Klimapolitik als geopolitische Waffe

Die Instrumentalisierung der Klimapolitik für geopolitische Interessen

"Die Geopolitik des Klimawandels", so lautet die Überschrift eines Artikels des Klima-Kommissars der EU-Kommission, Frans Timmermans, und des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell.

Darin heißt es: "Der Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen wird die strategische Position der EU erheblich verbessern", und die Energiewende "wird zu Machtverschiebungen führen, weg von jenen, die die fossilen Brennstoffe kontrollieren und exportieren, hin zu denen, die die grünen Zukunftstechnologien beherrschen."

Als Beispiel verweisen sie auch gleich auf ihren Lieblingsfeind: "Das Ende von Energieimporten wird auch dazu beitragen, die Einkünfte und geopolitische Macht von Ländern wie Russland zu vermindern."

Das ist nicht nur die private Meinung der beiden, sondern findet sich auch offiziell im Europäischen Green Deal. Demnach sollen die Auswirkungen der Klimapolitik "zu einem integralen Bestandteil der Überlegungen und Maßnahmen der EU in Bezug auf externe Angelegenheiten werden, auch im Kontext der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik."

Nun ist sicher richtig, dass die Dekarbonisierung, zu der sich mit Ausnahme Indiens inzwischen die größten CO2-Emittenten bekannt haben (EU, USA, China, zuletzt Russland) – tatsächlich zu disruptiven Verschiebungen im Rohstoffsektor führen könnte. Die größten Emittenten von Treibhausgasen sind auch große Verbraucher von Energie und Rohstoffen.

Gleichzeitig verlaufen zwischen ihnen scharfe Konfrontationslinien. Wie immer in solchen Fällen wuchern Rivalität und Feindbilder in alle politischen und gesellschaftlichen Bereiche hinüber.

Kein Wunder also, dass auch die Klimapolitik und ihre energiepolitischen Dimensionen in die Mühlen der machtpolitischen Auseinandersetzung geraten sind. Schließlich sind Energieträger strategische Rohstoffe, d.h. sie beeinflussen materiell und preislich die gesamte Volkswirtschaft und damit auch die machtpolitischen Ressourcen eines Landes, vorneweg seines Militärs.

Dementsprechend gehören Energiesicherheit, Verfügbarkeit über die Rohstoffquellen der Zukunft und ihre Transportrouten zu den Basisfunktionen staatlicher Politik – erst recht bei rivalisierenden Großmächten.

Sehr deutlich formuliert das Joe Biden gegenüber China, das er, ganz in Kontinuität zu Obama und Trump, seinerseits zum Lieblingsfeind erklärt hat: "Sie werden dieses Rennen nicht gewinnen. Wir können das nicht zulassen", um dann für die neuen strategischen Rohstoffe zu fordern: "Wir müssen den Weltmarkt übernehmen."

Klimapolitischer Führer für den Rest der Welt?

Bei so viel Größenwahn lässt sich die EU nicht lumpen und erklärt sich schon mal selbst zum globalen Vorreiter der Klimapolitik. So heißt es in der Climate Change and Defence Roadmap 2020:

Es gibt einen klaren Bedarf und eine weltweite Nachfrage gegenüber der EU und ihren Mitgliedsstaaten dauerhaft Führung in internationaler Klima- und Umweltpolitik zu zeigen.

Auch die Klimapolitik soll also für die Sehnsucht nach Großmachtstatus eingespannt werden. Seit dem Aufstieg Chinas, der Konsolidierung Russlands als Großmacht und den Problemen in den transatlantischen Beziehungen fürchtet man in Brüssel den Abstieg in die dritte Liga der Geopolitik. Es vergeht daher keine Erklärung aus Brüssel, ohne dass von "strategischer Autonomie" bzw. "europäischer Souveränität" die Rede ist.

Den Begriff hatte Macron groß gemacht, ursprünglich in militärischem Sinne. Allerdings hat eine militärische Autonomie der EU enge Grenzen, solange es die Nato gibt und selbst Mitgliedsstaaten wie Polen militärisch eher auf Washington setzen als auf Brüssel. Das heißt nicht, dass man gegenüber der Militarisierung der EU die Hände in den Schoß legen sollte.

Aber ihre militärischen Entfaltungsmöglichkeiten beschränken sich darauf, in Europa Front gegen Russland zu machen und in Afrika postkoloniale Ordnungspolizei zu spielen. Global gesehen bleibt ihre Rolle auf das beschränkt, was die alten Römer "auxiliares" nannten: Hilfstruppen.

Deshalb versucht die EU jetzt gezielt auch ihr ökonomisches und technologisches Potenzial für ihre geopolitischen Interessen zu instrumentalisieren.

Konfrontation untergräbt internationale Klimapolitik

Nun kann man berechtigterweise einwenden, dass eine solche Strategie bereits im Ansatz zum Scheitern verurteilt ist. Denn wenn es stimmt, dass die Klimakatastrophe ein Problem von menschheitsgeschichtlicher Tragweite ist, dann ist neben technischen Innovationen, neuen Finanzquellen und einer anderen Gesellschaftspolitik auch eine problemadäquate Kultur internationaler Kooperation zwingend notwendig. Und das heißt eben Kooperation an der Spitze der machtpolitischen Hühnerleiter im internationalen System statt Kaltem Krieg.

Es ist dabei eine Illusion, man könne einerseits beim Klima miteinander kooperieren, aber gleichseitig mit Sanktionen, technologischem Protektionismus, Wettrüsten und Regime-Change-Politik der anderen Seite ständig Knüppel zwischen die Beine werfen.

Das scheint auch dem einen oder anderen in der etablierten Politik zu dämmern. So sagte z.B. Ex-Außenminister Sigmar Gabriel Anfang Oktober:

Die Wahrscheinlichkeit, dass wir mit China auf allen Gebieten im Konflikt liegen, aber im Klimaschutz gut zusammenarbeiten, ist gleich null.

Schade nur, dass er sich nicht schon in seiner Amtszeit darauf gedrungen, oder es wenigstens seinem Nachfolger und SPD-Genossen Heiko Maas erklärt hat.

Erdgas als Brückentechnologie

Aber auch unabhängig von solch grundsätzlichen Überlegungen sind die Aussichten der EU bei der Umstrukturierung der strategischen Rohstoffversorgung keineswegs rosig. Das fängt damit an, dass die Abhängigkeit von Kohlenstoffen, vorwiegend von Gas als Brücken- und Reserveenergie, noch ein bis zwei Jahrzehnte fortbestehen wird.

Das sehen inzwischen selbst die Grünen so, wenn sie in den Ergebnissen der Sondierungen sich mit SPD und FDP auf die "Errichtung moderner Gaskraftwerke, um den im Laufe der nächsten Jahre steigenden Strom- und Energiebedarf zu wettbewerbsfähigen Preisen zu decken" geeinigt haben. Die Kraftwerke müssen immerhin so gebaut werden, "dass sie auf klimaneutrale Gase (H2-ready) umgestellt werden können."

Das passt gut zu den beiden Nord-Stream Pipelines, die ebenfalls so ausgelegt ist, gegebenenfalls Wasserstoff transportieren zu können.

Bis es so weit ist, wird jedoch noch viel Gas durch Nord-Stream fließen, und erst recht durch Sila Sibiri (Power of Sibiria), die erste russische Pipeline nach China. Die Grünen wollen sogar, dass Russland die rostigen Rohre der Ukraine stärker befüllt – trotz des Risikos von Leckagen.

Wenn es darum geht, Moskau einen reinzuwürgen, hat das sogar Vorrang vor Klimaschutz. Man kann das alles beklagen, aber jetzt rächt sich, dass trotz früher Einsichten, wie etwa bei der Rio-Konferenz 1992, die letzten 30 Jahre klimapolitisch verloren waren. Wer zu spät kommt, den bestrafen Dürre, Hochwasser, Waldbrände und Artensterben.

Dekarbonisierung ändert nichts an Rohstoffabhängigkeit

Auch bei den für die Dekarbonisierung notwendigen Rohstoffen sieht es nicht besser aus. So braucht man für eine Batterie neueren Typs mit 60 kW/h-Leistung neun Kilogramm Kobalt, elf Kilogramm Lithium und 70 Kilogramm Nickel.

Die Länder mit der größten Fördermenge bei Kobalt sind Demokratische Republik Kongo, China, Kanada, Russland. Bei Nickel sind es Indonesien, Philippinen und Russland. China hat auch die größte Menge bekannter Reserven seltener Erden, während Russland hier an vierter Stelle liegt.

Gebraucht werden diese Stoffe etwa in Elektromotoren, Robotern oder Windgeneratoren. Derzeit bezieht die EU mehr als 90 Prozent davon aus China. Für E-Autos und Speichertechnologie benötigt sie bis 2030 nach eigenen Angaben 18-mal mehr Lithium und 5-mal mehr Kobalt und bis 2050 jeweils 60-mal und 15-mal mehr. Weltweit prognostiziert die Weltbank bis 2050 einen Anstieg der Kobalt- und Lithiumproduktion um 500 Prozent.

Lediglich bei grünem Wasserstoff, eine Hauptsäule des Green Deal, sieht die Lage etwas günstiger aus. Zumindest auf den ersten Blick. "Grün" heißt, die sehr energieintensive Elektrolyse, mit der Wasserstoff aus Wasser abgespalten wird, geschieht mit erneuerbaren Energieträgern.

Spanien etwa und andere Mittelmeeranrainer verfügen hier über beträchtliches Potenzial – vorausgesetzt sie haben genügend Wasser und Photovoltaik. Die Solarzellen könnten sie von China beziehen, dem globalen Marktführer.

Oder sie können sie selbst herstellen. Dazu braucht man aber neben dem problemlosen Silizium u.a. auch unbedingt Indium aus der Familie der seltenen Erden. Und wo gibt es das?

Mit 40 Prozent der Weltproduktion liegt China an erster Stelle, gefolgt von Südkorea mit 32 Prozent und Japan mit zehn Prozent. Auch die größten bekannten Reserven liegen in China. Also auch hier keine Spur von strategischer Autonomie.

Aber immerhin ließe sich grüner Wasserstoff aus benachbarten Regionen beziehen, so Sonnenstrom aus Nordafrika oder Windstrom aus Skandinavien oder der Ukraine. Allerdings wird auch das seine Zeit dauern, denn auch dort braucht man die gleichen Rohstoffe.

Deshalb wird kurzfristig blauer, violetter und gelber Wasserstoff für eine Übergangszeit als kleineres Übel schneller verfügbar sein.

Bei der blauen und violetten Methode wird die Elektrolyse mit Gas durchgeführt, das CO2 abgeschieden und unterirdisch gelagert (Carbon Capture & Storage, CCS), bzw. der Kohlenstoff in fester Form als Grafit abgespalten.

In der Umweltbewegung stößt die Technik weitgehend auf Ablehnung, während der Weltklimarat der Uno (IPCC) sie als legitimes Verfahren zur CO2-Reduzierung führt.

Die gelbe Wasserstoffgewinnung arbeitet mit Atomenergie und wird vom IPCC, ebenfalls als legitimer Beitrag zur Energiewende eingestuft. Die EU dürfte darin demnächst folgen. Frankreich bezieht nicht nur 70 Prozent seines Strombedarfs aus seinen 57 Reaktoren, sondern plant, den Bau von sog. Minireaktoren (Small Modular Reactor).

Wie Le Monde aus einem internen Papier von Finanzministerium und der staatlichen Elektrizitätsgesellschaft berichtet (10.12.2020; S. 6), soll es auch sechs neue Druckwasserreaktoren geben. Verständlich, dass den AKW-Gegnern die Haare zu Berge stehen. Für unser Thema aber heißt das: Was Frankreich recht ist, ist China und Russland nur billig.

Dünkelhafte Selbstüberschätzung

Wie immer man es dreht und wendet, die Umstellung der Energiebasis ist ein komplexer und schwieriger Prozess. Selbst mit Greta Thunberg als Bundeskanzlerin und EU-Chefin zugleich würde er einige Jahre brauchen. Konfrontation und Kalter Krieg machen ihn jedoch noch komplexer, schwieriger und langwieriger, wenn nicht gar unmöglich.

Für die eingangs zitierten Prognosen der EU bedeutet das:

Erstens, die Dekarbonisierung ändert nichts daran, dass die EU eine rohstoffarme Gegend bleibt und deshalb auch in Zukunft hochgradig von Energie- und Rohstoffimporten abhängig sein wird.

Zweitens folgt aus dem Ende der Kohlenstoffwirtschaft mitnichten der geopolitische Niedergang Russlands und Chinas. Im Gegenteil, Russland verfügt auf seinem riesigen Territorium über enormen Rohstoffreichtum.

Das gilt nicht nur für konventionelle Ressourcen, sondern auch für zukunftsträchtige Energieträger, wie Sonnenstrom am Schwarzen und Kaspischen Meer und den Steppen östlich der Wolga. Beim Potenzial an Windenergie ist Russland sogar mit Abstand weltweit Spitzenreiter, mit 143 PWh/p.a. vor Kanada mit 99, den USA mit 88 und China mit 43 PWh/p.a. (PWh/p.a. = Peta Watt/pro Jahr. 1 PW = 1.000 Tera Watt).

Anfang Oktober hat die Regierung ein Entwicklungskonzept für die wasserstoffbasierte Energie verabschiedet und Gazprom beauftragt, eine Roadmap zu erstellen.

Ähnliches trifft auf China zu, auch wenn dessen Rohstoffsituation nicht ganz so üppig ist. Dafür ist es in wichtigen Technologiebereichen schon heute der EU weit voraus. Zudem führt Konfrontationspolitik zur Lagerbildung, mit dem Effekt, dass Chinas ökonomisches und technologisches Potenzial noch enger mit der Nuklearmacht und den russischen Rohstoffen gekoppelt wird. Es würde ein gigantischer eurasischer Block entstehen.

Weder die Chancen, die Brüssel für die EU zu wittern glaubt, noch der geopolitische Niedergang, den sie China und Russland an den Hals wünschen, sind realistisch. Die Fehleinschätzung reiht sich ein in den generellen Habitus dünkelhafter Selbstüberschätzung, der auch in der Vergangenheit bei wichtigen Entscheidungen immer wieder durchnässte.

Erinnert sei nur an den Brexit, wo ein weniger protziges Auftreten und etwas Flexibilität womöglich zu einem anderen Ausgang des britischen Referendums geführt hätte. Oder die Ukraine-Krise 2014, wo die Überlegenheitsillusion der Kommission Barroso bei etwas mehr Realismus zu einem anderen Verlauf der Geschichte geführt hätte.

Daran sollte man sich erinnern, wenn die Brüsseler Spin-Doktoren jetzt bei der Klimakonferenz in Glasgow wieder mal ihre Selbstbeweihräucherungsmaschine anwerfen und suggerieren, am europäischen Wesen könnte die Welt genesen.