Kann die Jerusalemer Erklärung den Antisemitismus neu definieren?

Der hohe Anspruch muss fast zwangsläufig scheitern, doch die Erklärung könnte wieder Raum für Diskussionen öffnen

Wo beginnt Antisemitismus? Über diese Frage wird seit Jahren heftig geschritten. Jetzt könnte eine von 200 Wissenschaftlern, die sich mit Antisemitismusforschung befassen, unterzeichnete Jerusalemer Erklärung die Diskussion neu beleben. Nun könnte man denken, warum findet eine Erklärung von 200 Wissenschaftlern eine solche Resonanz? Das liegt auch am Anspruch der Erklärung, die IHRA-Definition, die 2016 von der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) angenommen wurde, zu ergänzen bzw. zu präzisieren.

"Da die IHRA-Definition in wichtigen Punkten unklar und für unterschiedlichste Interpretationen offen ist, hat sie Irritationen ausgelöst und zu Kontroversen geführt, die den Kampf gegen Antisemitismus geschwächt haben. In Anbetracht der Tatsache, dass sie sich selbst als 'Arbeitsdefinition' bezeichnet, haben wir uns um Verbesserungen bemüht, indem wir (a) eine präzisere Kerndefinition und (b) ein kohärentes Set von Leitlinien vorlegen", lautet der nicht unbescheidene Anspruch der Verfasser der Jerusalemer Erklärung.

Die Tragweite dieses Anspruchs wird klar, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die hier zumindest teilweise kritisierte IHRA-Definition die Grundlage für einen Beschluss der Bundestages war, die Israelboykottbewegung als eine Form des Antisemitismus zu bezeichnen, die nicht in mit öffentlichen Mitteln beförderten Räumen propagiert werden dürfe.

Streit um die Israelboykott-Bewegung

Das kritisierten die Verfasser der Jerusalemer Erklärung, die allerdings keineswegs die Israelboykott-Bewegung unterstützen So betont der Sozialwissenschaftler Micha Brumlik, einer der Unterzeichner der Erklärung, dass er die Boykottbewegung für falsch hält. Er wehrt sich allerdings dagegen, sie pauschal als antisemitisch zu bezeichnen.

Die Punkte 11- 15 der Leitlinien der Jerusalemer Erklärung versuchen zu erklären, was "nicht per se antisemitisch" ist. In Punkt 14 wird hier die Boykottbewegung genannt. Doch auch die Forderungen der palästinensischen Nationalbewegung und Kritik und Ablehnung des Zionismus als Form von Nationalismus werden in die Kategorie "nicht per se antisemitisch" eingeordnet.

Dieses "per se" soll wohl ausdrücken, dass es sich bei diesen beschriebenen Phänomen sehr wohl um Antisemitismus handeln kann, aber dass es nicht automatisch Antisemitismus sein muss. Nun dürften die wenigsten behaupten, dass die Forderungen der palästinensischen Nationalbewegung per se antisemitisch sind. Geht es aber beispielsweise um die Charta der Hamas, so enthält diese eindeutig antisemitische Inhalte. Da bleibt die Erklärung doch zu vage, wenn sie eine sehr allgemeine Koscher-Erklärung in den Leitlinien liefert.

Zwischen Fluss und dem Meer

Das wird besonders im Punkt 13 der Leitlinien deutlich, in der es in fast literarischer Sprache heißt:

Es ist nicht per se antisemitisch, Regelungen zu unterstützen, die allen Bewohner:innen "zwischen dem Fluss und dem Meer" volle Gleichberechtigung zugestehen, ob in zwei Staaten, einem binationalen Staat, einem einheitlichen demokratischen Staat, einem föderalen Staat oder in welcher Form auch immer.

Aus der Jerusalemer Erklärung

Die ungewöhnliche Formulierung "zwischen den Fluss und dem Meer" ist die Übersetzung der palästinensischen Parole "Min an-Nahr ila al-Bahr". "Gemeint ist damit das gesamte frühere britische Mandatsgebiet Palästina. Das schließt den Staat Israel innerhalb der 'grünen Linie' - der Grenze vor dem Junikrieg 1967 -, den Gazastreifen und das seit 1967 besetzte Westjordanland ein", schreibt der antizionistische Autor Knut Mellenthin in der jungen Welt.

Auch diese Passage ist problematisch, weil die arabische Parole längst zum Schlachtgesang all jener wurde, die eben keinerlei jüdische Heimstatt im Nahen Osten gelten lassen wollten und das gesamte Gebiet "zwischen dem Fluss und dem Meer" für die arabische Seite beanspruchen.

Genau dieser Anspruch, der nicht nur mit Worten, sondern oft genug mit blutigen Anschlägen vorgetragen wird, löst bei einem Großteil der jüdischen Bevölkerung die Angst vor Vernichtung und Vertreibung aus. Das ist sicher keine Grundlage, auf der über einen binationalen Staat für alle Menschen, die dort leben, nachgedacht werden kann. Dabei ist es grundsätzlich richtig, wenn die Jerusalemer Erklärung festhält, dass die Forderung nach einem binationalen Staat mit gleichen Rechten für alle Bewohner "nicht per se antisemitisch" ist.

Das trifft besonders dann zu, wenn sie in anarchistischer oder rätekommunistischer Absicht vertreten wird, wo es ja um die Überwindung von Nationalstaaten geht. Doch eine Grundlage eines binationalen Staats ist auch die Bekämpfung aller Formen von Antisemitismus, wie er beispielsweise in bestimmten islamistischen Gruppierungen vertreten wird. Vereinigungen und Organisationen, die schon heute binational organisiert sind, könnten eine Einübung in einen solchen binationalen Staat sein.

Die Grundlage ist Vertrauen in großen Teilen der Bevölkerung auf beiden Seiten. Daher ist es irritierend, dass in den Leitsätzen die Formulierung "zwischen dem Fluss und dem Meer" auftaucht, die eben bei vielen Juden in Israel bestimmt kein Vertrauen erzeugt.

Es war klar, dass dieser neue Definitionsversuch des Antisemitismus neuen Streit auslösen wird. Heftige Kritik übt Thomas Wessel in seiner auf dem Blog Ruhrbarone veröffentlichten Polemik. Dort unterstellt er den Verfassern der Jerusalemer Erklärung, sie würden damit das Geschäft des islamistischen Regimes im Iran betreiben.

Eine Antisemitismusdefinition die nicht von rechts gekapert werden kann?

Einen neuen Aspekt brachte der Publizist Michael Loewy in die Debatte.

Der Kampf gegen Antisemitismus ist gekidnappt worden, von politischen Interessen, die mit der Verteidigung jüdischen Lebens und jüdischer Kultur, mit der Verteidigung jüdischer Selbstbestimmung wenig zu tun haben. Wir leben in einer Welt, in der sich ein autoritärer Nationalist wie Victor Orbán, der seine Macht nicht zuletzt einer antisemitischen Kampagne verdankt, als Freund Israels deklarieren kann.

Michael Loewy, taz

Er verweist darauf, dass die rechtspopulistische ungarische Ministerpräsident Orban, der eine antisemitische Kampagne gegen Soros lanciert, sich als großer Freund Israels geriert. Das machen heute alle schlaueren Rechten, sogar die AfD. Sie hat im Bundestag gefordert, die BDS-Kampagne in Deutschland ganz zu verbieten. Es wäre schon viel gewonnen, wenn die Jerusalemer Erklärung zu einer rationalen Diskussion führen würde.