Kaput Lager
Was meint Berlusconi eigentlich mit seinem Angebot an Martin Schulz?
Der italienische Ministerpräsident und EU-Ratsvorsitzende Silvio Berlusconi hat dem deutschen EU-Parlamentarier Martin Schulz vorgeschlagen, in einem italienischen Film über Konzentrationslager die Rolle eines Nazi-Schergen zu übernehmen.
Dabei besteht zwischen einem von deutschen Politikern konstatierten "Nazi-Vergleich" und Berlusconis Äußerung ein feiner Unterschied: Der Medienmogul verglich Schulz nicht direkt mit einem Nazi, sondern verwies auf ein Filmgenre. Auch wenn Berlusconi den Vergleich ganz offenbar negativ gemeint hat - Schulz würde sich als Darsteller nicht in Gesellschaft von Heinrich Himmler oder Franz Schönhuber, sondern von Schauspielern wie Helmut Berger und Dirk Bogarde befinden - die beide tragende Rollen in italienischen Lagerfilmen spielten. Diese Feinheit wurde von deutschen Politikern und Medien bisher nicht wahrgenommen. Was bezeichnend ist: Vor allem deutsche Politiker scheinen Probleme beim Auseinanderhalten von Film und Wirklichkeit zu haben.
Aus diesem Grund hat Deutschland im Vergleich zu seinen Nachbarländern geradezu absurd scharfe Zensurvorschriften - weshalb das von Berlusconi angesprochene Genre auch den meisten Politikern unbekannt sein dürfte: Die italienischen Lagerfilme fielen nämlich fast alle den deutschen Zensurvorschriften zum Opfer. Grund dafür ist vor allem der § 131 des Strafgesetzbuches, der "gewaltverherrlichende" Filme verbietet. Der Paragraf kam unter dubiosen Umständen zustande: Die Kohl-Regierung plante Anfang der 1980er Jahre den Aufbau eines Kupferkabelnetzes und die teilweise Privatisierung des Fernsehens zugunsten von Leo Kirch.
Weil dieser den unerwartet stark boomenden Leihvideo-Markt als Konkurrenz für seine Fernsehpläne ansah, stieß man kurzerhand eine Mediendebatte an und verbot "gewaltverherrlichende" Videos. Daneben wurden Lagerfilme in Deutschland auch mit Verweis auf die §§ 86 (Verbreitung von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen), 86a (Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen) und 184 (Gewaltpornographie) beschlagnahmt.
Dabei enthält der durchschnittliche Lagerfilm zwar jede Menge Sex, Gewalt und Hakenkreuze - aber weniger unterschwellige Nazi-Verehrung als die durchschnittliche ZDF-Geschichtssendung. Neben den anerkannten Klassikern Salong Kitty und Il Portiere di Notte (der von einer sadomasochistischen Beziehung zwischen Charlotte Rampling als KZ-Opfer und ihrem ehemaligen Aufseher erzählt) wurde sogar Pier Paolo Pasolinis Lager-Klassiker Salò o le 120 Giornate di Sodoma zeitweilig beschlagnahmt.
Auch die zahlreichen Nachfolger dieser drei Lager-Klassiker sind keine Filme, bei denen ältere Männer feuchte Augen bekommen, sondern kreisen meist recht freudianisch um die Themen, Sex, Kastration und Menschenversuche. In L'Ultima Orgia del III Reich von Cesare Canevari etwa rächt sich die für sexuelle und medizinische Experimente missbrauchte Lagerinsassin Lise Cohen recht eindrucksvoll an ihren Peinigern. Teilweise nimmt die Aufarbeitung dieser Thematik auch bizarre Züge an: In KZ9 - Lager di Sterminio von Bruno Mattei sollen Schwule durch nackte Frauen geheilt werden (ein Verfahren, an das auch amerikanische Politiker noch gerne glauben) und in Lager SSadis Kastrat Kommandantur von Sergio Garrone stiehlt ein Kommandant einem Wächter die Hoden. Der merkt dies aber erst, als er einen französischen Gefangenen beschlafen will.
Viele der späten Exploitation-Lagerfilme wie S.S. Lager 5 - L'Inferno delle Donne von Sergio Garrone, La Casa Privata per le S.S. von Bruno Mattei, Kaput Lager von Luigi Batzella oder Le Lunghe Notti della Gestapo von Fabio DeAgostinis leben eher von diesem Charme des Bizarren als von sonstigen Qualitäten.
Die schauspielerische Leistung in Rino DiSilvestro Le Deportate della Sezione Speciale SS erreicht sogar ein Niveau, das selbst Politiker nicht unterbieten könnten. Aber vielleicht kam Berlusconi ja auch deshalb auf die Idee, Martin Schulz eine Rolle in einem Lager-Film anzubieten?