Kanzlerin der negativen Vergleichsmaßstäbe
Großer Zapfenstreich für Angela Merkel und zweierlei Mythen
Die Schauspielerin und Sängerin Hildegard Knef war in den ersten Nachkriegsjahren in Filmen zu sehen, die von Krieg, Faschismus und Militarismus gebrochene und traumatisierte Menschen zeigten. Eine Instrumentalversion des Knef-Songs "Für mich soll es rote Rosen regnen" wünschte sich die scheidende Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) dann ausgerechnet von der Militärkapelle der von Rechtsextremismus-Skandalen gebeutelten Bundeswehr.
Viel spekuliert wurde über ein anderes Stück aus ihrer Musikauswahl beim Großen Zapfenstreich in Berlin: Wollte sie mit "Du hast den Farbfilm vergessen" von Nina Hagen noch einmal ihre ostdeutsche Herkunft unterstreichen, nachdem sich in den 16 Jahren ihrer Amtszeit die Gräben zwischen Ost und West nicht wirklich geschlossen hatten und sie selbst als große, glänzende Ausnahme von der Regel dastand, dass Ostdeutsche gegenüber Westdeutschen benachteiligt sind und sich häufig als Bürger zweiter Klasse fühlen?
Da Merkel aber vielleicht gar nicht selbst diese Auswahl getroffen hat, sondern dabei möglicherweise beraten wurde, war die Frage viel interessanter, was sie beim Anblick dieses archaischen Militärrituals am Donnerstagabend wohl dachte. Schließlich konnte sie dieser Truppe in den letzten Jahren nie hundertprozentig trauen. Denn bei völkisch-nationalistischen Rechten, die in der Bundeswehr ihre Netzwerke bildeten, war Merkel seit dem Spätsommer 2015 verhasst.
Zwei Erzählungen seit 2015
Die Legende von der "Grenzöffnung" durch die Kanzlerin hält sich in diesen Kreisen hartnäckig, obwohl es damals schon seit Jahren keine geschlossenen Grenzen mehr im sogenannten Schengen-Raum gab. Allerdings hatte die Regierung Merkel die Grenze Anfang September 2015 nicht lagebedingt geschlossen, sondern sich zur Aufnahme von Flüchtlingen, die zu Tausenden über Ungarn und Österreich kamen, bereiterklärt. Bereits am 13. September 2015 wurden allerdings an der deutsch-österreichischen Grenze wieder Kontrollen eingeführt.
Die Mythen- und Legendenbildung fand jedoch nicht nur auf einer Seite statt: Während Merkel für die Ultrarechten eine "Volksverräterin" war, verklärten einige Linke sie für lange Zeit zur großen Humanistin. Und das, obwohl sie noch wenige Monate vor der angeblichen "Grenzöffnung" noch im Schuldenstreit mit Griechenland als "eiserne Kanzlerin" aufgetreten war. Sie gilt dort bis heute als treibende Kraft des Spardiktats der EU, das sich unter anderem verheerend auf das griechische Gesundheitssystem ausgewirkt und daher auch Menschenleben gekostet hatte.
Auch in Deutschland war Merkel bis zu ihrem legendären Satz "Wir schaffen das" stets eine Kanzlerin der sozialen Kälte gewesen – eine Kanzlerin des Kapitals blieb sie bis zum Schluss. Die "Arbeitsmarkt- und Sozialreformen" der Agenda 2010 hatte sie schon als Oppositionsführerin unter Kanzler Gerhard Schröder (SPD) nicht nur voll unterstützt, sondern war zum Teil noch für schärfere Maßnahmen eingetreten. Als die Pläne im Jahr 2003 auf dem Tisch lagen, sprach sie von "Trippelschritten in die richtige Richtung".
Politik der Entsolidarisierung
Tatsächlich waren es große Schritte hin zur Ausweitung des Niedriglohnsektors, denn die abschreckenden Sanktionsregeln beim Arbeitslosengeld II machten nicht nur die als faul und antriebslos stigmatisierten Erwerbslosen, sondern auch Beschäftigte erpressbarer.
"Hartz IV taugt eben keineswegs als Sprungbrett in den ersten Arbeitsmarkt, sondern hat sich als bürokratisches Labyrinth entpuppt, aus dem die Betroffenen oft jahrelang, manchmal sogar nie mehr herausfinden, weil sie einer sozialen Abwärtsspirale unterliegen, stigmatisiert und gesellschaftlich ausgegrenzt werden", befand der Armutsforscher Christoph Butterwegge in einem Gastbeitrag für den Focus 15 Jahre nach der Einführung, die unter Schröder viele Sozialdemokraten von der SPD entfremdet hatte.
Es war eine Politik der Entsolidarisierung mit Schwächeren, die Merkels Kabinette ungerührt fortsetzten – einziges Zugeständnis: Ein gesetzlicher Mindestlohn, der aber viel zu niedrig war, um Vollzeiterwerbstätige auch vor Altersarmut zu schützen. Und als es 2015 plötzlich hieß "Wir schaffen das", meinte Merkel damit wohl eher "Ihr schafft das schon". Gemeint war die Aufnahme der Flüchtlinge, für die sich viele auch tatsächlich engagierten.
Zu großen Teilen waren dies Leute, die Angela Merkel nie gewählt hatten, sie aber nun gegen rechte Lynchmob-Parolen verteidigen mussten. Letzteres konnte man auch tun, ohne sich Illusionen zu machen, dass die Kanzlerin sich grundlegend gewandelt hätte, denn sie war ja nicht bereit, die Parole "Wir schaffen das" mit einer Politik zu unterfüttern, die ein Miteinander ohne Existenz- und Abstiegsängste erleichtert hätte. Letztere konnte die AfD zeitweise erfolgreich instrumentalisieren, ohne einkommensschwachen Schichten eine echte Verbesserung in Aussicht zu stellen.
Eine Kanzlerin der Phrasen war Angela Merkel auch in der Klimapolitik. Obwohl sie den menschengemachten Klimawandel nie leugnete, sondern ihn 2019 sogar als "Menschheitsherausforderung" bezeichnete, blieb der "wirkliche Kraftakt", den sie damals ankündigte, bis heute aus. Vielmehr watschte das Bundesverfassungsgericht die Bundesregierung wegen unzureichender Maßnahmen zum Schutz der Lebensgrundlagen der jungen Generation ab.
Vor diesem Hintergrund war die Corona-Politik der Bundesregierung trotz ihrer Doppelmoral bei den Kontaktbeschränkungen in Arbeitswelt und Freizeit noch vergleichsweise konsequent, warf aber umso mehr Fragen auf. Die in mehrfacher Hinsicht verspielte Glaubwürdigkeit rächte sich bei der Eindämmung der Pandemie.
Lorbeeren mit Seitenhieb auf den Nachfolger
"Wir werden Angela Merkel in der Politik schnell vermissen", erklärte am Donnerstagabend der Ko-Vorsitzende der Bundestagsfraktion Die Linke, Dietmar Bartsch. Was dann folgte, könnte allerdings auch eine dezente Spitze gegen Merkels designierten Amtsnachfolger und bisherigen Finanzminister Olaf Scholz (SPD) im Zusammenhang mit der Cum-Ex-Affäre und dem Wirecard-Skandal gewesen sein: "Sie hatte zu keinem Zeitpunkt in irgendeiner Weise materielle Werte als Maßstab für ihr Agieren. Deswegen war sie in keiner Weise 'bestechlich‘", twitterte Bartsch.
Tatsächlich waren Merkels Erfolgsgeheimnis auch die negativen Vergleichsmaßstäbe, die ihr die SPD mit der Auswahl ihrer Kanzlerkandidaten verschaffte: Es waren stets Männer vom rechten Parteiflügel, neben denen sie menschlich und seriös wirkte. Die Bezeichnung "Mutti" wurde zwar auch oft als frauenfeindlich kritisiert – aber viele Menschen wählen eben lieber eine "Mutti" als einen kalten Apparatschik nach dem Geschmack des "Seeheimer Kreises" der SPD. Erst als Merkel nicht mehr antrat und die Unionsparteien ausgerechnet Armin Laschet ins Rennen schickten, hatte einer wie Olaf Scholz eine Chance.
In dem 2020 gedrehten Fernsehfilm "Ökozid" muss Merkel im Jahr 2034 für ihre Fehlleistungen in der Klimapolitik Rechenschaft ablegen. Allerdings haben ihr die Filmschaffenden auch ein Kompliment gemacht – denn die Naturwissenschaftlerin, die es eigentlich besser wissen musste, sich aber von der Auto- und Kohlelobby beschwatzen ließ, zeigt darin im Alter von 80 Jahren tatsächlich Reue.
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