Karl Marx zum Zweihundertsten
Seite 2: Fetisch
Über den Fetisch hat Marx logischerweise im Fetischkapitel geschrieben. Aber das Fetischkapitel ist genau genommen gar kein Kapitel, sondern ein Abschnitt im ersten Band des "Kapital", und nach dem Fetisch kann man dort lange suchen. Und doch steckt er drin, in den vertrackten Warenbeziehungen und in diesem epochemachenden Zitat:
Den Produzenten erscheinen "die gesellschaftlichen Beziehungen ihrer Privatarbeiten als das, was sie sind, d.h. nicht als unmittelbar gesellschaftliche Verhältnisse der Personen in ihren Arbeiten selbst, sondern vielmehr als sachliche Verhältnisse der Personen und gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen.
(MEW 23/87)
Wer diesen Satz kapiert hat, kann sich fast schon den Rest der drei Bände sparen. Bei Marx tritt nicht, wie wir das so häufig in der Schule gehört haben, der Jäger als Tauschhändler dem Sammler entgegen, bis sich aus diesen rechtschaffenen Leutchen böse Kapitalisten mit rauchenden Schloten entwickelt haben. Es begibt sich auch nicht ein wirtschaftlich autarker Robinson auf den Markt, sondern von Anfang der Tauschgesellschaft an findet eine Verkehrung statt. Die Personen werden in ihrem Warenverkehr versachlicht. Sie werden in ihrem Verkehr auf Sachen reduziert.
Dieser Versachlichung steht eine Vergesellschaftung entgegen: Die Waren werden gesellschaftlich. Sie treten untereinander in Verkehr, bilden eine eigene (Umgangs-)Form aus, die Wertform, die als etwas Selbständiges gegenüber den Handelnden auftritt und über die (versachlichten) Personen Herrschaft ausübt, eine naturwüchsige, unkontrollierbare und krisenhafte Herrschaft. Um den Endpunkt vorwegzunehmen: Es ist die Herrschaft des verselbständigten Werts, des Kapitals. Diese Struktur ist schon in der einfachsten Tauschformel angelegt.
Die Vergegenständlichung, Verdinglichung oder Versachlichung gesellschaftlicher Verhältnisse kann als eine Verkehrung zur Naturform ausgelegt werden. Die bürgerliche Gesellschaft funktioniert in der Weise eines nicht zu enthüllenden Naturgesetzes, das uns über die Köpfe gewachsen ist. In der Soziologie nennt man das "Positivismus".
Verkehrte Welt:
Die Beziehungen der Produzenten in ihren Arbeiten erscheinen als sachliche Verhältnisse der Personen und gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen.
Tisch
Wo aber steckt nun der Fetisch? Wir sind schon über ihn gestolpert, ohne es zu merken. In der ökonomischen Version wird es deutlich: Die Sachen, die gesellschaftliche Verhältnisse eingehen, das sind die Waren. Sie werden durch den Wert, der ihnen innewohnt, belebt. Sie gehen untereinander (Zahlungs-)Verhältnisse ein. Sie bekommen ein eigenes, im Wert schwankendes Wesen. Sogar ein einfacher Tisch wird zum Fetisch:
Sobald der Tisch "als Ware auftritt, verwandelt er sich in ein sinnlich übersinnliches Ding. Er steht nicht nur mit seinen Füßen auf dem Boden, sondern er stellt sich allen andren Waren gegenüber auf den Kopf und entwickelt aus seinem Holzkopf Grillen, viel wunderlicher, als wenn er aus freien Stücken zu tanzen begänne.
MEW 23/85; siehe auch: Tanz
Ob, wo und wie der Wert dem tanzfreudigen Tisch innewohnt, bleibt sein Geheimnis: Denn "bisher hat noch kein Chemiker (Tausch-)Wert in Perle oder Diamant entdeckt." Der Tisch als Ware ist ein "vertracktes Ding".
Der Fetisch ist ein Produkt von Marxens politisch-ökonomischer Analyse des Kapitals. Gleichwohl kann man an dieser Stelle in andere Gefilde ausbüxen: in die Ethnologie, die Religionswissenschaft, die Zeichen- und Symboltheorie sowie die Psychoanalyse. Freuds "Totem" ist dem Fetisch verwandt.
Die Warenbeziehung wirft fortsgeschrittene Tauschgesellschaften in den Animismus zurück.
Charaktermaske
Wenn die vom Wert angetriebenen Waren wie mythische Wesen belebt werden, können sie dann auch sprechen? Sicher, und zwar mit der Zunge des Warenbesitzers. Wenn es sein muss, aus dem Holzkopf heraus. Die Waren personifizieren sich wieder, um Markterfolg zu haben.
Die Personen existieren nur füreinander als Repräsentanten von Ware. (...) Wir werden überhaupt im Fortgang der Entwicklung finden, dass die ökonomischen Charaktermasken der Personen nur die Personifikationen der ökonomischen Verhältnisse sind, als deren Träger sie sich gegenübertreten.
(MEW 23,99f.)
Was ist Werbung anderes, als den Leib der Ware aufzuhübschen und ihr Sprache zu verleihen? Folge für die menschliche Sprache: Sie wird stereotyp.
Die Vermarktung der Waren gelingt am besten, wenn ihr Besitzer in die Haut der Waren schlüpft. Die Ware ist seine Verkleidung. Sie kleidet ihn ein, und er repräsentiert und demonstriert ihre Persönlichkeit. Heute wird dieser Prozess Ich-Design genannt. Die menschliche Persönlichkeit wird zum Typus und dieser zur Charaktermaske. Sie wird als Konfektionsware auf dem Markt angeboten. Das ahnte Marx als guter Schauspiel-, insbesondere Shakespeare-Kenner voraus. Aber heute verwachsen die Träger mit ihren Masken. Sie müssen spielen, sie dürfen nicht. Ein Spiel ohne Katharsis.
Nicht die Ware ist die Maske ihres Besitzers, sondern umgekehrt.