Klassenkrampf
Ein Besuch in der WELT der Literatur
Zwischentöne sind bloß Krampf / im Klassenkampf — so sang einst der linke Barde Franz Josef Degenhardt. Das hat DIE WELT mittlerweile auch schon gecheckt. Sie bringt uns heute den Klassenkrampf.
Manchmal braucht man einen Moment, bis einem wieder mal klar wird, dass DIE WELT ja nicht eine der großen Zeitungen der Welt ist, sondern nur ein Blatt aus dem Axel-Springer-Verlag. Wie BILD zum Beispiel auch.
"Was könnten wir tun, um alles, was irgendwie als linke Kultur gelten könnte, zu diskreditieren, und die konservative Stimmung im Lande um ein oder zwei Grade aufzuheizen?"
So oder ähnlich scheint man sich dort, in den Chefetagen, schon im Vorfeld zur deutschen Wahl, gefragt zu haben. "Hmmm", lautete die präsumtive Antwort darauf. "Vielleicht könnten wir irgendeinem linken Autor genug Geld bieten, dass er ein paar Verrisse der linken Leitkultur verfasst?" Aber nein. Das braucht es heute gar nicht. Man nimmt sich einfach eine jugendliche Edelfeder, und die macht das schon, mit echtem Vim und Brio. Als käme es von Herzen.
Bei "linker Leitkultur" dachte man allerdings weniger an Peter Weiss oder Peter Hacks. Man dachte eher an alles, was im Westen irgendwie populär ist oder war. Die Beatles. Josef Beuys. Bert Brecht. Oder Charles Bukowski.
Nun wäre es heute schon ein bisschen uncool, selbst in der WELT, den Brecht zu dissen, wozu auch? Man packte ihn also mit dem Bukowski zusammen, sozusagen wie zwei Stück Gammelfleisch in einen Hamburger. Und da wird dann schnell mal "der schreibende Postangestellte Charles Bukowski als kulturrevolutionärer Widerhall von Bertolt Brechts lesendem Arbeiter" vorgeführt. "Vorgeführt" heißt hier so viel wie "als Depp vom Dienst bloßgestellt". Den Artikel kann man hier nachlesen.
Bei allen anderen Artikeln der Serie wird man gebeten, ein Probe-Abo der WELT aufzunehmen.
Klassenkrampf (17 Bilder)
Okay, also es gibt ein Gedicht von Brecht: "Fragen eines lesenden Arbeiters". Und es gibt Lesungen dazu bei YouTube und sogar ein nettes Brecht-Feature, aber: Nur ein kompletter Vollkoffer würde auf die Idee kommen, dieses Gedicht oder überhaupt Brecht, mit Charles "Bukoffski" oder "Bukauski" [wie man den Namen in Amerika ausspricht und wie der Autor sich selber nannte] in Verbindung zu bringen.
Brechts Gedicht ist ein klassisches Stück deutscher Literatur. Es hat auch ein bisschen was, wie oft bei Brecht, von einer politischen Karikatur. Der lesende Arbeiter, die Person in dem Gedicht, ist so eine Art Modellfigur, ein auf Bildung bedachter Gewerkschaftler etwa, vielleicht Mitglied einer politischen Partei, Mitglied eines linken Buchklubs, Besucher eines Volkshochschulkurses, und der Text des Gedichtes hängt vielleicht, in einem aufstrebenden Arbeiterhaushalt, gerahmt unter Glas an der Wand.
Man kann sich dazu auch ein modernes Foto denken. Im Hintergrund die Cheopspyramide, im Vordergrund ein Massengrab für die Arbeiter mit 5000 Mumien. Die sollten dann in der Nachwelt wiederauferstehen und weiterarbeiten.
Bukowski ist nicht Brecht
Bei Bukowski haben wir es mit einem Mann zu tun, der vom ersten wachen Moment an wusste, dass er ein Schriftsteller war und ein Schriftsteller sein wollte. Ein Mann, der Geschichten schrieb, und ebenso Gedichte. Er wuchs nicht in einem großbürgerlichen Haushalt auf wie Brecht (der als Kind Hausangestellte hatte, die einen schweren Wäschekorb kurz einmal abstellten, woraufhin der Lausbub dann oben vom Treppengeländer herab auf die frische Wäsche pinkeln konnte).
Bukowski trug nicht, wie später Brecht, grobe Arbeiterjacken, die er sich beim Schneider anfertigen ließ. Und anders als Brecht schrieb er keine halbseidenen Zeilen wie: "Es ist wahr: Ich verdiene noch meinen Unterhalt …", wenn er in Wirklichkeit sein Geld vom Bruder Walter aus Augsburg zugeschickt bekam, der dort die Papierfabrik der Familie weiterbetrieb, Nazis hin oder her.
Schein und Show, alles Theater, aber das war eben der große Brecht. Nicht anders Heinrich Mann, der, wie die Legende erzählt, in Kalifornien von den Almosen lebte, die ihm sein wohlhabender Bruder Thomas zusteckte. Da das Geld nie so ganz reichte, ging Heinrichs Frau immer wieder mal putzen und gelegentlich auch noch [zensiert]. Erst nach ihrem Selbstmord wurde das Verhältnis der Brüder herzlicher. Alles Blödsinn, soo war es natürlich nicht, schreibt der Historiker Golo Mann, einer der Mann-Söhne.
Trotzdem war, in diesem Licht besehen, Bukowskis Leben auch nur eine typische Literatengeschichte: Geprügelt vom Vater, früh abgerutscht ins Asi-Milieu, Prügeleien, Alk, miese Jobs, schließlich eine Dauerkarriere als Briefesortierer bei der Post. Umgeben von Zombies, d.h., Angehörigen der entrechteten und niedergetretenen amerikanischen Arbeiterklasse, rang sich Bukowski am Ende eines jeden Tages mühsam Gedichte und Kurzgeschichten ab, die er an Literaturzeitschriften im ganzen Land verschickte. Eines seiner schönsten Gedichte heißt: "Friendly advice to a lot of young men" — hier kann man es hören — gelesen vom Autor.
Auf YouTube hört man noch eine ganze Reihe anderer Aufnahmen, darunter etliche, die mehrere Hundertausendmal abgerufen wurden. Ein Film, der Bukowskis letzte Lyrik-Lesung, 1980 in Kalifornien, dokumentiert, blieb rund 25 Jahre lang im Giftschrank. Das Interesse an Bukowski (er starb 1994) war aber noch lange nicht erloschen.
Das Leben eines Bukowski ist heute überall in Europa Alltag
Es ist also durchaus falsch, wenn der WELT-Schreiber konstatiert, dass Bukowski "der Dschungelkönig der Achtziger" war, was heute, mehr als 30 Jahre später, eine kaum mehr verständliche Formulierung darstellt, die aber eben signalisieren soll, Bukowski sei mittlerweile "historisch" d. h. "irrelevant" geworden. Dito falsch ist, dass "in seinem Werk kein einziger interessanter Satz" stünde. Und falsch ist wohl auch, dass seine Rezeption (über vier Millionen verkaufte Exemplare seiner Bücher allein in Deutschland) "ein deutsches Missverständnis" darstelle. Die Bildstrecke zeigt, dass Bukowski in Italien mindestens ebenso beliebt war und ist - und dass die Italiener natürlich die besseren Cover-Illus haben.
Aber lesen Sie den Artikel selbst, hier noch mal der Link.
Übrigens: Auch die Leserbriefe sind interessant. Ich meine, dass Bukowski in Deutschland nicht "missverstanden" wurde, er hatte auch in Carl Weissner einen ausgesprochen versierten Übersetzer. In Deutschland-West und dann natürlich -Ost breitete sich das Prekariat ja bereits in den Siebziger- und Achtzigerjahren aus - und Bukowski führte genau diese Lebenssituation vor. Er musste keine marxistische Gesellschaftskritik hintanhängen, er musste sich nicht, wie Günter Wallraff, maskieren, um das Leben der Menschen "ganz unten" zu studieren.
Er hatte es jahrelang, Tag für Tag, miterlebt. Und er schrieb gewissermaßen das Drehbuch für die Jahre von damals bis heute — denn das Leben eines Bukowski ist heute überall in Europa Alltag. Kein Wunder, dass die WELT eine Dosis Klassenkrampf über dem Autor ausschüttet, wie Säure über dem Leichnam, der auch nach über 20 Jahren nicht aufhört, äußerst lebendig zu bleiben.
Hier noch etwas zum Nachlesen: Bukowskis Dankesbrief an seinen Verleger und Gönner, John Martin, der dem begabten Autor ein Stipendium von 100 Dollar im Monat spendierte, damit er die Maloche bei der Post aufgeben und sich ganz dem Schreiben widmen konnte. Wie Bukowski schrieb: "50 Jahre meines Lebens hab ich vertan, jetzt muss ich auf die Tube drücken, um irgendwas von dem zu realisieren, was mir vorschwebte." Immerhin, es kamen noch rund 50 Bände Storys und Gedichte zusammen - und dann nochmal so viele in Form von posthumen Briefen und sonstigen Traktaten.
Eine schöne Sammlung von Robert-Crumb-Illustrationen zu Geschichten von Bukowski findet sich hier.
Und: Suchen Sie die Geschichte "Swastika" (Hakenkreuz), die quasi visionär das Amerika von heute vorweg nimmt. Sie findet sich übrigens auch eingebettet in einer Sammlung von Bukowskis Frühwerk, den ungedruckten oder nie eingesammelten Stories von damals, in: "The Most Beautiful Woman in Town", Virgin Books, UK, 2008.
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