Kinder und Jugendliche in der (Corona-)Krise: Massive Vernachlässigung
Ärzte sprechen von Triage in der Psychiatrie und verheerenden Langzeitfolgen
Nachrichten aus der Legion der Vereinsamten: "Es gibt psychiatrische Erkrankungen in einem Ausmaß, wie wir es noch nie erlebt haben", heißt es vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ). Deren Berliner Sprecher Jakob Maske scheut in einem Interview nicht davor zurück, auch das militanteste Wort der Corona-Krise zu benutzen, um auf die gegenwärtige Notsituation von psychisch erkrankten Kindern und Jugendlichen aufmerksam zu machen:
Die Kinder- und Jugendpsychiatrien sind voll, dort findet eine Triage statt. Wer nicht suizidgefährdet ist und "nur" eine Depression hat, wird gar nicht mehr aufgenommen.
Jakob Maske, BVKJ
Für Maske steht die Misere in einen Zusammenhang mit dem Management der Corona-Krise. Von Anfang an seien Kinder und Jugendliche "massiv vernachlässigt" worden. Konkret nennt er pauschale Einschränkungen wie Schul- und Kitaschließungen. Das sei in der ersten Phase noch nachvollziehbar gewesen. Dann aber mit einem anderen Wissenstand nicht mehr. Man habe doch inzwischen gelernt, "dass Kinder die Infektion deutlich weniger weitertragen und selbst deutlich seltener erkranken als Erwachsene". Sie seien viel mehr gefährdet durch die "verheerenden Langzeitfolgen" der Lockdowns.
Der Berliner Kinderarzt Maske hatte schon im Januar auf "schwere psychiatrische Beeinträchtigungen, sei es depressive Störungen oder Zwangsstörungen" unter Jugendlichen hingewiesen, als er nach Auswirkungen der Pandemie und der Lockdown-Maßnahmen gefragt wurde. Als Ursachen nannte er, dass die sozialen Kontakte fehlen und das "gesamte Gerüst des Tages verloren geht". Viele Kinder hätten kaum noch einen Tag-Nacht-Rhythmus, so seine Beobachtung. Ängste hätten sich verstärkt:
Also wir sehen natürlich Kinder, die sicherlich auch vorher dafür anfällig waren und für die Corona das i-Tüpfelchen ist. Wir sehen aber eben auch ganz normal gesunde Kinder beziehungsweise Kinder, die vorher keine Anzeichen von psychiatrischen Erkrankungen haben, die trotzdem Ängste bekommen und auch therapiebedürftig werden.
Jakob Maske
Im Alter zwischen 12 und 14 Jahren seien "Freunde wichtiger als die Eltern". Der direkte Kontakt, auch in der Schule fehle. 30 bis 50 Prozent der Kinder würden nun deutlich mehr Medien konsumieren.
Dass der Bedarf an therapeutischer Versorgung in der Corona-Krise gestiegen ist - und zwar enorm - stellt nicht nur der Berliner Kinderarzt fest, sondern auch der Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie des LMU-Klinikums in München, Gerd Schulte-Körne. Laut dpa vergleicht er die aktuelle Situation "mit einem Fass, das jetzt überlaufe".
Es gibt auch etwas moderatere Stimmen aus der Ärzteschaft, die sich um die psychische Gesundheit der Kinder und Jugendlichen kümmert. Jedoch das Fazit der Überforderung war ihnen allen gemeinsam. So distanzierte sich die stellvertretende Vorsitzende des Bundesverbands für Kinder- und Jugendpsychiatrie (BKJPP), Annegret Brauer, vom Begriff der "Triage" in diesem Zusammenhang, bejahte aber, dass nun stärker darauf geachtet werde, wer wirklich eine stationäre Behandlung benötige.
Die Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie beobachtet eine Verschiebung zu niedergelassenen Psychiatern und Psychotherapeuten. Dass die Regelversorgung in Kliniken eingeschränkt sei, betreffe auch "unseren Bereich". Durch die Infektionsschutzmaßnahmen könnten weniger Patienten auf der Station aufgenommen werden. Nach ihren Beobachtungen habe sich die Art der Anfragen verändert. Nun gehe es weniger um Schulprobleme, stellt sie fest - und dass sich die Lage bei Patienten, die schon vor dem Ausbruch der Pandemie belastet war, noch zugespitzt habe.
Der Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Münchner Universitätsklinikums Schulte-Körne beobachtet, dass der Bedarf an therapeutischer Behandlung "seit einem dreiviertel Jahr merklich gestiegen" sei.