Kaputte, alte Konsumgesellschaft

Seite 2: Schneeflocken, Mimosen, Verträumtheit

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Viele jüngere postmaterialistische Leute entwickeln heute negative Gefühle, ja nachgerade "Traumata", wenn sie von der Realität am falschen Fuß erwischt werden. Im Kuschelnest ihrer Helikoptereltern geborgen aufgewachsen, wollen diese "Schneeflocken" (Basler Zeitung) auch draußen im Alltag vor den unangenehm erscheinenden Seiten der Realität verschont werden: keine Gewalt, keine Ungerechtigkeit, kein schlimmes Wort, keine Kritik an einem selbst, kein Trump, und natürlich kein Fleisch essen müssen. Am besten das gezähmte Raubtier Hund vegan ernähren, und wenn man als Postmaterialist in den Ruhestand geht, sich endlich ein veganes Auto kaufen können, das sozusagen als höchstes Maß persönlichen Wohlbefindens.

An sich ist das alles nichts anderes als kultivierter blanker Wahnsinn. Zu welchen eigenartigen und kafkaesken Zuständen dies an angloamerikanischen Universitäten - die deutschsprachigen folgen langsam - führt, war gelegentlich der Berichterstattung zu entnehmen.

Mitunter geht auch Zivilisiertheit zugrunde …

Neurotisches Reagieren als milieutypisches Lebensgefühl, das gespeist wird von ausgeprägtem Narzissmus, reduzierter Empathie, als erlösend empfundener Sicherheit der eigenen Gruppe und verzerrter Wahrnehmung - subjektive Wahrnehmung unter Gruppeneinfluss ist ja nahezu immer entstellt. Wer nicht dazugehört ist ein "Feind", der verbal bis tätlich bekämpft oder denunziert gehört, von solchen Verhaltensformen sind auch die sich selbst für überlegen haltenden Postmaterialisten betroffen. Auch da gibt es Menschen mit schlechtem Charakter und das Feind-Schema ist überhaupt universell vertreten (Bauman hat die Trias "Freund, Feind, Fremder" ausführlich und klug analysiert, dies wäre jedoch ein eigener Beitrag).

Umgangssprachlich gesagt: Störrisches Verhalten lässt auf fehlende Bindungsfähigkeit und Identitätsbildung schließen. Trotz der zur Schau gestellten Selbstgefälligkeit im Jahrmarkt der sozialen Eitelkeiten - Rebellion sähe anders aus. Als politologisches Resümee ist wichtig: die Postmaterialisten, immerhin sind das ein Drittel der deutschen Bevölkerung, haben über viele Vorgänge die Deutungshoheit übernommen. Sie sind in die Medien, in den Bildungsbereich, die Verwaltung, die Werbung und in die sogenannte Kultur eingerückt, also in die relevanten Institutionen gewandert und haben viele NGOs, eigentlich mittlerweile eine NGO-Industrie geschaffen. Authentisch linke Inhalte sind halt dabei auf der Strecke geblieben.

Individual- wie entwicklungspsychologisch hat dieses Milieu, damit letztlich die gesamte Gesellschaft, offenbar ein gravierendes Problem. Es kann sich mit der harten geopolitischen Realität nicht auseinandersetzen. Mit Weichzeichner-Perspektive die Verwerfungen der Zivilisation zu vertuschen, wie das heute die (postmaterialistisch inspirierten) politischen, ökonomischen und medialen Eliten tun, macht tragfähige Lösungen fürs Erste wohl unmöglich. Langfristig werden solche Lösungen dann vermutlich eher explosiv sein - "disruptiv" ist das zeitgenössisch-modische Schlagwort dafür, geopolitisch spürt man das schon am tödlichen Hauch des Terrorismus, das wird allen vermutlich weniger gefallen.

Menschen als Ware

Zygmunt Bauman hat die Kommodifizierung der Welt (das zur simplen austauschbaren Ware werden) als Wesensmerkmal der zeitgenössischen Gesellschaft, das ist die Konsumgesellschaft, herausgearbeitet - da war er zwar nicht der Erste, hat es aber sprachlich mächtig beschrieben.

Andere Menschen werden also ebenfalls zur Ware, nicht nur bei Konsumgelegenheiten, etwa die Verkäuferin im Geschäft oder der Kellner im Bedienungsrestaurant, was sich übrigens sehr einfach beobachten lässt. Am Arbeitsplatz ist es nicht anders und selbst in den höchst persönlichen privaten Beziehungen wird oft der oder die "Andere" als instrumentalisierbares Objekt betrachtet. Dies ändert sich nur, wenn sich die Anderen als kollektives Subjekt, also als Gruppe, genauer: als Schwarm (Bauman) konfigurieren und der Einzelne nicht mehr Teil davon ist. Dann - als Opfer einer Gruppe, wenn jemand den Schutz der früheren Gruppe verliert - wird es existentiell bedrohlich.

Der moderne Mensch, der viel in soziale und andere Netzwerke, früher nannte man dies übrigens eher herb "Freunderlwirtschaft", investiert (gute Netzwerke, also Beziehungsgeflechte, zu haben, ist heute oft ein berufliches Einstellungserfordernis, was an der Grenze zur Korruption nagt), ist völlig aus dem Häuschen, sozusagen traumatisiert, wenn der Wind sich plötzlich gegen einen selbst richtet.

Das spätkapitalistische "Versprechen" von hemmungslosem Konsumismus und sexueller Befreiung (Entsublimierung) haben das Kernstück bisheriger Kultur, die zeitverzögerte Belohnung (deferred gratification, beispielsweise Ansparen, Zeit investieren usw.) bei Konsum, Anerkennung und Liebe als zivilisatorisches Grundelement aufgelöst und damit auch langfristige persönliche (Liebes-) Beziehungen sehr problematisch werden lassen. Taucht jemand auf, der über bessere Qualitäten zu verfügen scheint, wird ausgetauscht, ähnlich wie beim Fernseher oder beim Mobiltelefon. Zufällig zusammengewürfelte Lebenskonstellationen werden dann, gewissermaßen notwehrartig dem eigenen Selbst gegenüber schöngeredet oder als zeitgemäß bzw. modern bezeichnet und bleiben dennoch meist unbefriedigend.

Wir sind alle nur Zoobesatz

Wie gut die Warenform des Menschen im allgemeinen Denken mittlerweile verankert ist, hat sich an den Opfern des Berliner Terroranschlags im Dezember 2016 gezeigt. Sie sind nicht einmal mehr Nummern, sondern auf anonyme Dinge reduziert, deren Individualität, deren subjektive Geschichte niemanden, natürlich auch keine Medien interessiert, besser also, kein Wort dazu verlieren und die Opfer wegstellen, während atemlos der Täter kartiert wird (das Ganze war übrigens ein zur Höchstform aufgelaufenes Versagen der vielen Polizei- und Schnüffeldienste).

Terroropfer, Menschen die umgebracht wurden, sind einfach nur mehr - wie die an den Rand gedrängte underclass - Kollateralschäden in einer medial gleichgeschalteten Gesellschaft, die für ihre neurotisierten Mitglieder ein paar harmlose postmaterielle Kindergärten bzw. Streichelzoos bereithält.