Kanarischer Punkrock

Mit computergenerierten Klangfolgen haben amerikanische Forscher jungen, unerfahrenen Kanarienvögeln schräge Töne entlockt

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Eigentlich unterliegt der Gesang von Kanarienvögeln festen Regeln. Mit anderen Worten: Dass ein Kanarienvogel wie ein Kanarienvogel klingt, ist kein Zufall, sondern erstens das Ergebnis gekonnter Nachahmung und zweitens eine Frage der Übung. Mit ein paar Tricks jedoch konnten amerikanische Forscher junge, unerfahrene Kanarienvögel dazu bringen, grundsätzliche Regeln beim Singen zu verletzen. Fürs Erste jedenfalls. Denn sobald die Vögel in die Pubertät kamen, glichen sie ihr disparates Gezwitscher dem klassischen Kanarienlied an. Der Grund für den Sangeswandel ist denkbar einfach: Kanarienhennen lassen sich nur dann zu Paarung, Eierlegen und Nestbau animieren, wenn die Hähne auf klassische Art und Weise tirilieren.

Ziel des in der aktuellen Ausgabe von Science beschriebenen Experiments war herauszufinden, wie männliche Kanarienvögel das Singen erlernen, genauer: welche Faktoren angelernt und welche ererbt sind. Zu diesem Zweck haben Forscher der Rockefeller Universität in New York City so genannte Belgische Wasserschläger – also Abkömmlinge einer Kanarienvogelart, die für ihre Gesangskünste berühmt ist – isoliert aufgezogen. Die Piepmätze schlüpften in einem schalldichten Raum und wurden ausschließlich von ihren Müttern versorgt, die zu diesem Zeitpunkt nicht sangen. Nach 25 Tagen kamen die männlichen Tiere in eigene, schallisolierte Käfige (weibliche Nachkommen waren für das Experiment uninteressant und wurden aussortiert). Das Einzige, was die Jungvögel dort zu hören bekamen, waren computergenerierte Klangfolgen, die in wesentlichen Punkten vom klassischen Kanariengesang abwichen. Das Ergebnis klang einigermaßen schräg und wurde von den Forschern als "Canary Punk Rock" bezeichnet.

Wer schräg singt, fliegt raus

Das klassische Kanarienlied besteht aus einer Reihe von Pfeiftönen ("Silben"), die in Tonhöhe und Dauer variieren. Die einzelnen Silben werden mehrmals wiederholt und bilden "Phrasen" oder "Strophen". Züchter sprechen auch von "Touren" und unterscheiden eine ganze Reihe von Lautäußerungen, die Namen wie Hohlrollen, Knorren, Wassertouren, Hohlklingel, Pfeife, Glucke, Schocke, Klingelrolle und Klingel tragen. Die Aneignung des Repertoires erfolgt im Wesentlichen via Nachahmung. Aus diesem Grund werden Vögel, die schräge Töne von sich geben, von Züchtern flugs aussortiert. Andernfalls könnte der Missklang Schule machen. Schließlich gilt auch bei Kanarien: Übung macht den Meister.

Ein singender männlicher Kanarienvogel (Bild: Science/Arturo Alvarez-Buylla)

Für Züchter sind seltsame, unreine Töne der Alptraum, denn wenn so ein Ton erst einmal ins Repertoire aufgenommen ist, wird man ihn kaum mehr los. Bis die Jungvögel ganz wie die Alten klingen, vergehen etwa sechs bis acht Monate. Frühreife Sänger probieren bereits nach etwa zwei Monaten eigene Strophen aus. Bei isoliert gehaltenen Vögeln lässt sich der Prozess beschleunigen, indem man den Testosteron-Spiegel erhöht.

Canary Punk Rock

Aus früheren Tierversuchen war bereits bekannt, dass auch isoliert aufgezogene oder hörgeschädigte Kanarienvögel in der Lage sind, kanarienartige Töne und – zumindest ansatzweise – Strophen zu entwickeln. Allerdings bleibt das Repertoire beschränkt. Die Forscher um Timothy Gardner wollten herausfinden, was passiert, wenn sie ihren Testkandidaten "Canary Punk Rock" vorspielen. Würden sich die isoliert aufgewachsenen Jungvögel zu Punksängern entwickeln? Oder würde ein geheimnisvoller Faktor dafür sorgen, dass die Tiere trotz der schrägen Töne am Ende klassische Kanarienlieder singen?

Oberflächlich betrachtet erinnerten die computergenerierten Klangfolgen an natürlichen Kanariengesang, im Detail jedoch verletzten sie wesentliche Regeln. Im Einzelnen gab es zwei Varianten von "Canary Punk Rock". Variante eins bestand aus einer Zufallssequenz von 30 Sekunden Länge, von den Forschern auch Random Walk genannt: Anders als beim klassischen Kanarienlied, wo Töne mehrfach wiederholt werden, war jeder Ton innerhalb einer Tonfolge etwas anders als der jeweils vorangehende Ton, außerdem gab es keine Strophen. Variante zwei bestand aus drei Wiederholungen eines Glissandos von je fünf Sekunden Länge, also aus kurzen, abfallenden Tonfolgen.

Zehn Vögel bekamen den "Random Walk" vorgespielt, sechs das "Glissando". Die Lautäußerungen der Tiere wurden automatisch aufgezeichnet, Käfiggeräusche und einfache Pfiffe wurden bei der Auswertung herausgerechnet. Anschließend wurde überprüft, welche Vögel dem künstlichen Original am nächsten kamen. Nach 150 bis 250 Tagen lieferten sechs der zehn Random-Walk-Kandidaten überzeugende Imitationen der ersten zehn Sekunden des Kunstsongs. Bei der Glissando-Gruppe gab es keine bemerkenswerten Imitationen, deshalb wurde diese Gruppe nicht weiter beobachtet.

Dass die Vögel, die mit der 30-sekündigen Zufallssequenz beschallt worden waren, nach wenigen Monaten immerhin 10 Sekunden imitieren konnten, fanden die Forscher bemerkenswert. Denn die Lautäußerungen von Belgischen Wasserschlägern, die in Volieren aufwachsen, sind im Durchschnitt höchstens 2,7 Sekunden lang (Wiederholungen nicht eingerechnet). Die Jungvögel hatten also ein weitaus größeres Repertoire als erwartet. Das Experiment war damit jedoch noch nicht beendet.

Punk ist nichts für Erwachsene

Als nächstes wollten die Forscher herausfinden, wie sich der Gesang verändert, sobald die Vögel geschlechtsreif werden. Um den Einfluss von Jahreszeiten und Geschlechtshormonen zu testen, experimentierten die Forscher mit Faktoren wie Tageslicht und Testosteron. Und tatsächlich: je mehr Licht und je mehr Testosteron, desto mehr veränderte sich der Gesang weg vom Kanarienpunk in Richtung Kanarienklassik. Statt die punkigen Zufallssequenzen einfach nur nachzuahmen, wiederholten die Tiere in klassischer Kanarienvogelmanier einzelne Passagen und bildeten auf diese Weise erkennbare Strophen, deren Reihenfolge sie losgelöst vom Original immer wieder veränderten. Wie schnell der Wandel von Punk zu Klassik erfolgte, hing davon ab, in welchem Tempo die Vögel Licht und Hormonen ausgesetzt waren. So hatten zwei der sechs Vögel Testosteron-Implantate und mehr Tageslicht als die vier anderen bekommen und entsprechend schneller ein klassisches Repertoire entwickelt. Mit anderen Worten: Die Beschallung mit "Canary Punk Rock" hat die Entwicklung des klassischen Gesangs nicht verhindert, sondern nur verzögert.

Natürlich war auch damit das Experiment noch nicht zu Ende. Die Vögel wurden weiter beobachtet und es zeigte sich, dass diejenigen, die während ihrer Lernphase in der Lage waren, die disparaten Sequenzen des "Random Walk" perfekt zu imitieren, auch als Erwachsene ab und zu ein paar Melodien aus ihrer Punkphase zwitscherten. Sie konnten ohne weiteres zwischen Punk und Klassik hin- und herwechseln. Um jedoch Weibchen anzulocken, mussten sie das klassische Repertoire einsetzen.

Daraus zogen die Forscher den Schluss, dass auch für Kanarienvögel gilt: als Jugendlicher kann man rumexperimentieren, als Erwachsener jedoch muss man sich den Konventionen unterwerfen. Es sei denn, man verzichtet auf Nachkommen.