Klassenkampf in Neukölln
Die Auseinandersetzung um die Rütli-Schule ist auch eine Diskussion über Armut und Ausgrenzung in der Gesellschaft
Bis vor wenigen Tagen kannte die Rütli-Schule in Neukölln außerhalb dieses Berliner Stadtteils wohl kaum jemand. Das hat sich gründlich geändert. Kamerateams belagern die Schule, Polizisten zeigen Präsenz und einige Jugendliche liefern die gewünschten Bilder, in dem sie einige Äste und Steine in Richtung der Kameras werfen.
Seit ein Brief öffentlich wurde, den das Lehrerkollegium der Hauptschule vor drei Wochen an die Schulaufsicht gesandt hat, scheint es, als würde dort die letzte Schlacht um die multikulturelle Gesellschaft geschlagen. Tatsächlich klingt der Wortlaut beängstigend.
Der Gesamtanteil der Jugendlichen nicht deutscher Herkunft beträgt 83,2 %. ... In unserer Schule gibt es keine/n Mitarbeiter/in aus anderen Kulturkreisen. Wir müssen feststellen, dass die Stimmung in einigen Klassen zurzeit geprägt ist von Aggressivität, Respektlosigkeit und Ignoranz uns Erwachsenen gegenüber. Notwendiges Unterrichtsmaterial wird nur von wenigen Schüler/innen mitgebracht. ...
Werden Schüler/innen zur Rede gestellt, schützen sie sich gegenseitig. Täter können in den wenigsten Fällen ermittelt werden. ... In vielen Klassen ist das Verhalten im Unterricht geprägt durch totale Ablehnung des Unterrichtsstoffes und menschenverachtendes Auftreten. Lehrkräfte werden gar nicht wahrgenommen, Gegenstände fliegen zielgerichtet gegen Lehrkräfte durch die Klassen, Anweisungen werden ignoriert. Einige Kollegen/innen gehen nur noch mit dem Handy in bestimmte Klassen, damit sie über Funk Hilfe holen können. Wir sind ratlos.
Genau dieser Teil des Briefes wurde von den Boulevardmedien und auch konservativen Politikern ausgiebig zitiert, um endlich noch mal von kompetenter Stelle bestätigt zu bekommen, dass die multikulturelle Gesellschaft nur in Gewalt und Verfall aller Werte enden kann. Nachträglich rehabilitiert kann sich auch der SPD-Bürgermeister von Neukölln Heinz Buschkowsky sehen, der noch vor einem Jahr viel Schelte einstecken musste, als er seine Kritik an der multikulturellen Gesellschaft in einem Interview mit der rechten Wochenzeitung Junge Freiheit bekannt machte.
Spätestens seit mit dem Film Knallhart der raue Umgangston unter Neuköllner Jugendlichen in die Kinos gekommen ist, war es nur eine Frage der Zeit, bis Neuköllner Institutionen auf der Aufmerksamkeitswelle surfen und ihre Anliegen vortragen werden (Neukölln ist überall). Die Rütli-Schule hat hier den Anfang gemacht.
Ihr Brief gliedert sich in zwei Teile: Den oben schon zitierten Teil, der die Ethnisierung der Debatte begünstigt, die von interessierter Seite jetzt forciert wird. Dabei müsste hinterfragt werden, was denn der Satz aussagt, dass 83,2% der Schüler nicht deutscher Herkunft sind. Wie viele von ihnen sind längst deutsche Staatsbürger? Schließlich handelt es sich hier überwiegend um Kinder von Eltern aus der Türkei oder dem arabischen Raum, die in Deutschland geboren wurden und hier ihren Lebensmittelpunkt haben. Man kann sie mit dem gleichen Recht als Deutsche betrachten, wie man die Banlieue-Bewohner nicht als Algerier oder Angehörige anderer afrikanischer oder arabischer Staaten, sondern als Franzosen betrachtet.
Damit würden sich zwar die sicherlich richtig beschriebenen Problemlagen an der Schule nicht ändern, aber die Frage der Interpretation würde anders gestellt. Es ginge nicht nur um das Scheitern einer multikulturellen Gesellschaft oder um das Zusammenleben verschiedener Nationen, sondern um die Diskriminierung und die verpassten Chancen von Jugendlichen in einem Berliner Stadtteil. Dieser Aspekt wird im zweiten Teil des Briefes der Lehrer angesprochen und mit einem Handlungsvorschlag verbunden:
Der Intensivtäter wird zum Vorbild. Es gibt für sie in der Schule keine positiven Vorbilder. Sie sind unter sich und lernen Jugendliche, die anders leben, gar nicht kennen. Hauptschule isoliert sie, sie fühlen sich ausgesondert und benehmen sich entsprechend. Deshalb kann jede Hilfe für unsere Schule nur bedeuten, die aktuelle Situation erträglicher zu machen. Perspektivisch muss die Hauptschule in dieser Zusammensetzung aufgelöst werden zu Gunsten einer neuen Schulform mit gänzlich neuer Zusammensetzung.
Es geht um die Frage, wie lange sich Deutschland ein dreigliedriges Schulsystem noch leisten kann und will. Schließlich wurde dem Land erst vor wenigen Wochen vom UN-Sondeberichterstattung für Bildung bestätigt, dass dieses Schulsystem das Menschenrecht auf Bildung in Deutschland verletzt. "Eine Schulform-Aufteilung bereits von zehnjährigen Kindern gibt es nur noch in Deutschland und Österreich.“ In allen anderen Staaten gehen die Kinder länger gemeinsam zur Schule. "Ich habe das Gefühl, dass sich das deutsche Bildungssystem nicht darauf konzentriert, alle einzubeziehen, sondern dass es eher Trennungen schafft", sagte der UN-Experte (vgl. Die Karten werden neu gemischt).
Gerade die Hauptschule wird in den Zeiten von Massenarbeitslosigkeit und prekären Lebensverhältnissen zum Inbegriff der verlorenen Generation. Fast jeder weiß, dass es Jobs für Hauptschulabgänger kaum gibt. Die Motivation etwas zu lernen, sinkt natürlich auf den Nullpunkt, wenn man keine Perspektive für sich sieht. Hier gibt es auch die Parallelen zu den Jugendlichen in den französischen Vorstädten, die schon durch ihren Wohnort von vielen Jobs und der Teilhabe an der Gesellschaft ausgeschlossen sind. Insofern ist die Warnung der Leiterin der Rütli-Schule, dass auch Neukölln mal brennen könnte, nicht ganz aus der Luft gegriffen.
Eine solche Entwicklung könnte beschleunigt werden, wenn die Debatte ethnisiert wird und den betroffenen Jugendlichen weiterhin keine Chancen für ihr Leben geboten, dafür aber noch dafür weitere Kontrollen auferlegt werden. Die Polizeiposten vor den Schulen deuten schon in die Richtung. Weitere Kontrollen in den Jugendzentren und an anderen Aufenthaltsorten der Heranwachsenden werden schon diskutiert. Wer Filme über das Leben in den französischen Banlieues wie "La Haine" gesehen hat, weiß um die Folgen.
Nötig wäre hingegen eine gesellschaftliche Debatte über die zunehmende Ausgrenzung von Menschen. Davon sind beispielsweise in Stadtteilen wie Neukölln längst nicht nur Jugendliche betroffen. Wer gesehen hat, welche Szenen sich tagtäglich vor dem Jobcenter Neukölln abspielen, weiß, dass Menschen aller Altersstufen in dem Stadtteil ums Überleben kämpfen müssen. Solange die Debatte ethnisiert wird und von Problemen nichtdeutscher Jugendlicher geredet wird, muss man nicht über Armut in Deutschland, über fehlende gesellschaftliche Partizipation breiter Teile der Bevölkerung und ein anachronistisches Schulsystems reden. Solange aber wird sich wenig ändern und es wird noch viele weitere Rütli-Schulen samt der ritualisierten Empörung darüber geben.