Karoshi - Tod durch Arbeit
Japans Kampf gegen die 80-Stunden-Woche und was wir von der östlichsten Nation des Westens lernen können
Japan kann als die östlichste Nation des Westens bezeichnet werden. Es ist demokratisch, kapitalistisch, Partner der Nato, verfügt über enge Handelsbeziehungen zu Europa und den USA und pflegt eine enge freundschaftliche Beziehung mit Deutschland, auch wenn letzteres von den meisten Deutschen häufig vergessen wird.
Doch zugleich ist es ein fremdartiges Land. Ein Land, das wir kaum verstehen, und dessen Kultur wir immer wieder aufs Neue erklären müssen. So auch in dieser Dokumentation. Denn während Europa über Grundeinkommen diskutiert, kämpft die japanische Regierung darum, ihre Arbeiter unter Kontrolle zu bringen, damit sie nicht Karōshi (過労死) erleiden - den Tod durch Überarbeitung.
Was geschieht im Osten?
Die Dokumentation beginnt mit der Geschichte Kona Shiomachis, der Zeichnerin des Mangas "Kündige deinen Job, bevor du stirbst", den sie anonym auf Twitter veröffentlicht hatte. Doch dieser Manga ist nur ein Ausdruck dieses für uns Europäer so fremdartigen Phänomens. In Europa würde der Titel "Kündige deinen Job, bevor du stirbst" als reißerisch, als aufmerksamkeitsheischend aufgefasst werden, doch er ist wörtlich zu nehmen, denn die japanische Regierung geht von 200 Toten durch Überarbeitung jedes Jahr aus, auch wenn es wahrscheinlich bedeutend mehr sind, wie Mikiku Nihei annimmt. Ebenso bleibt unklar, ob auch alle von Überarbeitung verursachten Selbstmorde wie der der vierundzwanzigjährigen Matsuri Takahashi berücksichtigt sind.
Mikiku Nihei berichtet in der Dokumentation von ihrer Arbeit als Unternehmensberaterin und wie sie versucht, das Konzept der Work-Life-Balance den Unternehmern und Arbeitnehmern näherzubringen. Zu den Schwierigkeiten, auf die sie stößt, zählt vor allem, dass Unternehmer eine bessere Work-Life-Balance als Zeichen der Schwäche und sogar Arbeitsverweigerung betrachten.
In Japan gilt Freizeit wenig, stattdessen wird das Sein und Bewusstsein über die Arbeit bestimmt. Disziplin am Arbeitsplatz, Überstunden und zusätzlicher Einsatz bis spät in die Nacht, und wenn man in den Feierabend geht, wenn man ein Lokal aufsucht, dann wird selbst dort die Arbeit fortgesetzt, indem man mit Kollegen über die Arbeit spricht und Kontakte knüpft. Auch die vorgestellten Ansätze, um Karoshi zu bekämpfen, sind kläglich gescheitert. Neben dem Premium Friday - einmal im Monat endet die Arbeit an einem Freitag eher, damit sich die Arbeiter erholen können -, versprechen auch die neuen Gesetze, die ab April 2019 greifen und eine Reduktion der Überstunden fordern, wenig Besserung.
Die ausgeprägte Loyalität der japanischen Arbeiter wird wohl dazu führen, was bereits jetzt häufig der Fall ist: Sie arbeiten länger, und verlassen das Büro erst, wenn ihr Vorgesetzter es erlaubt, ohne ihre Überstunden aufzuzeichnen. Doch bei Hunderten von Toten jedes Jahr hilft jedes Bisschen, um auch nur ein Leben vor dem japanischen Arbeitsmarkt zu retten.
Bemühungen der jüngeren Generation, neue Arten der Arbeit zu finden, Bemühungen, Arbeit und Leben in Einklang zu bringen, sind ebenso missglückt oder führten sogar zu noch schlimmeren Auswüchsen, wie uns das Beispiel der "Freeter" zeigt. Jugendliche und junge Erwachsene, die ursprünglich versuchten, Freiheit zu gewinnen, indem sie weniger arbeiten, sind nun gezwungen, mehr zu arbeiten, um zu überleben, da ihr Bestreben weder gesellschaftlichen noch unternehmerischen Anklang gefunden hat. Der verlinkte Artikel weist zudem noch auf weitere japanische Probleme, derer wir aufmerksam werden sollten, die hier aber leider keinen Raum haben, hin.
Die Dokumentation schließt mit einem kurzen Einblick in eine Diskussion zwischen Toru Yamamori, einem aktiven Mitglied von Basic Income Earth Network, und seinen Studenten über bedingungsloses Grundeinkommen. Dieser kurze Ausschnitt ist so gewichtig und aussagekräftig, dass es nur zu bedauern ist, dass nicht die gesamte Diskussion gezeigt wird. Denn selbst die jüngere Generation lehnt ein Grundeinkommen ab und fürchtet sich mehr vor Abhängigkeit von staatlichen Zuwendungen als vor einer endlosen, ermüdenden, potentiell tödlichen Arbeit.
Was droht im Westen?
Doch was bedeutet dies für Europa? Was können wir daraus lernen? Denn dass es etwas zu lernen gibt, so fern Japan auch scheinen mag, steht außer Zweifel. Ja, wir sehen sogar erste Spuren einer vergleichbaren Entwicklung in Deutschland, mit einem Anstieg an geleisteten Überstunden und Urlaubsverzicht, auch wenn die Gründe hier andere sind als in Japan.
In Deutschland führt nicht ein starkes, gar übertriebenes, Gefühl von Loyalität und Disziplin zu diesen Entwicklungen, sondern die Angst vor dem Verlust der Arbeit. Lieber verzichtet man auf Freizeit und läuft Gefahr, sich zu überanstrengen, als dass man seinen Arbeitsplatz verliert, auch wenn man getrost davon ausgehen kann, dass ein übermüdeter, erschöpfter, ausgelaugter und zudem verängstigter Arbeiter eher Gefahr läuft, seine Arbeit zu verlieren. Vielleicht nicht durch Kündigung, so doch durch Krankheit, physisch oder psychisch.
Wenn man genauer hinsieht, sind die Ursachen sich vielleicht doch nicht so unähnlich. In Japan wird gearbeitet und überarbeitet, weil dies so erwartet wird, es ist Teil der Arbeitskultur, es ist Teil der Gesellschaft, der sozialen Erwartungen. Es gilt, Geld für Essen und Miete zu verdienen und eine vorzeigbare Karriere hinzulegen. Wenn man dafür 60, 70, 80 Stunden in der Woche arbeiten muss, dann sei es so. Shoganai - daran lässt sich nichts ändern.
In Deutschland beruht der Verzicht auf Urlaub und Freizeit auf der Angst vor Arbeitslosigkeit, die häufig mit einem Ausschluss aus der Gesellschaft gleichgesetzt wird. Denn wer nicht arbeitet, hat nicht das Geld, am kulturellen Leben teilzunehmen, und gerät in Abhängigkeit von tendenziell eher gleichgültigen, oder gar feindseligen, staatlichen Institutionen wie dem Jobcenter in Deutschland, welches sich weniger durch Hilfe, sondern mehr durch erniedrigendes und entmenschlichendes Verhalten auszeichnet, darin bestrebt, Leben zu zerstören und Menschen in Verzweiflung und Depression zu stürzen. Und dies geschieht parallel zu einem von der Wirtschaft verkündeten Fachkräftemangel, was eigentlich den hervorragenden Hintergrund für weniger Arbeitsstunden und höhere Löhne darstellen sollte.
Beidem liegt gesellschaftlicher Druck und Angst vor Abhängigkeit zugrunde. In beiden Ländern, so fern sie voneinander auch scheinen mögen, droht dieselbe Gefahr für die Gesundheit und das Wohlergehen der Arbeiter. Sehen wir in Japan also unsere Zukunft, wenn wir dieser Entwicklung nicht entgegenwirken? Werden auch wir ein Wort finden müssen, um Karoshi zu beschreiben? Oder zeigt uns der östlichste Teil des Westens bereits, dass das bedingungslose Grundeinkommen nicht nur ein Phantasma ist, sondern wirklich eine Lösung darstellen kann, zum Schutze unserer Gesundheit und zur Beförderung unseres Glücks?
Zur sechsteiligen Doku-Webserie "Einfach gut leben in der BR Mediethek über unsere Beziehung zu Arbeit und Geld und die großen Fragen zum Thema bedingungsloses Grundeinkommen.