Keine "Biodeutschen" und keine "Rassen" weit und breit

Seite 3: Nationalismus und fiktive Gemeinsamkeiten

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Dass ein quasi natürliches, homogenes "Volk" als Begründung für Gemeinsamkeiten schon immer und überall eine krasse Lüge war, kann zudem jeder erkennen, der die Geschichte der modernen Nationenbildung studiert. Schließlich war es die politische Gewalt, der moderne Staat selbst, der Grenzen zog, Staatssprachen grammatikalisierte, lexikalisierte und als allein gültige Verkehrssprachen etablierte; schließlich war die neue Geschichtsinterpretation noch entferntester Schlachten der Antike als erste Äußerungen eines nationalen "Volkswillens" an den Haaren herbeigezogen, wenn man genauer hinsah.

Weder waren die Cherusker, die die Römer im Teutoburger Wald abschlachteten, "Deutsche", wenn man ihre Sitten, Sprache, Herkunft und soziale Ordnung mit der modernen deutschen Industriegesellschaft verglich, noch besaßen z.B. "die" Briten, in denen sich Pikten und Scoten, Römer und Angeln, Sachsen und Normannen mit einer Unzahl von Zu- und Einwanderern vermischt hatten, unabhängig von der Staatsgewalt, die sie zu Briten erklärt hatte, vorstaatliche Gemeinsamkeiten, die zur Begründung ihrer Staatlichkeit taugten. In Spanien hausten zunächst keltische Iberer, dann kamen Griechen, Phönizier und Römer, schließlich herrschten über zweihundert Jahre lang die Westgoten, um Anfang des 8. Jahrhundert (711) von arabischen Einwanderern vertrieben zu werden, die wiederum nach beinahe 800 Jahren (1492) ihre letzten Bastionen in Spanien zugunsten der christlichen "Rückeroberer" aufgaben.

In Katalonien sprach man zunächst katalanisch; die Basken waren mit den Bewohnern Kastiliens und Zentralspaniens nicht einmal entfernt verwandt. Sizilien war von den Griechen, Arabern, Römern und Normannen geprägt worden, in Italien sprach man vor Gründung des italienischen Staates je nach Gegend Rätoromanisch, Katalanisch, Italienisch und eine Vielzahl regionaler Dialekte, was den "Nationalhelden" Italiens, Guiseppe Garibaldi nach der "Einigung" Italiens 1861 ausrufen ließ, man habe jetzt Italien geschaffen, nun müsse man nur noch den Italiener schaffen …

Die Vorgeschichte der modernen Nationalstaaten6 und damit ihr Konstruktionscharakter sowie ihre politisch arrangierte Identität wurden und werden überall gleichermaßen vergessen. Daher läuft der inzwischen längst "geschaffene" Italiener nun in ganz Italien herum, schwenkt mit von Stolz erfüllter Brust die Nationalfahne bei jeder sich bietenden Gelegenheit und meint, dies wäre seine "Volksnatur" - wie alle anderen Staatsvölker auch.

In Deutschland kennt die Begeisterung, dass nach dem tief sitzenden "Schock" des Nationalsozialismus nun endlich wieder das Fahnenschwingen und der dazugehörige Nationalstolz erlaubt sind, keine Grenzen. Der angeblichen Lockerheit und nationalistisch eingefärbten Lebensfreude tun dabei die wöchentliche Schlacht in den Fußballstadien, der latent immer noch vorhandene Antisemitismus und so manche hässliche Töne gegen "die Griechen", die in der europäischen Staatsschuldenkrise "unser" sauer verdientes Geld verplempern, keinen Abbruch. Woher welche Griechen - nämlich ganz bestimmte! - welchen Kredit von wem - z.B. von den deutschen Banken! - für welche Zwecke - z.B. um deutsches Militärgerät zu kaufen! - bekommen haben, braucht man dazu nicht zu wissen: Nationalismus funktioniert, wie Religion, am besten, wenn man möglichst unbeleckt von Wissen über die behauptete Sache ist.

Ein Nationalismus, der sich seiner Entstehung und seiner Gründe bewusst ist, stellt einen Widerspruch in sich selbst dar. Nationalismus bemüht das "nationale Empfinden", das als "Nationalgefühl" den davon Infizierten beim sinnlichen Erleben (Hören, Sehen, Fühlen) der nationalen Symbolik auch mal die Tränen in die Augen treibt. Nationalismus ist insofern gefühlte Gemeinschaftlichkeit, deren fiktiver Charakter sich dadurch verrät, dass man den oft sowieso nur spärlich vorhandenen Intellekt auszuschalten hat, um die wirklichen politischen Differenzen und ökonomisch-sozialen Gegensätze ignorieren zu können, die das Leben in einer modernen, national eingehegten Klassengesellschaft ausmachen.

Der marxistische Historiker Eric Hobsbawm, einer der letzten Universalgelehrten seiner Generation, fasste daher treffend zusammen: "Nationalismus erfordert zuviel Glauben an etwas, das offensichtlich in dieser Form nicht existiert."7 Die fiktive Behauptung einer der Region an sich eigentümlichen "Volksseele" als Amalgam des nationalen Kollektivs rückt das nationale Denken in die Nähe einer naturalistischen, damit rassistischen Logik.

Der nationale Standpunkt ignoriert somit aus seiner ideologischen Grundposition heraus, was überall im neuzeitlichen, nun bürgerlich-nationalstaatlichen Europa galt: Die neuen Staatsgrenzen und Staatssprachen waren ein Resultat politischer Gewalt; von "ursprünglichen" Gemeinsamkeiten, gar von kultureller oder sprachlicher Homogenität innerhalb dieser Gebiete konnte keine Rede sein. Schon in der Antike fand im Großraum Zentralasien, Nord- und Westafrika, Europa bis nach Nordrussland hinauf über Handel, Kriegszüge und Sklavenbeschaffung ein reger sozialer, ökonomischer und nicht zuletzt biologischer Austausch statt, der gebietsbezogene, "völkisch" gedachte Identitäten von vornherein ad absurdum führte.

In Wahrheit war es nämlich genau umgekehrt: die modernen Nationalstaaten zwangen den Territorien, die sie erobert oder geeint hatten und die nicht allzu selten mal zur einen, mal zur anderen "Mannschaft" gehörten, ohne dass sie sich dies aussuchen durften, eine gemeinsame Sprache, einheitliche soziale und politische Verkehrsformen, rechtliche und ökonomische Regeln auf, die die Gemeinsamkeiten - neben denen, die naturwüchsig aus den vormodernen Gemeinwesen beibehalten wurden - , auf die sich die politischen Herrschaften beriefen, erst etablierten: Die angebliche natürliche Identität des jeweiligen Staatsvolks war eine imaginierte, fiktive Identität, die erst mehr oder weniger gewaltsam hergestellt werden musste.

Fazit: Nichts an den politischen, ökonomischen, kulturellen und sozialen Verhältnissen, in denen Menschen leben, lässt sich aus fiktiven natürlichen Differenzen erklären, wie sie Rassismus und völkischer Nationalismus als dessen staatsbezogene Ausgestaltung behaupten.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.