Die Karten werden neu gemischt

Bis auf die nordischen Länder fallen die europäischen Bildungssysteme gegenüber denen von asiatischen Ländern zurück, besonders schlecht steht es um die Wissensgesellschaft in Deutschland

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Ein Bericht von Andreas Schleicher, Leiter des OECD-Programms zur Bewertung der internationalen Schülerleistungen (PISA) bei der OECD in Paris, gibt vor allem Deutschland und Frankreich schlechte Noten, was die Bildung betrifft. Allerdings würde es sich nur um die Schlusslichter in Europa handeln, das – mit Ausnahmen wie Finnland - im Hinblick auf Ausbildung und Kompetenzen seiner Bürger weiter zurückfällt und besonders von den asiatischen Staaten überholt wird. Das von der EU im Jahr 2000 in Lissabon gesteckte Ziel, zur weltweit führenden Wissensgesellschaft zu werden, war vermutlich schon damals illusorisch. Jetzt geht es im Bildungssystem darum, den Anschluss nicht zu verlieren und weiter zurückzufallen.

Der vom Lisbon Council veröffentlichte Bericht The economics of knowledge: Why education is key for Europe’s success geht davon aus, dass in der Wissensgesellschaft die Wirtschaft nicht mehr auf „Land, Arbeit und Kapital“ basiert, sondern auf „Information und Wissen“. Daher würden die „leistungsstärksten modernen Wirtschaftssysteme“ diejenigen sein, die „am meisten Information und Wissen“ herstellen.

Diese pauschale Annahme mag man akzeptieren oder bezweifeln, richtig aber ist auf jeden Fall, dass heute die Menschen in den westlichen Industriegesellschaften nicht mehr – was aber noch immer das Schreckgespenst ist – im Kontext der Globalisierung mit den schlecht oder nicht ausgebildeten Geringverdienern um Arbeitsplätze konkurrieren. Der Lisbon Council ist eine Lobbyorganisation, die sich für die Umsetzung der Lissabon-Strategie der EU einsetzt. 2000 wurde beschlossen, die EU zum „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt“ zu machen (Mit einem e wie elektronisch wird alles gut). Erreicht wurden von den hochtrabenden Plänen wenig (The Death of Lisbon; Wo sind die guten Nachrichten?). Beispielsweise sollten die Ausgaben für Forschung und Entwicklung bis 2010 von 1,9 auf 3% des BIP erhöht werden. 2005 berichtete die EU-Kommission, das Wachstum sei praktisch zum Stillstand gekommen, die Auslagen lagen weit hinter den USA und Japan zurück.

Heute beginnen Länder wie China und Indien hohe Qualifikationen zu geringen Kosten und mit zunehmender Geschwindigkeit zu liefern. Das verändert die Regeln des Spiels grundlegend. Es gibt für Europa keine Möglichkeit, diese sich schnell entwickelnden Länder davon abzuhalten, eine Welle von hoch ausgebildeten Hochschulabgängern nach der anderen zu erzeugen. Die von Wirtschaftswissenschaftlern so genannten „Eingangsbarrieren“ beginnen zu fallen. Menschen und Unternehmen, die sich irgendwo auf der Welt befinden, können jetzt leicht kooperieren und weltweit konkurrieren. Und wir können diese Kräfte höchstens mit hohen Kosten für unseren wirtschaftlichen Wohlstand abschalten.

Höhere Bildung garantiert auch für den Einzelnen ein höheres Einkommen, während Menschen, mit geringer Ausbildung mit einem hohen Risiko von Arbeitslosigkeit und Armut konfrontiert sind. Während beispielsweise Südkorea mittlerweile am dritten Platz in den OECD-Ländern liegt, was das Verhältnis von Hochschulabgängern bei den 25-34-Jährigen betrifft, und sich auch Irland, Portugal und Spanien verbessert haben, konnten sich Großbritannien, Frankreich oder Italien im Hinblick auf die 60er Jahre zumindest halten. Deutschland hingegen ist vom Platz 14 auf Platz 23 (von 30) zurückgefallen. Die USA bleiben weiterhin stark bei den Hochschulabgängern, vor allem die nordischen europäischen Länder haben aber auf- und überholt. Hier gehen bereits zwei Drittel aller Schulabgänger auf Hochschulen, in Frankreich und Deutschland nur knapp mehr als die Hälfte. Die beiden wirtschaftlich noch immer starken Länder gehören, so der Bericht, „nicht mehr zu den weltweit führenden Ländern bei der Entwicklung von Wissen und Qualifikationen“.

Für Andreas Schleicher steht fest, dass die „Länder und Kontinente, die viel in die Bildung investieren, davon wirtschaftlich und gesellschaftlich profitieren werden“. Für jeden hier investierten Euro würden die Steuerzahler über das daraus folgende Wirtschaftswachstum mehr zurückerhalten. Mit seinen Warnungen will er die Europäer – und allen voran die Deutschen und die Franzosen – aufrütteln, ihre Bildungssysteme zu verändern. Sein Bericht kommt zu rechter Zeit, da in Deutschland mit der geplanten Föderalismusreform gerade der Bildungsbereich in der von den Ländern gewünschten Kleinstaaterei noch einmal Schaden zu nehmen droht. Geld alleine sei nicht ausreichend, mahnt Schleicher, notwendig sei auch ein entsprechendes flexibles und durchlässiges System sowie die Förderung der Angehörigen von benachteiligten Schichten.

An all dem fehlt es bekanntlich in Deutschland, während der Bericht Finnlands Erfolg auf diese Flexibilität und Individualisierung bei der Einlösung der anspruchsvollen Ausbildungsziele zurückführt. Da hier Lehrer, Schulen und Netzwerke von Schulen selbstverantwortlich die Ausbildung gestalten können. Obwohl das Ausbildungssystem etwa in den USA sehr stark von privaten Schulen und Universitäten geprägt ist, ist der soziale Hintergrund für die Leistungen der Schüler weniger stark ausgeprägt als in Italien, Frankreich und Deutschland. In Deutschland mit seinem wenig offenen Schulsystem ist dies besonders stark ausgeprägt. Schüler, die aus gebildeten Haushalten kommen, erreichen mit einer vierfach höheren Wahrscheinlichkeit eine Hochschulausbildung als Kinder aus Arbeiterfamilien. Schleicher attestiert Deutschland, dass hier zwar einige Reformen versucht worden seien, aber man habe sich bislang davor gedrückt, die in das Bildungssystem eingebaute Ungleichheit anzugehen. Das dürfte mit der Föderalismusreform, wie sie jetzt geplant wird, eher noch weniger angegangen werden.

Europäer aus unterschiedlichen sozio-ökonomischen Schichten erhalten nicht dieselben Ausbildungsmöglichkeiten wie Kinder aus reichen oder Mittelklasse-Familien. In manchen Ländern legen die Daten nahe, dass europäische Schulen die existierenden sozio-ökonomischen Ungleichheiten verstärken.

Große Unterschiede gibt es auch beim „lebenslangen Lernen“, also bei Ausbildungsangeboten und –förderungen von bereits arbeitenden Menschen. Während in manchen Ländern wie Dänemark, Finnland, Schweden, der Schweiz und den USA bereits 40 Prozent an weiterbildenden Maßnahmen teilnehmen, sind es in Griechenland, Italien, Spanien oder Ungarn weniger als 10 Prozent. Und wer wie die Arbeitslosen oder schlecht Ausgebildeten am meisten auf Weiterbildung angewiesen wäre, erhält in der Regel am wenigsten Möglichkeiten. Bevorzugt werden hier mit großem Abstand diejenigen, die schon besser ausgebildet sind.

Was also schlägt Schleicher, der in Finnland und Südkorea Vorbildländer sieht, vor? Das bleibt in diesem Bericht zumindest reichlich abstrakt. Man müsse ein System von Institutionen hoher Qualität schaffen, das die Freiheit besitzt, auf eine veränderte Nachfrage zu reagieren und die für ihre Leistungen verantwortlich sind. Die Systeme für eine höhere Ausbildung müssten so verändert werden, dass der Zugang zu ihnen leichter wird, während Qualität und Chancengleichheit verbessert werden. Natürlich sollten auch mehr staatliche und private Gelder in Bildung investiert werden – und die Universitäten sollten nicht ausschließlich von der akademischen Gemeinschaft geleitet werden. Das ist wohl im Blick darauf gesagt, dass sich unter den angeblich weltweit besten Universitäten lediglich zwei aus Europa finden, nämlich in Cambridge und Oxford. Abgesehen von Tokio sind alle anderen Universitäten in den USA.