Klassische Postmoderne?

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Steven Spielberg verfilmt Hergés Comic-Klassiker "Tim & Struppi"

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Da sind an ein und demselben Tag zwei Pressevorführungen: Am Vormittag wird "Wintertochter" von Johannes Schmid gezeigt, es geht darin um Vatersuche und die deutsch-polnische Vergangenheit. Sehr kleines Budget; sorgsame Inszenierung, nah an den Figuren, unaufgeplustert und dazu gut gespielt. Und mittags gibt’s Tim & Struppi, ein Werk, womit sich zwei erfolgreiche Filmgeschäftsmänner für ein paar Dutzend Millionen Dollar einen alten Jungentraum erfüllen, indem sie ihren Lieblingscomic "Tintin" verfilmen. Die erste Pressevorführung hat drei Besucher, die zweite etwa neunzig.

In Zeiten, in denen sich schon die Kritiker nicht für junge Filmemacher interessieren, ist Aufmerksamkeit das höchste Gut für den Filmschaffenden, manchmal womöglich das einzig relevante bei der Planung. Darum sind unsere Kinos und TV-Sender oft verstopft mit Produkten, bei denen jeder schon im Voraus mitquatschen kann. Am Besten lässt sich Schönes oder Schlimmes von früher in neuer Verpackung verkaufen: Hilde Knef, Adolf Hitler, Beate Uhse, die RAF, James Bond, Die 3 Musketiere, Wickie oder Superheldencomics aus den Fünfzigern.

Zur Konsumentenmasse gehören ja mittlerweile zwei bis drei Generationen, die scheinbar nichts anderes aufzuarbeiten haben als ihren eigenen Konsum. Was haben wir damals James Bond geschaut! Was haben wir Ahoi-Brause gelutscht! Und was waren doch die "Tim & Struppi"-Comics immer so spannend!

Natürlich kann man so einer nostalgiefreudigen Kundschaft leicht mal wieder eine Verfilmung des alten Kolonialherrn-Comics von Hergé andrehen - trotz oder sogar wegen der Skepsis im Vorfeld: Wird der verklemmte Steven Spielberg Haddocks kreuzfidelen Alkoholismus nicht vertuschen wollen? Wird er seinen seit "Hook" so gefürchteten Zuckerguß über die eher spröden Comics verteilen? Und warum machen die eigentlich keinen 2-D-Film draus, wo doch die Zeichnungen so schön sind? Da haben wir sie auch schon die Aufmerksamkeit. Die Qualität der Verfilmung ist dann schon nicht mehr so wichtig, zum weiteren Mitreden soll man sich ja erstmal eine Kinokarte kaufen.

Liebhaber am Werk

So. In diesem Fall ist das aber alles nicht so schlimm, denn zum Einen entstehen aus eher schlichten Vorlagen - und die Tintin-Geschichten sind nun wirklich nicht besonders raffiniert - mitunter nette Filme. Adaptionen von "Das Parfüm" oder "Die Buddenbrooks" scheitern schnell mal, aber wie hübsch ist einst Warren Beatty die Verfilmung des albernen Fortsetzungscomics "Dick Tracy" geraten. Und überdies waren diesmal mit Steven Spielberg und seinem Co-Produzenten Peter Jackson ganz offensichtlich echte Liebhaber der Original-Comics am Werk.

So hält sich der Film tatsächlich zunächst an den recht übersichtlichen Erzählbogen des Albums "Das Geheimnis der Einhorn". Tim gerät da an ein Schiffsmodell, das einen versteckten Hinweis auf einen versunkenen Schatz birgt, und es folgt darauf keine Schatz- sondern quasi eine einhalbstündige Schatzkartensuche. Tim und Kapitän Haddock (jaja, und der blöde Hund ist auch immer dabei) jagen bald zwei weiteren Modellen nach, die jeweils einen Zettel enthalten.

Spielberg scheint noch einiges mit Tintin vorzuhaben, denn vom Nachfolgeband "Der Schatz Rackhams des Roten", wo erst die richtige Schatzsuche startet, ist nur ein Schnörkel am Schluss vorweggenommen. Allerdings wird in diesem ersten Teil die Rolle des Schurken Sakharin (Daniel Craig) erheblich vergrößert und das Abenteuer angereichert mit Ausflügen in andere Hefte. So wanken Tim und Haddock durch die nordafrikanische Wüste oder hören zu, wenn die Sängerin Castafiore mittels Gesang Panzerglas zerbersten lässt.

Der Vorspann, der sich liebevoll an Hergés Ästhetik hält, gibt den nostalgischen Auftakt. Danach wirbelt der Film sofort virtuell in Tims Heimatstadt herum, denn die Produzenten haben sich für 3-D-Animation unter Mithilfe von Schauspielern durch "Perfomance-Capturing" entschieden. Das sieht bei den Figuren zunächst ein bisschen grauslig aus, aber immerhin einigermaßen lebendig. Tim zum Beispiel, gespielt von Jamie Bell, verfügt nun endlich auch mal über ein paar Gesichtszüge, und der wacklige Haddock profitiert vom komischen Timing von Andy "Gollum" Serkis. Die Komiker Simon Pegg und Nick Frost allerdings sind als Schultze und Schulze ziemlich verschwendet.

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Fünf Minuten von "Shaun of the Dead" mit Pegg und Frost sind ja bereits witziger als Hergés Gesamtwerk, das im Grunde nur drei Witzvariationen enthält: Bienlein hört schlecht; Schultze und Schulze wiederholen sich; Haddock flucht und säuft. Des Käpt'ns großer Durst kommt im Film übrigens nicht zu kurz, Spielberg übernimmt ein paar der Comic-Gags, erfindet neue hinzu und wagt sogar, Hadocks Rülpser als Treibstoff für ein trudelndes Flugzeug zu nutzen - ein Scherz, den Hergé wohl nie in Erwägung gezogen hätte.

Sexfreie, arglose Bubenunterhaltung mit altmodischer Sorgfalt auf dem neuesten technischen Stand

Die dynamischste Passage der Vorlage, in der Haddock einen Piratenüberfall daherdeliriert, scheint zunächst auf ein paar Sätze gekürzt. Dann aber holt Spielberg nochmal mächtig aus, zeigt, was er am Besten kann, nämlich Schlachtengetümmel inszenieren, und verschafft der Geschichte eine unerwartete Wucht.

Denkt man an missratene Realverfilmungen von Comics, etwa an die grauenhaften Asterix-Adaptionen, in der Schauspieler zunächst in aller Schwere durch echte Landschaften stapfen, um dann doch wieder virtuell durch die Luft zu wirbeln, kann man Spielberg nur dankbar sein, dass er der papierenen Tintin-Welt ihre eigene künstliche Wahrhaftigkeit verschafft und sie somit erst richtig zum Leben erweckt. Und nebenbei wird, auch durch allerlei schöne Bildzitate, eine echte Hommage an Hergé daraus.

Spielberg, einst der Peter Pan Hollywoods, dem schon in den Achtzigern mit gewissem Recht vorgeworfen wurde, er mache postmodernes Kino, er sei ein Erzähler, der sich bei allem bediene, um es dann wieder zu einem übervollen, zuckrigen, großen Schmarrn zusammenzupantschen, ist dreißig Jahre nach "Jäger des verlorenen Schatzes" erneut bei sexfreier, argloser Bubenunterhaltung gelandet. Pantscherei betreiben zwar mittlerweile fast alle, doch hapert es oft an der handwerklichen Umsetzung.

Dass am Ende von "Tim und Struppi" die Verfolgungsjagd im Achterbahnstil (mit Falkenflug, Motorradbeiwagen und Überschwemmung) so anschaulich gerät, liegt an Spielbergs typischer Action, bei der man sich immer prächtig auskennt. So ist dieses Abenteuer einerseits technisch auf dem allerneuesten Stand, ohne ständig durch seine Machart abzulenken, andrerseits von altmodischer Sorgfalt geprägt. Womöglich ist der bald siebzigjährige Spielberg der erste Künstler, der den Begriff klassische Postmoderne für sich in Anspruch nehmen darf.

Die beiden Biedermänner Hergé und Spielberg passen also im Grunde bestens zusammen, solange der Regisseur nicht mit seinem amerikanischen Think-Positive-Stuss daherkommt. Wenn Tim seinen entzugsgeplagten Käpt'n mit "Du kannst es Schaffen"-Geschwätz anfeuert, dann hat das 3-D-Motion-Capturing-Verfahren auch seine Grenze erreicht. Von virtuellen, seltsam verdehnten Comicfressen will man derlei glitschige Pseudobesinnlichkeiten noch weniger hören als sowieso schon.

(„Wintertochter“ läuft übrigens bereits im Kino.)