Kampf gegen den IS: Auf dem strategischen Irrweg
"Der Bevölkerung ein hassenswertes Bild dessen geliefert, was eine Befreiung auf westliche Art sein kann" - die Analyse eines französischen Kommandeurs wird zum Politikum
François-Régis Legrier ist Colonel in der französischen Armee. Das ist vergleichbar mit dem Oberst als deutschem Dienstgrad, der auf den Superlativ von "oben" zurückgeht. Aber es gibt ja noch die Generäle und es gibt die Politik, die sich um solche etymologisch hergeleiteten Superlative nicht kümmern müssen, denn sie haben die Macht.
Im französischen Generalstab und im Verteidigungsministerium unter Florence Parly lief dies darauf hinaus, dass man die Erkenntnisse von François-Régis Legrier lieber der Öffentlichkeit vorenthalten wollte. Legrier hatte in einer Fachzeitschrift einen Artikel veröffentlicht, der brisante Fragen aufwirft zu den Konsequenzen der Art und Weise, wie gegen den IS gekämpft wird, und zur Stellung von Militärs in der öffentlichen Diskussion. Gemeint ist, ob sie mitreden dürfen oder es sogar sollen, damit sich die öffentliche Meinung auf ein breiteres sachkundiges Terrain gründen kann.
Kommandeur der französischen Anti-IS-Truppen
Der Colonel fungierte bis vor kurzem als Leiter der Task Force Wagram, Teil der Internationalen Koalition, die unter Führung des US-Centcom im syrisch-irakischen Grenzgebiet gegen den IS operiert. François-Régis Legrier kommandierte die französischen Elitesoldaten, die zusammen mit den SDF und der US-Airforce bei Hajin den IS-Milizen den Garaus machen sollten.
Sein Artikel - auf Deutsch: "Der Kampf um Hajin: Taktischer Sieg, strategische Niederlage" - erschien in der Februarausgabe des Fachmagazins Revue Défense nationale. Er wurde aber bald zurückgezogen, weil er "Paris nicht passte", wie aus mehreren Medienberichten hervorgeht (z.B. Le Monde oder Sputnik).
Es gibt, wie stets, wenn man ihn braucht, einen formellen Fehler, damit der Artikel zurückgezogen werden musste. Man kann ihn z.B. als Erfahrungsbericht ("Redex") des Dienstes des Colonels bei der Task Force Wagram verstehen, der vorschriftsmäßig zuerst den Vorgesetzten und dann erst der Öffentlichkeit überlassen hätte werden müssen. Dieser und ähnliche formelle Gründe oder Mängel werden als Begründung für den Rückzug des Artikels angedeutet.
Da aber das Internet seine eigenen Möglichkeiten bietet, mit Veröffentlichungen umzugehen, ist der Bericht über das militärische Fachblog von Michel Goya (La voie de l'epée) und Hinweisen seiner Kommentatoren weiter zugänglich.1
Lektionen
Legrier bietet seinem Fachpublikum, für den Artikel ja gedacht war, einige "Lektionen" an. Es sei dies, fern vom Üblichen, vermutlich das "klarste Exposé über die Art, wie wir auf diesen Operationsfeldern Krieg führen, mit Stärken, aber auch großen Beschränkungen", kommentiert Michel Goya, früher ebenfalls ein Oberst, jetzt ein in Frankreich bekannter Militäranalyst.
Die politisch relevante Botschaft François-Régis Legriers zum "Kampf in Hajin" fällt jedenfalls auch für Laien sehr deutlich und verständlich aus. Seine Analyse endete mit den Worten:
Wir haben die Infrastruktur massiv zerstört und der Bevölkerung ein hassenswertes Bild dessen geliefert, was eine Befreiung auf westliche Art sein kann und wir lassen damit die Keime für die baldige Wiederkehr eines neuen Gegners hinter uns zurück. Wir haben auf keine Weise diesen Krieg gewonnen, aus Mangel an einer realistischen und konsequenten Politik und einer adäquaten Strategie. Wie viel Hajin brauchen wir, um zu begreifen, dass wir uns auf einem Irrweg befinden?
François-Régis Legrier
Hajin bietet nach seiner Befreiung das übliche Bild der Zerstörung, wie man es aus Rakka und Mosul kennt. Zu sehen ist dies in Videos und Berichten. Dort entsteht das Begleitgefühl, dass mit der Zerstörung eine Pädagogik verfolgt wird: "Das ist das Markenzeichen der IS-Hinterlassenschaft", wie es bei al-Shahid, einer offensichtlich tendenziösen Publikation, geschrieben steht.
Dieses "Markenzeichen" der Zerstörung, das nach gerechter Strafe oder Konsequenz klingt, ist nach Legrier Analyse nicht nur unnötig, es führt seinerseits zu keinen guten Konsequenzen. Seine Hauptthese lautet, dass man auf dem Operationsfeld, der "Tasche von Hajin", militärisch mit einem anderen Spielraum hätte vorgehen können, als sich derart auf den Einsatz der US-Luftwaffe zu konzentrieren.
Die Beschaffenheit des Geländes, die militärische Stärke der Gegner (seiner Schätzung nach 2.000 Kämpfer), die Bewaffnung und die Ausbildung der französischen Truppen wären, wie er in seinem siebenseitigen Artikel ausführt, dazu geeignet gewesen, einen stärker auf Bodenaktivitäten ausgerichteten Kampf zu führen, der zu weitaus weniger Zerstörungen geführt hätte. Die französischen Truppen hätten dazu mehr Spielraum gebraucht.
Dazu hätte gehört, dass der Bodenkampf nicht nur den Proxykräften der SDF überlassen worden wäre, sondern es auch ein politisches Einverständnis für eine andere Rolle der französischen Soldaten gegeben hätte, lässt Legrier verstehen.
Abhängigkeit von den USA
Dass die französischen Einheiten für solche Aufgaben vorbereitet gewesen wären, hätten sie bei erfolgreichen Einsätzen mit ähnlichen Vorgaben in Mali gezeigt, nimmt Michel Goya den Faden auf. Statt solche Alternativoptionen zu verfolgen, mache man sich aber völlig von den Amerikanern und deren militärischen Vorgaben, die vor allem auf Luftangriffe bauen, abhängig.
Das hat in der Schilderung des Colonels dann einerseits zur Folge, dass das Vorgehen der Luftwaffe falsch proportioniert ist: zu hastig und zu viel, nachdem die Politik zuvor aus unerfindlichen Gründen lange gezögert hat. Anderseits gab es durch die militärische Abhängigkeit von der Luftwaffe dann bei Sandsturm keine Möglichkeit, den in Bedrängnis geratenen SDF zu helfen.
Um eigene Opfer zu vermeiden, die Opfer der anderen vergrößern
Der neuralgische Punkt, der in der Analyse des französischen Colonels sichtbar wird und den Goya weiter herausarbeitet, ist das Risiko, das vermieden wird. Man setzt auf die Luftwaffe und die SDF-Proxies, um möglichst zu verhindern, dass eigene Soldaten getötet werden. Dem stehen aber in der Wahrnehmung der Bevölkerung des Landes, in dem die westlichen Militäroperationen geschehen, die eigenen Opfer und die Zerstörungen durch die Luftangriffe gegenüber.
Es ist offenkundig, wie heikel und brisant das Thema ist, das bereits bei Grundsatzfragen über die Legitimität von Interventionen auf fremdem Staatsgebiet anfängt. Die öffentliche Meinung hat bei der Einschätzung, welchem Risiko Soldaten und Bevölkerungen ausgesetzt werden, viel Gewicht. Um so wichtiger ist es, dass sie möglichst umfassend informiert wird. Dass das geht, zeigt das Beispiel des gesperrten Artikels. Er verrät keine militärischen Geheimnisse.
Daher hätte die Empfehlung des französischen Generalstabschefs Lecointre einiges für sich. Er empfahl den Militärs, dass sie "schreiben", dass sie die militärische Schweigezone verlassen und sich mehr in die öffentliche Debatte einlassen.
Der Generalstab und die politische Führung in Paris sind dafür noch nicht bereit.