisen deutlich höhere Anteile an Übergewichtigkeit und Fettsüchtigkeit auf.“ Die Ampel überwindet auch Sprachprobleme.
Ungesunde Produkte bekommen einen roten Punkt, gesunde einen grünen und grenzwertige einen gelben. Wenn dann im Einkaufswagen nur noch rote Punkte leuchten, verstehen Eltern und Kinder sofort, dass sie sich stärker um eine ausgewogene Ernährung bemühen müssen.
Ulrich Fegeler
Selbst Analphabeten und schon kleine Kinder würden diese Signale verstehen. Doch das ist der Lebensmittelindustrie - und Minister Seehofer offenbar zu einfach.
Ministerium setzt Industrievorschläge um
In der Corporate Communications bei Nestlé Deutschland hat man ein schlagendes Argument gegen die Nährwert-Ampel:
(...)Konsequent angewendet hätte mit dieser 'Kennzeichnung' eine Ampel einen roten Punkt beim Zucker, Milch bei gesättigten Fettsäuren und Pflanzenöl beim Fett.
So eine Firmensprecherin gegenüber dem Autor. Dieser Logik folgend müssten natürlich auch Zuckerwürfel mit einem roten Punkt ob ihres unzweifelhaft hohen Zuckergehalts ausgestattet werden. Nestlé möchte die Inhaltsstoffe seiner Produkte nicht mittels der eingängigen Ampel kennzeichnen und kann sich dabei auf Minister Seehofer verlassen.
Weil aber eine Kennzeichnung der Nährstoffe von der EU verlangt wird, will die Bundesregierung eine wesentlich komplizierte Kennzeichnung einführen. Diese soll aufzeigen, wie viel Prozent des Tagesbedarfs des jeweiligen Nährstoffes mit dem Produkt gedeckt werden. Als wäre das nicht schon kompliziert genug, bleibt die Frage, an welcher Person sich der auf der Packung aufgedruckte „Richtwert“ denn orientiert? An einem großen Erwachsenen oder einem Kind? Braucht nicht ein körperlich anstrengend arbeitender Mensch beispielsweise mehr Fett als die in einem Büro tätigen Menschen? Fragen, auf die das Verbraucherministerium keine Antwort hat.
Produzenten schummeln bei freiwilligen Angaben
Die bisherigen Erfahrungen mit den von Seehofer favorisierten Angaben geben jetzt schon Anlass zur Kritik. Denn Untersuchungen der Verbraucherzentrale Hamburg zeigen, wie dabei seitens der Hersteller gemogelt wird. Die Hamburger Verbraucherschützer untersuchten die Fetthaltigkeit etwa von Chips und wiesen nach, wie die Industrie ihre Produkte gesund rechnet, indem sie willkürliche Kleinstmengen und einen überhöhten Fettbedarf zur Grundlage ihrer Angaben macht.
So stand auf einer Packung Paprika Chips der „Real“-Eigenmarke „Tip“: „19% pro 40-g-Portion.“ Vorausgesetzt wird dabei, dass ein Mensch pro Tag die Aufnahme von 70 Gramm Fett benötigt. Wissenschaftlich erwiesen ist aber ein Bedarf von nur 60 Gramm pro Tag. Dies bedeutet, dass die übliche Messeinheit von 50 Gramm dieser Chips schon 17 Gramm Fett enthält und damit bereits 28 Prozent des Tagesbedarfs an Fett deckt. Verzehrte man den gesamten Packungsinhalt, also 200 Gramm Paprika-Chips, wären mit 68 Gramm Fett der wissenschaftlich begründete Fettbedarf (60 Gramm) mit 113 Prozent bereits deutlich überschritten.
Für verantwortungsbewusste Politiker wie Ulrike Höfken , MdB (B90/Grüne), ist klar, dass man angesichts solcher Schummeleien der Industrie nicht auf deren Eigenverantwortlichkeit setzen und sich mit einer „freiwilligen Kennzeichnung“ begnügen kann. Höfken findet, dass „die beliebigen Aufdrucke auf Verpackungen Verbraucherinnen und Verbraucher heute schon verwirren“. Ein Grund mehr, für eine einfache Kennzeichnung wie die Ampel einzutreten.
SPD lehnt im Bundestag eigenen Parteitagsbeschluss ab
Auch Verbraucherpolitikerinnen wie die SPD-Abgeordnete Elvia Drobinski-Weiss fordern die Ampel. Die SPD-Bundespartei hat auf ihrem Hamburger Parteitag 2007 einen entsprechenden Beschluss gefasst. Darin wird die SPD-Bundestagsfraktion aufgefordert, sich
einzusetzen für eine Nährwertkennzeichnung, die von den Verbraucherinnen und Verbrauchern her gedacht ist und in enger Zusammenarbeit mit den Verbraucherorganisationen entwickelt wird (...) ..die verpflichtend sein muss, einheitlich (...) leicht erkennbar und verständlich (sowie) auf wissenschaftlichen Nährwertempfehlungen beruhen soll.
Allen diesen Anforderungen entspricht die Ampel. Aber weil Seehofer sie nicht will, lehnte auch die SPD im Bundestag einen Antrag der Grünen ab, in dem die Einführung der Ampel verlangt und damit die Umsetzung des SPD Parteitagsbeschlusses gefordert wurde.
Den Verbrauchern bleibt es angesichts dieser Realität überlassen, durch ihr Einkaufs- und Essverhalten selbst Vorsorge zu treffen. Auf die Behörden allein, soviel ist sicher, sollte man sich nicht verlassen.