Keine Übersterblichkeit trotz Covid
Seite 2: Höhere Todeszahlen Anfang 2021 nicht unwahrscheinlich
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- Höhere Todeszahlen Anfang 2021 nicht unwahrscheinlich
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Abbildung drei zeigt den Verlauf des Erwartungswerts und der tatsächlichen Todeszahlen über die letzten fünf Jahre. Es wird deutlich, dass die Grippewellen zum Jahreswechsel 2016/17 und zu Beginn von 2018 mit deutlich erhöhten Sterblichkeitszahlen einhergingen, die 2018 sogar über dem Wert liegen, der nun für das Jahresende 2020 in der oberen Variante abzusehen ist.
Insofern ist ein weiterer Anstieg der Todesfälle im Januar und Februar 2021 nicht unwahrscheinlich und läge dabei trotzdem noch in den Bereichen, die wir auch bei heftiger ausfallenden Grippewellen beobachten.
Demgegenüber muss man nun kritisch fragen, warum das Statistische Bundesamt höhere Werte für die Übersterblichkeit durch Corona angibt. Zum Beispiel meldet die bundesdeutsche Statistikbehörde für die 47. Kalenderwoche eine Übersterblichkeit von neun Prozent, während der entsprechende Wert in der hier gewählten Abschätzung nur bei vier Prozent liegt.
Das Statistische Bundesamt bestimmt die Grundlinie anhand einer sehr einfachen Methode, indem es die arithmetischen Mittelwerte aus den Jahren 2016 bis 2019 für die Kalenderwochen berechnet. Allerdings wird im Verfahren des Bundesamtes die Altersverschiebung in der Bevölkerung nicht berücksichtigt, so dass die Grundlinie über alle Jahre gleich ist und immer auf dem mittleren Niveau der Jahre 2016 bis 2019 verharrt (931.000 Tote pro Jahr). Damit liegt sie aber für den Beginn von 2016 um knapp zwei Prozent zu hoch und für das Ende von 2020 um fünf Prozent (d.h. 1000 Tote pro Woche) zu niedrig.
Die Fachabteilung beim Statistischen Bundesamt ist sich dieses Problems durchaus bewusst. In einer Fachpublikation wird entsprechend auch auf den Geburtenanstieg der Altersgruppe 80 plus verwiesen. Dort wird dann auch, wie in der Demographie eigentlich üblich, mit Mortalitätsraten (Tote pro 100.000 der Vergleichsgruppe) gerechnet und nicht mit absoluten Zahlen, die einen Vergleich von unterschiedlichen Jahren nicht zulassen, weil sich die Bevölkerungsstruktur alterungsbedingt oder aus anderen Gründen verändern kann.
Statistikamt: Zahlen vereinfacht oder irreführend?
Auf der Website, die sich an die breitere Öffentlichkeit richtet, werden aber die absoluten Zahlen verwendet. Im Kommentar dazu heißt es, man habe ein möglichst leicht verständliches Verfahren bevorzugt: "Die Betrachtung mit dem Vorjahresdurchschnitt ist für uns eine sehr transparente und nachvollziehbare Vorgehensweise."
Man könnte hier einwenden, dass es sich in dieser Schlichtheit allerdings um ein irreführendes Verfahren handelt. Denn ohne Korrektur für den deutlich verschobenen Altersaufbau der Gesellschaft erhält man viel niedriger liegende Referenzwerte, die eine Übersterblichkeit ausweisen, die es in diesem Ausmaß gar nicht gibt.
Allerdings muss man das Bundesamt auch in Schutz nehmen: Es berichtet in seinen Pressemitteilungen von der Übersterblichkeit in der jeweiligen Kalenderwoche. In der Presse wird dieser Bezug auf bestimmte Kalenderwochen vielfach weggelassen, so dass dann sehr viel dramatischere Schlagzeilen zustande kommen: "46 Prozent mehr Tote in Sachsen während Corona-Pandemie".
Korrekt müsste es heißen: 46 Prozent in der 47. Kalenderwoche. Denn ein paar Wochen zuvor lag die Sterblichkeit in Sachsen noch unter dem Durchschnitt der Vorjahre. Sachsen liegt zwar von allen Bundesländern übers Jahr 2020 gerechnet mit 5,1 Prozent am weitesten über dem Erwartungswert (vgl. Tabelle zwei), und die Entwicklungen in den letzten Wochen mögen dort auch dramatisch gewesen sein. Aber das rechtfertigt dennoch nicht, von einem Massensterben zu sprechen.
Selbstverständlich bleibt abschließend anzumerken, dass wir nicht wissen können, wie viele Tote es 2020 in Deutschland gegeben hätte, wenn keine Eindämmungsmaßnahmen gegen die Verbreitung des Virus Sars-CoV-2 erfolgt wären. Insofern mag man die ausgebliebene Übersterblichkeit vielleicht als Erfolg der Gesundheitspolitik und ihrer Eindämmungsmaßnahmen interpretieren.
Wahrscheinlich war es aber hauptsächlich Glück, dass die erste Welle Deutschland weitgehend verschont hat, während andere Länder viel schwerer getroffen wurden. Bei der zweiten Welle hätte man es – dank der mittlerweile gesammelten Erfahrungen – eigentlich besser wissen können. Gerade die zweite Welle scheint Deutschland nun viel härter als die erste Welle zu treffen.
Man hat sich obsessiv auf die Ansteckungsraten in der Gesamtbevölkerung konzentriert und dabei den Schutz der besonders vulnerablen Gruppen vergessen.
Bernhard Gill ist ein deutscher Soziologe und Professor an der Ludwig-Maximilian-Universität in München.
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