Keine Koalition in Sicht: Niederlande erwägen außerparlamentarische Regierung

Seite 2: Historische Hängepartien bei der Regierungsbildung

Die Regierungsbildung kann in den Niederlanden schon einmal länger dauern. Den bisherigen (Negativ-) Rekord stellt das Jahr 2017, als die Verhandlungen 212 Tage anhielten. Fast so lange dauerte es im Jahr 1977 schon einmal, mit 208 Tagen. Beispielsweise 2002 ging es mit "nur" 66 Tagen aber auch einmal viel schneller.

Die jetzt noch laufende Suche nach einer neuen Regierung, die Ruttes seit Januar nur noch geschäftsführendes Kabinett endlich ablösen könnte, dauert inzwischen aber auch schon 196 Tage. Damit hat sie gute Chancen, einen neuen Rekord aufzustellen.

Bei den Sondierungsgesprächen kam es schon kurz nach der Wahl zu einem ersten Skandal: Die D66-Politikerin Karin Ollongren hatte ihre Gesprächsnotizen ungeschickt eingepackt, sodass ein Pressefotograph einen Teil davon fotografieren konnte.

Die dadurch verbreitete Bemerkung "Stelle Omtzigt, Funktion anderswo" (dt. Übers. d. A.) barg Zündstoff. Der Abgeordnete Pieter Omtzigt, früher bei der christlichen CDA, jetzt fraktionslos, hatte sich nämlich besonders intensiv für die Aufklärung der Kindergeldaffäre - und damit die Interessen der Opfer - eingesetzt.

Erst wurde offiziell dementiert, bei den Sondierungen über den unbequemen Parteikollegen gesprochen zu haben. Später musste Mark Rutte ein derartiges Gespräch aber einräumen. Er überstand zwar ein darauffolgendes Misstrauensvotum im Parlament, erhielt aber eine offizielle Rüge von den Abgeordneten.

Von der Mehrheits- zur Minderheitskoalition

Die Sondierungen standen also von Anfang an unter keinem guten Vorzeichen. Während man in Deutschland über die erste Dreiparteienkoalition der Geschichte der Bundesrepublik spricht (CDU/CSU zusammengenommen), wären in den Niederlanden rechnerisch mindestens vier Parteien für eine Mehrheit erforderlich.

Zunächst sollten Gespräche zwischen Politikerinnen und Politikern der Parteien VVD, D66, CDA, PvdA, GroenLinks und ChristenUnie zum Erfolg führen. Die stärksten Parteien VVD und D66 würden gerne (weiter) zusammen regieren, kämen zusammen aber nur auf rund 37 Prozent der Sitze.

Die bürgerlich-liberale D66 will jedoch nicht mit den konservativen christlichen Parteien zusammenarbeiten: Die Ausweitung der Sterbehilfe, die hier bald womöglich nicht nur bei unheilbaren Krankheiten, sondern auch bei einem "vollendeten Leben" gesetzlich erlaubt wird, scheint ein unüberwindbarer Streitpunkt.

Ruttes VVD wiederum wäre eine Regierung mit sowohl PvdA als auch GroenLinks zu links - diese beiden sozialdemokratisch-linken Parteien wollen aber nur zusammen regieren. Übrigens ist die Anzahl der rechtspopulistischen Mandate (PVV, FVD und JA21) mit 28 größer denn je zuvor und überholt die traditionell eher linken Parteien (GroenLinks, PvdA und SP) mit 26, die zusammen auf einem historischen Tiefpunkt sind.

Geert Wilders (PVV) schlug eine rechte Koalition von VVD, CDA, PVV, FVD und JA21 vor, die aber von der VVD ausgeschlossen wurde. Von der christlich-konservativen CDA-Führung hieß es, sich keinem "liberalen Motorblock" anschließen zu wollen. Lilian Marijnissen, Fraktionsvorsitzender der sozialistischen SP, hielt eine Regierungsbeteiligung angesichts der Wahlniederlage ihrer Partei für unangemessen. Und so weiter und so fort.

Inzwischen blieben fünf Anläufe zum Bilden einer Regierungskoalition erfolglos. Erschwerend kamen in der Zeit Konflikte hinzu (u.a. die genannte Affäre Omtzigt, Afghanistan), die zum Austritt mehrer Abgeordneter aus ihren Fraktionen führten und damit schon kurz nach der Wahl die Mehrheitsverhältnisse im Parlament veränderten.

Zuletzt gaben am 27. September, nach rund zehnstündigen Verhandlungen, Unterhändler von VVD, CDA und D66 bekannt, auch keine Möglichkeit für eine Minderheitsregierung zu sehen. Was bleibt jetzt noch?

Ein außerparlamentarisches Kabinett?

Nun wurde die Möglichkeit eines außerparlamentarischen Kabinetts ins Spiel gebracht. Dann gäbe es keinen Koalitionsvertrag, sondern nur ein weniger verbindliches Regierungsprogramm. Zudem wären die Regierungsmitglieder dann weniger oder vielleicht sogar gar nicht an feste Parteienstrukturen gebunden. So verlöre der Fraktionszwang für die Abgeordneten an Bedeutung.

Das klingt einerseits chaotisch - ist andererseits aber vielleicht auch eine Chance für mehr direkte Demokratie. Viele Wählerinnen und Wähler sind ohnehin enttäuscht, wenn die von ihnen gewählten Parteien im Laufe von Koalitionsverhandlungen aus pragmatischen oder opportunistischen Gründen von ihren Kernpositionen abrücken. So ein außerparlamentarisches Kabinett bräuchte aber natürlich auch Mehrheiten unter den Abgeordneten, beispielsweise um die Ministerien zu besetzen.

Der vom Parlament derzeit noch bestellte Informateur Johan Remkes (VVD), um Möglichkeiten für eine Regierungskoalition auszuloten, appellierte zuletzt noch einmal an die Verantwortung aller Abgeordneten für eine konstruktive Mitte. Dazu rief er auch Kleinstparteien und Einzelkandidaten auf. Wenn selbst dieser Versuch fehlschlägt und sich kein außerparlamentarisches Kabinett findet, bleiben sonst nur noch Neuwahlen.

Ergebnis offen

Ob Mark Rutte dann noch einmal alle Skandale und Affären wegstecken könnte und mit seiner VVD an der Spitze bliebe? Laut dem neuesten Politikbarometer [https://www.ipsos.com/nl-nl/politieke-barometer-week-39-0] des Ipsos-Instituts für Meinungsforschung vom 29. September sieht es ganz danach aus:

Demnach würde die wirtschaftsliberale Partei stärker, die bürgerlich-liberale D66 und christdemokratische CDA aber deutlich schwächer. Paradox erscheint, dass die Befragten der Regierung aber nur noch die Note 4 (eine 10 wäre die Bestnote) geben. Das wäre im deutschen Schulsystem nah an einer 5, also "mangelhaft".

Ewig so weitergehen kann der derzeitige Zustand jedenfalls nicht. Eine geschäftsführende Regierung kann bestimmte Themen, darunter den Haushalt, nicht mehr bearbeiten. Davon ist zum Beispiel auch die Verteilung von finanziellen Corona-Hilfen betroffen.

Verglichen mit der Situation in den Niederlanden scheint die derzeitige Lage in Deutschland noch relativ entspannt. Doch auf Bundes- und Landesebene nimmt die Anzahl der Fraktionen im Laufe der Zeit zu, was auch dort die Koalitionsverhandlungen erschwert.

Mit der Fünfprozenthürde wäre ein theoretisches Maximum von 20 Parteien möglich. Über die Ausnahmeregelung mit den drei Direktmandaten, die jetzt die Linke mit ihren voraussichtlichen 4,9 Prozent im Bundestag hält, und der dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein könnte man sich aber auch eine Welt mit bis zu 100 Fraktionen vorstellen.

Das sind natürlich nur Gedankenspiele. Dennoch ist auch in Deutschland die Koalitionsbildung nicht mehr so selbstverständlich, wie sie einmal war.

Update

Oder doch so weiter wie bisher? Kurz nach Fertigstellung meines Artikels verkündete der Informateur Remkes (VVD) überraschend, die alte Koalition aus VVD, CDA, D66 und ChristenUnie könne vielleicht doch ein neues Kabinett bilden. Bei den Wahlen vom März hat die bürgerlich-liberale D66 allerdings die christlich-konservative CDA überholt und wäre dann zweitstärkste Kraft der Regierung. Die vier Parteien kämen mit 77 der 150 Mandate auf eine hauchdünne Mehrheit im Parlament.

Für Verwirrung sorgten allerdings Remkes Bemerkungen, man könne – wie bei der oben genannten außerparlamentarischen Regierung – auch Ministerposten mit Politikern anderer Parteien besetzen. Das fördere vielleicht eine konstruktive Zusammenarbeit.

Von den angesprochenen Parteien kamen aber schnell Dementi: So hieß es von der sozialdemokratischen PvdA, man wolle lieber in die Opposition gehen. GroenLinks machte deutlich, für ein rechtes Kabinett keine Minister zu stellen.

Auch Äußerungen des Informateurs über die Gesetzgebung zur Sterbehilfe beim "vollendeten Leben" verwirrten: Das Vorhaben ist vor allem der D66 wichtig, für die christlichen Parteien aber ein rotes Tuch. Nun suggerierte der VVD-Gesprächsführer, die ChristenUnie könnte ihren Widerstand aufgeben. Das wies deren Vorsitzender aber umgehend zurück. Die Diskussion gehöre ins Parlament und solle nicht schon im Voraus entschieden werden.

Sind solche Vereinbarungen aber nicht gerade Sinn eines Koalitionsvertrags? Ob es ein viertes Kabinett unter Rutte geben wird – oder doch Neuwahlen im Herbst? – könnte sich in der nächsten Woche entscheiden. Bis auf Weiteres scheint der Ausgang aber völlig offen.