Kein schniekes Zeugnis
Der "Sozialstrukturatlas 2003" zeigt tiefe geografische Risse quer durch die Berliner Gesellschaft
Kaum eine Stadt hat in den letzten Jahren so oft schlechte Schlagzeilen mit ihrer Wirtschafts- und Sozialpolitik produziert wie die Bundeshauptstadt Berlin. Pleiten wie die Berliner Bankgesellschaft und das Tempodrom (Filz und Flaute), extreme Kürzungen im sozialen Bereich auf der anderen Seite - die Hauptstadt gibt ein schlechtes, aber rundes Bild ab. Der jetzt veröffentlichte Sozialstrukturatlas verdüstert die Stimmung zusätzlich. Er zeichnet eine Landkarte von Armut und Reichtum in einer Stadt, die sich selbst am liebsten als protzige Metropole mit KaDeWe, Adlon und Reichstag darstellt.
Weltläufig gibt man sich gerne in der Stadt der Berlinale, der Grünen Woche und der Internationalen Funkausstellung. Weniger gern sieht man dort die Massendemonstrationen, die der Regierungsumzug mitgebracht hat und die eigengewachsenen alljährlichen Krawalle am ersten Mai. Und noch etwas weniger gern schauen sich die Stadtoberen das an, was man als Gettoisierung bezeichnen muss. Kein Wunder, dass die zuständige Senatsverwaltung für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz keine Eile mit der Publikation der Ergebnisse des Sozialstrukturatlas 2003 hatte.
Während im Bezirk Mitte Abgeordnete und Firmenvertreter aller Couleur dafür sorgen, dass er eine "positive Sozialstruktur" (im Vergleich zum Rest Berlins) aufweist, lässt sich davon in den umgebenden Bezirken nicht sprechen. Kreuzberg weist mit über 29 Prozent Arbeitslosen und 28,1 Prozent Einwohnern, die unterhalb der Armutsgrenze von 606,50 Euro pro Monat leben, den "Spitzenwert" unter den Berliner Bezirken auf, die anderen an Mitte grenzenden Bezirke stehen zwar im direkten Vergleich besser, aber auch nicht besonders gut da.
Wir dürfen nicht zulassen, dass die Stadt ihren sozialen Zusammenhalt verliert und ganze Stadtteile auf der Strecke bleiben.
Dr. Heidi Knake-Werner, Senatorin für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz
Das hätte vielleicht bereits einem ihrer Vorgänger einfallen müssen. Keine Sorgen um ein "auf der Strecke Bleiben" müssen sich währenddessen zum Beispiel die Bewohner des Villenviertels Zehlendorf im Südwesten der Hauptstadt machen. Mit lediglich 10,5 Prozent Arbeitslosen und nur 4 Prozent Armut ist es das Schmuckstück der Hauptstadt. Die soziale Struktur wird in Berlin offensichtlich immer stärker in "Problemkiezen" konzentriert, während diejenigen wegziehen, die es sich leisten können.
Deutlich fehlen der Studie einige interessante Aspekte wie eine Mitbetrachtung des "Berliner Speckgürtels" im brandenburgischen Umland, ein Vergleich zum Bundesdurchschnitt und die Korrelation mit dem Faktor Alter. Doch der "Sozialstrukturatlas 2003" ist ein weiterer Beleg dafür, dass die Hauptstadt noch einen weiten Weg vor sich hat - nachdem man die Pläne für Berlin als Produktionsstandort und Dienstleistungshauptstadt bereits hat fallen lassen. Derzeit streicht der Senat die Gelder im Bereich Bildung radikal zusammen, trotz des Leitbildes "Hauptstadt des Wissens 2016", das die sogenannte Berlin-Studie vorschlug.