Kiezgefühl und Immobiliensprech

Hufeisensiedlung, Berlin. Bild: Rainer Halama / CC-BY-SA-4.0

Was das Quartier für die Stadt und das urbane Zusammenleben bedeutet

Schaut man auf die Europacity in Berlin, die Münchener Messestadt Riem, oder in Frankfurt auf das Europaviertel und den Riedberg - so stellt sich unwillkürlich die Frage, ob uns die Fähigkeit, lebenswerte Städte mit urbanen Räumen zu schaffen, verloren gegangen ist. Die aktuell fertiggestellten Neubauviertel wirken überwiegend monoton, irgendwie steril, kaum nutzungsgemischt. Ihre Erdgeschosszonen erzeugen kein städtisches Leben.

Nun kann man zwar einwenden, dass diesen Quartieren noch die Patina fehlt, die Gebrauchsspuren eines vielfältigen, bunten, widersprüchlichen Alltagslebens. Das wiederum hat aber viel mit der Kategorie der Zeit zu tun. Wenn man sich historische Fotos mit neu errichteten Gründerzeitquartieren oder der prägnanten Hufeisensiedlung im Berlin der 1920er Jahre anschaut, so sieht das, was heute sehr geschätzt wird, kahl und abweisend aus. Allein schon Bäume und sonstige Vegetation verändern das Bild nach ein paar Jahrzehnten enorm.

Messestadt Riem. Bild: TP

Aber unabhängig davon fällt auf, wie ubiquitär der Begriff des Quartiers heute benutzt wird. Fast jede Gruppe von Gebäuden, und sei sie noch so klein oder monofunktional, bezeichnet man nun so. Die Sache mit dem Terminus ist vertrackt, weil er suggestiv ist und bildreiche Assoziationen - ein Gefühl von Nachbarschaft und Begegnung - heraufbeschwört. Weil er eben deswegen häufig mit Vermarktung zu tun hat, und insofern interessengeleitet eingesetzt wird. Das gilt beim Quartier (so werden ja mittlerweile selbst Shopping-Center tituliert), aber auch, ähnlich gelagert, beim Kiez, oder bei der Zuschreibung der Höfe, die ja heute im Immobiliensprech allgegenwärtig sind.

Ohnehin scheint nur vordergründig klar, was ein Quartier oder einen Kiez ausmacht. Bei näherem Hinsehen wird deutlich, dass wir - je nach biographischem oder professionellen Erfahrungshorizont - wohl stets etwas anderes darunter verstehen. Der bekannte amerikanische Stadtforscher George Galster traf mit seiner Aussage den Nagel auf den Kopf, als er feststellte, dass das Quartier ohne jeden Zweifel eine sozialräumliche Organisationsform sei, die größer als ein Haushalt, aber kleiner als eine Stadt ausfalle - und mit dem Fazit schließt: Aber das sei auch der Punkt, an dem der Konsens endet.

Jenseits der ungeklärten Größenfrage ist das Quartier freilich von entscheidender Bedeutung: Zum einen als grundsätzliches Ordnungsmodul der Stadt, zum anderen als entscheidendes strategisches Bindeglied. Denn der Mesoebene - zwischen den übergeordneten Phänomenen und Regularien der Makroebene (Staat, Metropole) rund dem Handeln von Menschen auf der Mikroebene (Wohnung, Ehe) - wird gerade in schwierigen Zeiten die Rolle des Verbindungsglieds, des Vermittelns und der Problemlösung zugeschrieben.

Dem Quartier wird diese vermittelnde Rolle bei der Herausforderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts zugetraut: Hier gibt es räumlich verankerte Netzwerke, vor Ort wirksame Organisationen und Institutionen, hier kennt man sich, hier gibt es noch die Möglichkeit einer gemeinschaftlichen Identifikation - so heißt es.

Das Umfeld der Wohnung nimmt in Zeiten zunehmender Verunsicherung, Überforderung und Beschleunigung an Bedeutung für die Selbstversicherung und Identifikation zu. Damit steigt aber auch der Anspruch, über die Regeln dort (mit)bestimmen zu können. Je länger vor Ort, desto größer das Bedürfnis, dass sich alle nach der ungeschriebenen, aber gelebten Hausordnung zu richten haben. Jeder Fremde, der heute kommt und morgen bleibt, kann dann als potenzielle Bedrohung der eigenen Identität wahrgenommen werden, worauf man sich noch rigider unter Seinesgleichen zurückzieht.

Und damit landet man schnell beim Begriff "Nachbarschaft". Doch was auf den ersten Blick eher wohlige Empfindungen freisetzen mag, erweist sich bei näherem Hinsehen als ein Mikrokosmos von Widersprüchen. Denn das scheinbar unvermittelte Neben- und Ineinander von sozialer Enge und Offenheit, von Repression und Fürsorge schafft Lebensformen, die für so manchen nicht fremder sein könnten.

Um nur auf einen Aspekt hinzuweisen, der auch in der heutigen Diskussion wieder verstärkt mitschwingt, Sicherheit: Die von einer "nachbarschaftlichen Gemeinschaft" ausgeübte Kontrolle mag durchaus in der Lage sein, soziale Sicherheit im je individuellen Umfeld zu schaffen. Doch das ist ja tatsächlich ein Kontrollmechanismus, der nicht jedermann schmeckt. Andererseits gingen nicht nur für den Mentor der amerikanischen Demokratie, Alexis de Toqueville, die - für ein soziales Gemeinwesen konstitutiven - Bürgertugenden organisch aus kleinräumigen Gemeinschaften hervor.

Vor einem solchen Hintergrund mögen gerade die sozialen "Freisetzungen" unserer Zwei-Drittel-Gesellschaft einen neuen politischen Blickwinkel auf das Konzept eröffnen. Denn in der Idee der Nachbarschaft keimt zwar eine gewisse Nähe zu (nun nicht mehr ganz so aktuellen) kommunitaristischen Vorstellungen, doch weist sie auch Züge dessen auf, was André Gorz in einer "Bürgergesellschaft" mittels sogenannter öffentlicher Tugenden realisiert wissen wollte. Sie sei jenes Gewebe aus gesellschaftlichen Beziehungen, die auf Gegenseitigkeit und Freiwilligkeit beruhen und nicht auf Recht und juristische Verbindlichkeit.

Und das wird im gleichen Maße bedeutsamer, wie existentielle Grundsicherungen auf niedrigeres Niveau heruntergeschraubt werden. Da viele Familien heute keine Kinder mehr haben, mögen bald neue Formen nachbarschaftlicher Solidarität bedeutsam werden; und weil diese frühzeitig gepflegt sein wollen, spielt räumliche Nähe plötzlich wieder eine stärkere Rolle.

Man hüte sich indes vor der Vorstellung einer (vorindustriellen) Dorfgemeinschaft. Scheint doch das "Jeder kennt jeden" und deren Beziehungen des "Gebens und Nehmens", also der alltäglichen nachbarlichen Hilfeleistung bei vielen Initiatoren (z.B. Politikern und Planern) ursächlich geworden zu sein für das Bild einer neuzeitlichen, städtischen Solidargemeinschaft. Nicht nur aus soziologischer Sicht ist ein solcher Stimulans fragwürdig: Die dörfliche Gemeinschaft mit ihren eingeengten, qua Tradition vorgegebenen Interaktionsmustern und ihrem hohen Konformitätsdruck - als Vorbild zeitgemäßen Städtebaus?

Unbestritten freilich ist der Öffentliche Raum das Herzstück von (territorialer) Gemeinschaft. Doch dabei stellt sich die Frage, wie die res publica beschaffen sein muss, damit das Quartier Lebensqualität bietet. Wenn in schnell hochgezogenen, nüchternen Neubauvierteln ein unbebauter Platz vollmundig als Piazza deklariert und mit wie auch immer aufwendigen Straßenmobiliar versehen wird, ist das mitnichten gleich ein öffentlicher Raum. Denn der setzt einen Akt der gesellschaftlichen Aneignung voraus. Grundsätzlich gesagt: Je globaler und virtueller unsere Welt wird, desto stärker sehnen sich die Menschen nach einem Ort, der Identität vermittelt. Nicht zuletzt hat ja die aktuelle Corona-Krise vor aller Augen geführt, dass der gemeinsame physische Raum ein wichtiges atmosphärisches Element für das Alltagsleben ist.

Der renommierte dänische Stadtplaner Jan Gehl hat die Formel "8/80" für das gelingende Zusammenleben der Generationen entwickelt: "Eine Stadt sollte so gebaut sein, dass sich darin Achtjährige und über 80-jährige ebenso sicher wie der Rest der Bevölkerung bewegen können". Ihm geht es um die Begegnung der Menschen zwischen den Gebäuden, aber auch zwischen ihren privaten Wohnungen. Es ist kein Gesetz, dass Eingänge und Treppenhäuser toter Raum sein müssen, in denen jeder die Hoffnung hat, möglichst niemandem zu begegnen. Und es ist auch nicht die Aufgabe von Gebäuden, möglichst viel Raum, der eigentlich der Öffentlichkeit zusteht, der Bordstein, der Innenhof, die Abstandsfläche zwischen den Gebäuden, exklusiv den eigenen Bewohnern zuzuschlagen. Im Gegenteil.

Oft geht es um Maßnahmen gegen Vereinsamung. So werden Hausgemeinschaften und Mehrgenerationenhäuser zunehmend zur Wunschvorstellung. Aber nicht nur das hindernisfreie, mit "universal design" und "intelligenter Gebäudetechnik" ausgestattete Gebäude ist wichtig, auch die Schaffung eng verzahnter Nachbarschaften mit intimen Wegenetzen und öffentlich genutzten Erdgeschossen. Statt der herkömmlichen, meist aus solitären Wohnblocks und kargem Abstandsgrün bestehenden Siedlungen, in denen sich viele Menschen weder wohl noch sicher fühlen, sollten vermehrt kleinräumige Anlagen mit gartenartigen Erschließungszonen entstehen.

Indes: Wichtig ist dabei zu erkennen, dass es für ein tolerantes Miteinander in Vielfalt bedeutend ist, den Abstand zu "den Anderen" selbstbestimmt wählen zu können, ohne sich rechtfertigen zu müssen. Das muss in Gestaltung einfließen: Eine "aufgezwungene Nähe zum Fremden" wird immer mit Widerstand beantwortet werden.

Nicht von ungefähr finden sich die positiven Beispiele am ehesten im Bereich von Baugenossenschaften. Etwa das Projekt Mehr als Wohnen auf dem Hunzikerareal in Zürich: Das 41000 Quadratmeter große Areal bietet seit 2015 Wohnraum für 1200 Personen und etwa 150 Arbeitsplätze. Und es gibt Antworten auf veränderte Wohnbedürfnisse und gesellschaftlichen Wandel - in Form von zumietbaren Wohn- und Arbeitszimmern oder einem breiten Angebot an Allemenderäumen und Freizeitinfrastruktur.

"Mehr als Wohnen" und "wagnisART" (6 Bilder)

Projekt Mehr als Wohnen im Hunzikerareal, Zürich. Bild: Mehr als Wohnen / © Ursula Meisser 2017

Oder das Projekt wagnisART in München: Dieses 2016 fertiggestellte Vorhaben (bogevischs büro) umfasst fünf polygonale Häuser, die durch massive Brücken verbunden sind und zwei unterschiedliche Höfe bilden. Es gibt 138 Wohnungen, davon 8 Wohn-Cluster mit 53 Apartments, es gibt Ateliers, Praxisräume, Büros, Speisecafé, Veranstaltungsraum, Gemeinschaftsräume, Werkstätten, Waschcafé, Nähstube und Proberäume. Und nicht zuletzt "Dorfplatz" sowie Gemeinschafts-Dachgärten.

Solche Genossenschaften, aber auch Baugruppen oder -gemeinschaften offenbaren ein erhebliches surplus gegenüber der traditionellen Immobilienwirtschaft. Denn in der Regel bauen sie mit eigenem, sorgfältig verwaltetem Geld, und mit einem Bewusstsein für soziale Bindung. Womit sie wiederum bestimmte zukunftsfähige Entwicklungen stimulieren: beispielsweise Erdgeschosse, die hybrid nutzbar sind, in denen man arbeiten kann, die aber auch zu Cafés oder Restaurants werden könnten, fünf Meter hoch, flexibel nutzbar, als Arbeits- oder Kollektivräume fürs Haus, aber auch als öffentlich zugängliche Orte.

Augenscheinlich wagt man eher Experimente, wenn man weiß, dass man den Bau nicht vermarkten muss. Und so schafft man es eben doch hin und wieder, mit moderner Architektur ein urbanes Kiezgefühl zu erzeugen. Davon brauchen wir entschieden mehr!