Könige der Unterwelt
Die Krays - Teil 1
Vor vierzig Jahren begann der bis dahin längste und teuerste Prozess der britischen Kriminalgeschichte. Der Prozess markiert das Ende einer Ära und den Beginn eines Mythos, der seither den britischen Gangsterfilm prägt. Es geht dabei auch um ein Stück britische Sozialgeschichte.
Am Morgen des 7. Januar 1969, kurz vor 9 Uhr, wurden auf der Strecke zwischen dem Gefängnis in Brixton und dem Gerichtsgebäude Old Bailey plötzlich die Ampeln auf Rot geschaltet. Dann raste ein Polizeikonvoi, bestehend aus zwei gepanzerten Wagen, mehreren Begleitfahrzeugen mit bis an die Zähne bewaffneten Elitepolizisten und einer Motorradeskorte mit Blaulicht durch die britische Hauptstadt. Die Verantwortlichen hatten zuvor sechs verschiedene Routen ausgearbeitet. Die gewählte Strecke wurde den Fahrern erst mitgeteilt, als sich der Konvoi in Bewegung setzte. Solche Sicherheitsvorkehrungen kannte man aus Palermo, wo damals gerade ein spektakulärer Mafiaprozess endete. Für London waren sie völlig neu. So stellte sich in dem Moment, in dem eigentlich demonstriert werden sollte, dass Recht und Gesetz die Oberhand über eine Gangsterbande behalten hatten, das Gefühl einer allgemeinen Bedrohung ein. Wenn solche Maßnahmen getroffen werden mussten, um die Sicherheit zu garantieren, war das vor allem eins: beunruhigend.
Beim Prozess selbst ging es nicht nur um Schuld und Sühne. Im Court No. 1 des Old Bailey, dem berühmtesten Gerichtssaal der Welt, trafen zwei Teile der britischen Gesellschaft aufeinander, zwei Kulturen, die zeitweise so wirkten, als kämen sie aus verschiedenen Ländern. Deutlich wurde das bereits durch die Sprache. Die einen, die Angeklagten und die Zeugen, sprachen mit dem Akzent der Cockneys; die anderen, der Richter und die Anwälte, mit dem Akzent der britischen Oberschicht. Im Court No. 1 trafen die Vertreter des Rechts auf eine Welt, über die sie nichts wussten und die sie nicht verstanden. Abgeurteilt wurden zehn Kriminelle, aber auch das alte East End, das im Zweiten Weltkrieg durch deutsche Bomben schwer beschädigt worden war und bald, durch die Bulldozer des Thatcherismus, weitgehend ausradiert werden würde, so dass es heute nur noch in Romanen und in Filmen, in nostalgischen Erinnerungen und in den Anekdoten der Fremdenführer existiert.
Leben am Abgrund: Das East End
Das East End gilt als eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Der Begriff, „East End“, wurde in den 1880ern geprägt, als es bei den Reichen Mode wurde, zum wohligen Gruseln die Slums rund um die Docks zu besuchen. Aber der Osten Londons existierte schon lange vorher als ein vom Rest der Metropole getrennter Bereich. Zum Schutz vor Hochwasser bauten die Römer auf dem Gebiet des damaligen Londinium Mauern, die den Westen bevorzugten und den Osten benachteiligten. Das war eine bedeutende Kulturleistung und schuf zugleich die dunkle, von den Unterprivilegierten bevölkerte Seite Londons. Die sächsischen Eroberer des fünften und sechsten Jahrhunderts ließen sich im Westen nieder, die kelto-romanischen Verlierer wurden in den Osten abgedrängt. Bei dieser Einteilung blieb es. Die Reichen und Mächtigen wohnten im Westen; die Armen, die auf der Flucht vor religiöser Verfolgung (französische Hugenotten, osteuropäische Juden) oder Hungersnöten (die Iren) nach London gekommen waren, im Osten.
Eine wichtige Rolle spielte der entlang der Themse vorherrschende Westwind. Seinetwegen wurde alles, was stank, im Osten angesiedelt: Fabriken, die Farben und Lösungsmittel, Dünger, Knochenmehl, Klebstoff, Paraffin oder Streichhölzer herstellten, Schlachthöfe, Gerbereien und Fischzuchtanlagen. Die Fabriken wurden ständig mehr, und auch die Docks, ursprünglich auf das Gebiet zwischen dem Tower und der London Bridge beschränkt, breiteten sich immer weiter aus. Man brauchte billige Arbeitskräfte, die mit ihren Familien in menschenunwürdige Behausungen gepfercht wurden, errichtet in ehemaligen Themsedörfern, von denen im viktorianischen Zeitalter nur noch die Namen übrig waren: Whitechapel, Bethnal Green, Stepney. Das East End – so das allgemeine Gefühl – war topographisch, kulturell, spirituell und ökonomisch vom Rest Londons abgeschnitten. Die wenigen Journalisten und Soziologen, die sich überhaupt für diese Slumgebiete interessierten, verglichen die Bewohner mit afrikanischen Pygmäen und mit polynesischen Wilden. Eine sehr eindringliche Beschreibung des Elends gibt Jack London (Autor von Der Seewolf) in seiner 1902 erschienenen Sozialreportage People of the Abyss.
Für die Mittelschicht war das East End ein Albtraum (gleichzeitig lebten viele der braven Bürger – vom Fabrikbesitzer über den Geschäftsmann zum Slumlord – nicht schlecht von der Ausbeutung des Ostens). Dieser Albtraum war umso bedrohlicher, da der von Jack London geschilderte Abgrund gleich hinter dem Tower begann. Die City, das reichste Finanzzentrum der Welt, lag in unmittelbarer Nähe des ärmsten Teils der Stadt. Wie schnell Grenzen überwunden werden konnten, zeigte sich in den 1860ern, als 20 000 kurz vor dem Verhungern stehende Bewohner des East End durch die City zum Trafalgar Square zogen, um für höhere Löhne zu demonstrieren (ohne Erfolg). Die meisten Londoner aus dem Westen sahen in den Protestierern einen gesetzlosen Mob, der darauf aus war, ihre Sicherheit und ihren Wohlstand zu zerstören. Das hatte bleibende Folgen. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wurde das East End zum Synonym für die kriminelle Unterwelt. In Oliver Twist von Charles Dickens treiben Fagin und Bill Sykes ihr Unwesen von den Elendsquartieren des East End aus (bei Dickens allerdings noch vor sozialkritischem Hintergrund), Limehouse ist das Rückzugsgebiet von Sax Rohmers Superverbrecher Fu Manchu, und die meisten der Bösewichter bei Edgar Wallace sind Cockneys (der Begriff bezeichnete ursprünglich die Londoner insgesamt, dann aber speziell die Bewohner des East End).
Natürlich waren das nicht nur Klischees. „Das East End“, schreibt der Kriminologe Dick Hobbs in Doing the Business, “war ein Land der lebenden Toten, ein Symbol für all die Konsequenzen, die jene zu tragen hatten, die nicht an den normalen Aktivitäten des Kapitalismus teilhaben konnten.“ Das East End war ein Land des Schreckens, aber auch so etwas wie der Wilde Westen von London. Auf den großen Straßenmärkten, etwa dem in der Middlesex Street (Petticoat Lane), wurde billiges Diebesgut verkauft. Wer mit dem Vergnügungsangebot im West End nicht zufrieden war, machte sich auf den kurzen Weg in den Osten. Dort gab es Prostitution, Glücksspiel und Drogen – und Banden, die darauf warteten, den Besuchern ihr Geld abzunehmen. Jack the Ripper schlitzte in Whitechapel und Bethnal Green Huren auf, was die Aufmerksamkeit auf das dortige Elend lenkte, aber auch alte Klischees bestätigte. Im East End, einem Labyrinth aus engen, nachts kaum beleuchteten Straßen und Gassen, lebte man nach eigenen Regeln. Es gab ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das Historiker gern mit der Stammessolidarität bei Eingeborenen vergleichen.
Heroes and Villains
Die Kooperation mit der Polizei, das Verpfeifen von anderen Cockneys war verpönt. Polizisten, die oft als Streikbrecher eingesetzt wurden oder Demonstranten niederknüppelten, wurden als Eindringlinge wahrgenommen und als Instrumente der Mächtigen. In diese über Jahrhunderte gewachsene Kultur wurden 1934 die Zwillinge Reginald und Ronald Kray hineingeboren (am 17. Oktober dieses Jahres werden die East-End-Nostalgiker ihren 75. Geburtstag feiern). Das Verbrechen war damals noch ein integraler Bestandteil dieser Kultur, eine Karriere als Krimineller nicht etwas, wofür man sich unbedingt schämen musste. Das ist wichtig, um zu verstehen, wie die Krays die berühmtesten britischen Gangster des 20. Jahrhunderts werden konnten. Sehr vielsagend ist das Erinnerungsalbum, das die Mutter, Violet Kray, über ihre Söhne anlegte. Dort klebte sie zuerst Zeitungsberichte über die Boxkarriere ihrer Söhne ein, dann über ihre Strafprozesse, als wäre das kein Unterschied. Violet belog regelmäßig die Polizei und hatte den Ruf einer grundehrlichen Person, die immer die Wahrheit sagte. Im East End war auch das kein Widerspruch.
Die Londoner Unterwelt war heterogener als beispielsweise die amerikanischer Städte mit zentralistischen Mafiastrukturen. Soweit sie organisiert war, lässt sie sich am besten mit einem Feudalsystem vergleichen. Feudalherren waren die Villains. Ein Villain ist nicht einfach nur, wie das Lexikon behauptet, ein Schurke oder ein Verbrecher. Es handelt sich um eine Berufsbezeichnung. Ein Villain ist einer, der einen Anteil an der Beute anderer Gauner fordert, der von der Einschüchterung lebt und von dem Ruf, dass er zu allem bereit ist, unabhängig von den Konsequenzen. Villains waren bekannt, man sprach über sie, und sie erfreuten sich eines gewissen Prestiges. Für Reggie und Ronnie Kray, selbst in dieser Berufssparte tätig, waren sie die „Aristokraten des Verbrechens“. John McVicar, vom Räuber zum Unterwelt-Soziologen für den Hausgebrauch geworden, nennt sie „Diebe und Zuhälter, die von Verbrechen lebten, die sie selber nicht begehen konnten“. Man kann es auch mit dem Vokabular des Kapitalismus sagen: Für einen Villain ist die Gewalt eine Ware wie jede andere. Sie ist das Produkt, das er verkauft und mit dem er sein Geld verdient. Der Prototyp des Villain ist Bill Sykes in Oliver Twist.
Reggie und Ronnie Kray wuchsen in der Vallance Road in Bethnal Green auf, gleich um die Ecke von dem Haus, wo Jack the Ripper Annie Chapman getötet hatte. Alte Leute erzählten noch gern die Geschichte, wie sie dem Ripper auf der Straße begegnet waren, so wie man später erzählte, dass man die Krays persönlich kannte und wie man heute, wenn man dafür zu jung ist, sein Cockneytum dadurch untermauert, dass man angeblich auf der Beerdigung von Violet oder eines ihrer Söhne war. Das Haus Nummer 178, in dem die Krays wohnten, war das zweite von vier winzigen Reihenhäusern. Dieses viktorianische „Cottage“ (so die offizielle Bezeichnung) hatte vier Zimmer und kein Bad. Das WC stand in einem kleinen Hinterhof, der meistens voller Gerümpel war. Ronnie und Reggie gaben später an, dass dieses „Cottage“ die einzige echte Heimat gewesen sei, die sie je gehabt hätten. Der Rest der Familie mütterlicherseits wohnte ebenfalls in der Vallance Road oder in unmittelbarer Nachbarschaft. Jeder kannte jeden, man sperrte nur selten die Haustür ab. Die Straße endete an einem rußgeschwärzten Viadukt, über den die Hauptverbindungslinie zum fünf Minuten entfernten Bahnhof Liverpool Street führte. Wenn die Züge vorbeiratterten, erzitterten die Reihenhäuser in der Vallance Road. In den späten 1960ern wurden die Cottages, weil als menschliche Behausung ungeeignet, abgerissen.
Zwillinge und Schizophrenie
Die wichtigste Bezugsperson der Krays war ihre Mutter Violet. Für Violet waren Ronnie und Reggie schon deshalb etwas ganz Besonderes, weil sie eineiige Zwillinge waren. Sie waren ihr ein und alles – zum Nachteil ihres ein paar Jahre älteren Sohnes Charlie, der immer und in jeder Hinsicht zu kurz kam. Violet nannte sie nur „Twins“ und nicht bei ihren Namen, zog sie identisch an und behandelte sie wie eine Einheit, statt als eigenständige Personen. Das kann auch für die Zwillinge selbst nicht ganz einfach gewesen sein. Weil sie gelernt hatten, gleich sein zu müssen, beobachtete der eine den anderen ständig. Alles, was der eine tat, wurde vom anderen beurteilt und kommentiert. Oft scheint der Druck so groß geworden zu sein, dass er sich in Prügeleien entlud. Die Twins schlugen sich dann entweder gegenseitig, oder sie verprügelten andere.
Mit dreieinhalb Jahren erkrankten die Zwillinge an Diphtherie. Reggie erholte sich recht schnell. Ronnie verbrachte fast drei Monate auf der Isolierstation eines Krankenhauses, wurde dann von Violet nach Hause geholt und mühsam gesund gepflegt (die Ärzte hatten ihn bald aufgegeben). Im Leben der Zwillinge war das ein einschneidendes Ereignis. Hinterher wirkten sie so unzertrennlich und so identisch wie eh und je. Aber wer sie gut kannte, bemerkte Unterschiede, die langsam deutlicher wurden. Ronnie war unbeholfener und weniger koordiniert, langsamer und schüchterner als Reggie, und er war starken Stimmungsschwankungen unterworfen; Reggie hatte eine schnellere Auffassungsgabe, war artikulierter und fand leichter Freunde. Es liegt nahe, das mit der Diphtherie in Verbindung zu bringen, die das Gehirn und das zentrale Nervensystem schädigende Neurotoxine produzieren kann. Bei Ronnie wurde viel später eine paranoide Schizophrenie festgestellt. Einer Theorie nach wird die Schizophrenie durch eine wiederholt auftretende Störung des Hormonhaushalts im Gehirn ausgelöst, wie sie von der Diphtherie verursacht werden kann. Man darf darüber spekulieren, ob alles anders verlaufen wäre, wenn Ronnie, dank anderer sozialer Herkunft, medizinisch besser versorgt worden wäre. Die Geschichte der Krays ist auch eine Geschichte des Klassensystems im Gesundheitswesen.
Als Teenager waren beide Zwillinge erfolgreiche Amateurboxer. Reggie war der begabtere, dem man eine Profikarriere zutraute. Ronnie glich die fehlende Technik und Übersicht durch Brutalität und Unerschrockenheit halbwegs aus. Ihre ersten Vergehen waren die übliche Ghettokriminalität von Jugendlichen, die nicht viel zu verlieren haben: Diebstähle, Gewalttaten, Bandenkämpfe. Außerhalb des Rings, auf der Straße, war Ronnie der Stärkere, weil er keine Rücksicht kannte. Bei Schlägereien geriet er außer Rand und Band. Das machte sogar den abgehärteten Berufsverbrechern im Viertel Angst. Reggie, der Konflikte auch anders als durch Gewalt hätte lösen können, ließ sich regelmäßig mit hineinziehen. Ronnies Vorwurf, dass er ein Feigling sei, wirkte immer. Reggie wurde dann genauso rücksichtslos wie sein Bruder. Gemeinsam entwickelten sie eine unheimliche Synergie. Der dauernde Konkurrenzkampf machte sie immer brutaler und gefürchteter. Die Krays wären interessante Studienobjekte für die Zwillingsforschung.
Mit 16 waren die Brüder die Anführer einer Jugendbande, der keine andere Gang in Bethnal Green gewachsen war. Sie kämpften mit allem, was beim Gegner großen Schaden anrichtete: mit Fahrradketten, Eisenstangen, zerbrochenen Flaschen. Ronnie hatte ein scharfes Fahrtenmesser, mit dem er anderen ins Gesicht schnitt. Solche Gesichtsverletzungen wurden sein Markenzeichen. Warum Reggie seine Boxkarriere aufgab, ist unklar. Wahrscheinlich hing es damit zusammen, dass ihm Ronnie auf diesem Weg nicht hätte folgen können; und eine Trennung war damals noch undenkbar. Seine Technik setzte Reggie jetzt im Bandenkampf ein. Im Lauf der Jahre perfektionierte er seinen „Zigarettenschlag“. Mit der linken Hand bot er jemandem eine Zigarette an. Wenn sein Gegenüber gerade dabei war, die Zigarette in den Mund zu stecken, schlug er diesem mit der Rechten gegen das Kinn. Das machte er mit solcher Wucht und Präzision, dass er den Gegnern das Kinn brach (bei geöffnetem Mund ist das leichter als bei geschlossenem).
Das Gesetz des Schweigens
1950 wurde ein Schwerverletzter in eine Klinik eingeliefert. Die Polizei fand zwei Zeugen, die Reggie und Ronnie als Täter identifizierten. Die Krays wurden angeklagt. Beim Prozess hatten die Zeugen alles vergessen. Auch das Opfer konnte sich an nichts erinnern. Es war der erste Triumph der Krays über das Rechtssystem. Der Fall zeigte ihnen, dass im East End noch immer das Gesetz des Schweigens galt (oder sich zumindest durch Gewalt und Einschüchterung durchsetzen ließ), und dass es selbst dann einen Ausweg gab, wenn man bereits im Old Bailey vor Gericht stand. Nach diesem Erlebnis agierten sie noch dreister und sorgloser als zuvor. 1953 wurden sie zu den Königlichen Füsilieren einberufen. Die meiste Zeit waren sie auf der Flucht, oder sie saßen Disziplinarstrafen ab. Das Militärgefängnis, meint der Kray-Biograph John Pearson, war ihre „Universität“, die nächste Station auf dem Weg zum Villain. 1954 wurden sie unehrenhaft aus der Armee entlassen. Inzwischen waren sie entschlossen, Berufsverbrecher zu werden. Ihre Bande organisierten sie nach „militärischen“ Gesichtspunkten. Ronnie gefiel es, wenn man ihn „Colonel“ nannte.
Als Teenager wirkte Ronnie Kray als Statist in The Magic Box (1951) mit, einem Film über William Friese-Greene, den Pionier der frühen Kinematographie. Ein Bild aus dem Film ziert eines von Rons Büchern. „Junger Schauspieler“ steht darunter, und man weiß nicht genau, ob das ironisch gemeint ist oder nicht. Den Einfluss von Film und Showbusiness auf die Karriere der Krays kann man wahrscheinlich gar nicht überschätzen. Es ist deshalb stimmig, dass ihr Aufstieg in einem alten Kino begann, dem Regal in der Eric Street, das in den 30ern zur Billardhalle umgebaut worden war. Dort gab es plötzlich Schlägereien und Sachbeschädigungen. Als der Betreiber genug hatte, war die heruntergekommene Halle günstig zu mieten. Die Krays verpassten ihr einen neuen Anstrich und machten ein profitables Unternehmen aus dem Etablissement. Auch Gangster wollen mal ausspannen und in Ruhe plaudern. Die Zwillinge garantierten, dass bei ihnen keine alten Fehden ausgetragen wurden. So entwickelte sich das Regal zum Treffpunkt der Unterwelt.
Wer von ehrbaren Bürgern Schutzgeld erpresst, muss damit rechnen, dass sie irgendwann zur Polizei gehen. Kriminelle können das nicht. Die logischen Opfer der Villains waren daher Diebe, Trickbetrüger, Betreiber illegaler Spielclubs, Zuhälter, Hersteller von Pornofilmen. Ihnen wurde eine Gewinnbeteiligung abgepresst. Im Regal erzählte man sich, wer gerade welches Ding am Laufen hatte. Die Krays hörten aufmerksam zu und forderten dann ihren Anteil. Ron gehörte zu denen, die Hitlers Mein Kampf tatsächlich gelesen haben. Das Werk sagte ihm nicht besonders zu, aber er studierte es doch mit Gewinn, weil er ihm entnahm, wie wichtig Propaganda und ein funktionierendes Spionagesystem waren. Die Krays waren meistens besser informiert als andere. Das war eine ihrer Stärken.
Mord war gut für das Geschäft, solange es bei der glaubwürdigen Drohung blieb, jemanden umzubringen. Den Argumenten eines Villain gab das mehr Durchschlagskraft. Ein echter Toter gefährdete dagegen den Profit. Eine Leiche zwang die Polizei zum Handeln, was die Geschäfte störte und zu einer Anklage oder gar einer Verurteilung führen konnte. Reg berücksichtigte das. Ron war mehr an der Gewalt an sich als am Geld interessiert und sprach immer häufiger davon, jemanden töten zu wollen. Das ging zunächst gut, weil Reg seinen Bruder im Zaum hielt oder, wenn Ron wieder einmal ausgerastet war, das tat, was er „Aufräumen“ nannte. Das konnte bedeuten, dass er Zeugen einschüchterte, Polizisten bestach, Opfern Angst machte, eine kleine Entschädigung zahlte oder sie medizinisch versorgen ließ (die Twins hatten für solche Fälle Doc Blasker, den Arzt ihres Vertrauens).
Ron Kray bewunderte Winston Churchill, Lawrence von Arabien und General Gordon, der versucht hatte, Khartum gegen die Truppen des Mahdi zu verteidigen und dabei gefallen war. In Krisenzeiten legte er seine Platten mit Churchills Kriegsreden auf. Mit Reg bewohnte er weiter das gemeinsame Zimmer in der Vallance Road. Ron sammelte alles, womit man andere schneiden konnte, vom Entermesser bis zum Schwert, und unter den Dielenbrettern hatte er diverse Schusswaffen versteckt, weshalb das Haus jetzt in Gangsterkreisen „Fort Vallance“ hieß. Die Kray-Bande war allgemein als „The Firm“ bekannt.
Wahnsinn mit Attest
Die Firma kassierte Schutzgeld von den Gebrauchtwagenhändlern im East End. Einer von ihnen hatte Streit mit einem Kunden und bat Ron um Hilfe. Tags darauf hatten sich die Streithähne beruhigt. Ron schoss dem Kunden trotzdem ins Bein. Reg räumte erfolgreich auf, was Ron in seinen Allmachtsphantasien bestärkte. Sein Ruf war mittlerweile so furchterregend, dass andere Gangs lieber das Weite suchten, als sich ihm zum Kampf zu stellen. Da Ron seine Aggressionen nicht unter Kontrolle hatte, reagierte er sich hin und wieder an Unbeteiligten ab. Terry Martin spielte im August 1956 im Pub Britannia Karten, als Ron mit einem Bajonett auf ihn losging. Er überlebte mit viel Glück. Martin sagte vor Gericht aus, obwohl Reg ihm gedroht und Geld geboten hatte. Ron wurde zu einer Haftstrafe von zwei Jahren verurteilt.
Das erste Jahr verbrachte er in Wandsworth, einem berüchtigten Gefängnis für Schwerverbrecher. Ron scheint das zugesagt zu haben. In Wandsworth traf er alte Freunde wieder, und er fand neue. Besonders gut verstand er sich mit Frank Mitchell, einem geistig zurückgebliebenen Riesen. Der enorm starke Mitchell wurde ursprünglich wegen eines gewalttätigen Raubüberfalls verurteilt. Bei einem Fluchtversuch bedrohte er ein altes Ehepaar mit einem Beil, was ihm den Beinamen „der verrückte Axtmörder“ einbrachte. Er galt als einer der gefährlichsten Kriminellen im Land. Ron versprach, sich für seine Entlassung einzusetzen, als er 1958 nach Camp Hill verlegt wurde, einem Gefängnis mit niedrigerer Sicherheitsstufe.
Im sehr streng (heute würde man sagen: sadistisch) geführten Wandsworth war Ron gut zurecht gekommen. In Camp Hill erlitt er einen Nervenzusammenbruch. Er starrte sich stundenlang im Spiegel an, weil er überzeugt war, dass er sich veränderte, hatte Weinkrämpfe oder prügelte auf Mitgefangene ein. Schließlich wurde er in die psychiatrische Abteilung des Gefängnisses von Winchester verlegt. Dort brachte ihm Reg die Nachricht, dass Tante Rose gestorben war. „Battling Rose“ war, wie Ron, auf jeden losgegangen, der sie ärgerte, ohne Rücksicht auf Verluste, und sie war seine Lieblingstante. Ron reagierte so wie der Gangster Cody Jarrett (James Cagney) in White Heat auf den Tod seiner Mutter: mit einem Amoklauf. Als die Wärter es geschafft hatten, ihn in eine Zwangsjacke zu stecken, wurde er für verrückt erklärt und in das Long Grove Hospital bei Epsom verlegt. Long Grove ist eines einer ganzen Reihe von ziemlich gruseligen, identisch gebauten Irrenhäusern, die um 1900 rings um London errichtet wurden, um die wachsende Zahl von Geisteskranken aufzunehmen. Wer für verrückt erklärt wurde und aus den Slums von Bethnal Green, Whitechapel und Hackney stammte, landete in Long Grove. Daran hatte sich gar nichts geändert. „Ein einfacher Mann von geringer Intelligenz, mit geringem Bezug zur Außenwelt“, schrieb der behandelnde Arzt in Rons Akte. Genauere Untersuchungen hielt er für überflüssig.
Gangster-Chic
Während Ron in verschiedenen Anstalten einsaß, gründete Reg, unterstützt von seinem älteren Bruder Charlie, sein erstes legales Unternehmen: einen Club, den er Double R nannte (für Ron und Reg). Der Zeitpunkt war günstig, denn das East End kam gerade groß in Mode. Wer in sein wollte, verabredete sich beim Chinesen in Limehouse oder in Pubs wie dem Prospect of Whitby. Joan Littlewood eröffnete ihr experimentelles Theater, das Theatre Royal, und der Photograph Tony Armstrong-Jones, der spätere Lord Snowdon, kaufte sich eine Wohnung mit Blick auf die Isle of Dogs, in der er sich heimlich mit seiner zukünftigen Frau traf, Prinzessin Margaret. An Filmen wie Carol Reeds Rührstück A Kid for Two Farthings (mit Diana Dors, der Cockney-Antwort auf Marilyn Monroe) kann man sehen, dass die Sentimentalisierung des East End begonnen hatte.
In den Double R Club strömten die Westlondoner, weil sie wussten, dass sie bei Reg ihren Whisky mit schweren Jungs trinken konnten, ohne Angst haben zu müssen. Zu seinen Gästen gehörten die Schlagersängerin Lita Rose, die Autorin Jackie Collins, Diana Dors und die Soubrette Barbara Windsor, ein anderes Starlet aus dem East End. Sogar Edmund Purdom schaute vorbei, der Star der TV-Serie Sword of Freedom (Robin Hood nach Italien verlegt). Im East End galt diese Westentaschenausgabe von Errol Flynn aus unerklärlichen Gründen als Inbegriff der Eleganz. Regs Stilikonen waren der frühe Humphrey Bogart und George Raft. Er ließ sich ein paar von jenen dunkelblauen Zweireihern schneidern, wie sie George Raft in den Gangsterfilmen trug. Seine Gäste fanden das sehr sexy.
In Long Grove wusste man nicht genau, woran Ron litt, aber man fand eine Kur, auf die er ansprach. Stematol war ein Sedativum, das die Symptome einer Geisteskrankheit abmilderte, ohne den Patienten völlig ruhigzustellen. Mit Stematol wurde Rons Zustand so weit stabilisiert, dass er von der geschlossenen in die offene Abteilung verlegt werden konnte. Aber da er offiziell für verrückt erklärt worden war, fürchtete er, nun endlos festgehalten zu werden wie sein Freund Frank Mitchell. Von Violet zum Eingreifen gedrängt, entwickelte Reg einen Plan. Er fußte darauf, dass Ron eine „Nervensache“ gehabt hatte, jedoch keineswegs verrückt war. Das war die Ansicht der Familie, von der Violet bis an ihr Lebensende nicht abrückte. Ron sollte daher befreit werden, sich von einem Psychiater die geistige Gesundheit bestätigen lassen und sich mit diesem Gutachten im Gefängnis melden, um den Rest seiner Strafe abzusitzen.
Die Befreiungsaktion lief ab wie im Film. Ron bekam Besuch von der Familie. Unter seinem Mantel trug Reg den gleichen Anzug wie sein Zwillingsbruder. Ron zog den Mantel an und verließ als Reg das Krankenhaus. Reg spielte den Unschuldigen, wies seine Identität nach und durfte gehen. Das Problem war nur, dass Ron tatsächlich geisteskrank war und bald wieder unter den Angstzuständen litt, in denen er alle seine Feinde umbringen wollte. Zum Glück gab es Doc Blasker, der auf dunklen Kanälen genug Stematol besorgte, um ihn so zu stabilisieren, dass ein bekannter Psychiater nichts Auffälliges bemerkte. Mit dem so erworbenen Gutachten meldete Ron sich im Gefängnis zurück. Alles klappte wie geplant. Aber daraus ergab sich ein neues Problem. Keiner der Gefängnisärzte hielt es für angebracht, in Long Grove Erkundigungen einzuziehen. Da Ron als geistig gesund eingestuft worden war, hatte er keinen Anspruch auf die übliche Medikation. Als er nach sechs Monaten entlassen wurde, litt er unter solchen Angstzuständen, dass Blasker gleich wieder gut zu tun hatte.
Der Doc versorgte seinen paranoid-schizophrenen Privatpatienten jahrelang mit Stematol, um zu verhindern, dass er sich selbst oder andere Leute umbrachte (Ron Kray führte eine Feindesliste wie Richard Nixon). In der Hoffnung auf Heilung konsultierte Ron Dutzende von Psychiatern. Keiner konnte ihm helfen. Um zu vergessen, betrank er sich. Verbunden mit großen Mengen von Alkohol, ist der Effekt von Stematol schwer kalkulierbar. Die Droge greift das zentrale Nervensystem an. Als Ron in Long Grove saß, glichen sich die Zwillinge so sehr, dass man den einen mit dem anderen verwechseln konnte. Jetzt begann Ron, sich körperlich zu verändern. Er wurde bulliger, bekam einen Stiernacken, seine Gesichtszüge wurden gröber, das Kinn breiter.
Attila, der Hunnenkönig
Reg hatte Kontakte zu anderen Gangstern geknüpft, um das Kray-Imperium Stück für Stück ins West End mit seinen lukrativen Vergnügungsetablissements auszudehnen. Ron ging das zu langsam. Er konsultierte regelmäßig eine Hellseherin. Von ihr hatte er erfahren, dass er die Reinkarnation von Attila dem Hunnenkönig und zu Großem bestimmt sei. Also führte er seine Truppen in die Schlacht. Reg, inzwischen auch ein starker Trinker, machte wie immer mit. 1959 erlebte das West End einige brutale Bandenkämpfe. Regs Partner verstanden sich als Geschäftsleute, wollten keinen Ärger mit der Polizei und brachen den Kontakt ab. Ron machte so in ein paar Monaten kaputt, was sein Bruder über Jahre aufgebaut hatte.
Ron hatte einige vermögende Freunde, die mit ihm angaben und ihm dafür Geld liehen, das er nie zurückzahlte. Der Autohändler Daniel Shay war ein mehrfach vorbestrafter Betrüger, aber kein Gangster. Durch den häufigen Umgang mit den Krays scheint er das vergessen zu haben. Ron bezog Schutzgeld von mehreren Ladenbesitzern. Shay wollte das auch. Sein erster, äußerst stümperhaft vorgetragener Coup sollte ihm eine Aktentasche und 100 Pfund einbringen. Als er kassieren wollte, wartete die Polizei auf ihn. Reg war als Verstärkung mitgekommen. Er wurde zu 18 Monaten verurteilt. Ron leitete die Firma in der Zeit allein und vergrößerte sein Waffenarsenal.
1961 wurde in Großbritannien das Glücksspiel legalisiert. Durch das Gesetz sollten die Gangster von den Spielclubs ferngehalten werden. Das Gegenteil trat ein. Wer schon einen Spielclub betrieb, führte ihn nun legal weiter. Die Unterwelt hatte durch ihr Knowhow einen großen Wettbewerbsvorteil. Und wer als Nicht-Krimineller einen neuen Club eröffnete, erhielt Besuch von einigen Herren, die ihre „Hilfe“ anboten. Einen der erfolgreichsten dieser Clubs betrieben bald die Krays. Das hatten sie vermutlich der Tatsache zu verdanken, dass Ron, während Reg in Wandsworth saß, Peter Rachman als Klienten der Firma gewann.
Der englischen Sprache hat Rachman ein hässliches Wort beschert. Das Concise Oxford Dictionary definiert den Begriff „Rachmanism“ als „Ausbeutung von Slumbewohnern durch skrupellose Vermieter“. Rachman gebot über ein Immobilienimperium, das vorzugsweise aus Slumwohnungen bestand. Seine Wuchermieten wurden von einem Schlägertrupp eingetrieben. Ron wollte einen Anteil. Er lud Rachman nach Fort Vallance ein, stellte ihm seine Mutter vor und zog sich dann mit ihm in das kleine Wohnzimmer im ersten Stock zurück, in dem er gern – bei einer Tasse Tee – das Geschäftliche besprach. Nach anfänglichem Widerstand scheint Rachman beschlossen zu haben, regelmäßigen Forderungen zu entgehen, indem er eine Art Einmalzahlung leistete.
Im vornehmen Teil Londons, vom Luxuskaufhaus Harrod’s ein Stück die Straße hinunter, gab es den Spielclub Esmeralda’s Barn. Rachman half bei der Übernahme. Die Verhandlungen führte Rons neuer Ratgeber Leslie Payne, Beiname „The Brain“. Der gebildete und kultivierte Payne hatte eine Frau, zwei Kinder, ein Haus in der Vorstadt und war mit einem komplizierten Firmengeflecht in die Insolvenz geschliddert. Mit Hilfe der Krays löste er seine finanziellen Probleme. Der „Mann mit der Aktentasche“ machte seine Partner mit gewinnbringenden Geschäftsmodellen wie dem der long-firm vertraut. Eine long-firm ist eine Firma, die ein Lagerhaus mietet, Waren bestellt und pünktlich bezahlt. Wenn das Vertrauen der Lieferanten gewonnen ist, wird in großem Stil bestellt, bis das Lagerhaus voll ist. Dann wird alles an einem Tag und zu einem Drittel des Marktpreises verkauft, die Firma verschwindet und die Lieferanten bleiben auf ihren Forderungen sitzen. Payne zufolge verdienten die Krays allein 1962 mehr als 100 000 Pfund mit solchen long-firms.
Ronnie, Reggie und die Schickeria
Payne kannte den sechsten Earl of Effingham. Der Earl war ein direkter Nachkomme des Mannes, der beim Sieg über die spanische Armada die englische Flotte kommandiert hatte. Außerdem war er ein Spieler, ein Trinker und bankrott. Er lebte von den 13 Pfund, die an täglichem Sitzungsgeld ausbezahlt wurden, wenn das House of Lords tagte. Nur zu gern ging er auf den Vorschlag ein, als einer von drei Direktoren des Spielclubs zu fungieren; dafür bekam er jede Woche zehn Pfund. Auf dem Briefpapier von Esmeralda’s Barn stand sein Name neben dem seiner Direktorenkollegen, den Herren Ronald und Reginald Kray. Der Club hatte bestens geschultes Personal, einen Earl auf dem Briefkopf und zwei Gangster-Geschäftsleute zum Begrüßen der Gäste. Esmeralda’s Barn war eine der angesagtesten Adressen der Stadt. Jeder der Zwillinge erhielt einen jährlichen Gewinnanteil von etwa 40 000 Pfund. Ganz legal und ohne Risiko.
Teile der sentimentalen Cockney-Komödie Sparrows Can’t Sing wurden im Double R Club gedreht. Im März 1962 war große Premiere im East End. Die Snowdons, Prinzessin Margaret und ihr Gatte, fuhren im Rolls vor. Nach der Premiere feierten die Schauspieler und die High Society im Kentucky, dem neuesten Club der Krays. Die Zwillinge unterstützen wohltätige Organisationen, und zufällig war immer auch ein Pressephotograph dabei, wenn die „bekannten Geschäftsleute“ den Scheck überreichten. Später, auf dem Sterbebett, erzählte Reg von Billy Hill, der sein „Mentor“ gewesen sei. Hill war einer der führenden Londoner Villains der Nachkriegszeit und ging als reicher Mann in Rente. In Spanien genoss er das Luxusleben eines Gangsters im Ruhestand, gab Interviews und posierte bereitwillig für britische Zeitungen, mit Zigarre und in teuren Anzügen (nachgestellt wurden PR-Photos von Edward G. Robinson). Seine Auftritte an der „Costa del Crime“ inspirierten eine Reihe von britischen Kriminalfilmen; die besten sind The Hit von Stephen Frears (mit Musik von Eric Clapton, der in Esmeralda’s Barn einige seiner ersten Auftritte hatte) und Sexy Beast von Jonathan Glazer.
Doppelleben und Schwulenouting
So etwas strebte auch Reg an. Zu seiner Vorstellung vom Glück gehörten außerdem eine Frau und Kinder. Das war natürlich ein Problem, denn die Kray-Zwillinge waren schwul. Reg litt darunter und führte ein Doppelleben. Dadurch kam Frances Shea ins Spiel. Frances wohnte in der Ormsby Street, gleich um die Ecke von der Vallance Road. Sie galt als die Schönste im Viertel, und als „Reggies Mädchen“. Zu beneiden war sie darum nicht. Kein anderer Mann traute sich, mit ihr auszugehen. Wenn Reg mit Männern schlief, meistens mit sehr jungen Männern, bekam er früher oder später Schuldgefühle und beschloss, sich zu bessern. In diesen Hetero-Phasen präsentierte er Frances als seine Freundin, führte sie groß aus und überhäufte sie mit Geschenken. Aber das hielt nie lang vor.
Ron war selbstbewusster als sein Bruder und stand zu seiner sexuellen Orientierung. Anfangs war er für seine Verhältnisse noch diskret, schon um seiner Mutter Violet keinen Kummer zu machen. Dann sah er keinen Grund mehr, etwas zu verbergen. Im Gegenteil. Schließlich hatten die Swinging Sixties angefangen, die nicht nur aus der Carnaby Street bestanden, sondern auch daraus, dass man in eine fremde, ebenso faszinierende wie gefährliche Welt eintauchte. Von heute aus gesehen hat man den Eindruck, dass der Gangster Ronnie Kray genau der Mann war, auf den die Schickeria von Chelsea gewartet hatte. Aber die Schickeria musste ihn erst kennenlernen. Dabei half David Litvinoff.
Litvinoff, der Sohn eines russischen Schneiders in Bethnal Green, war ein begnadeter Geschichtenerzähler und so etwas wie der Hofnarr der Reichen und der Schönen. Und er war spielsüchtig, hatte Schulden bei den Krays. Ron erließ sie ihm und übernahm dafür sein Apartment im vornehmen Kensington, das er zusammen mit seinem aktuellen Liebhaber bezog. Litvinoff blieb auch dort wohnen und wurde eine Art PR-Mann der Krays, die er seinen Freunden vorstellte. Einer dieser Freunde war der Maler Francis Bacon, der erzählte, Ron habe das furchterregendste Gesicht, das er je gesehen habe. Ein anderer war Christopher Gibbs. Der Ästhet Gibbs hatte einen Antiquitätenladen in Chelsea und richtete Rockstars, Adeligen und Neureichen die Wohnung ein. Er kannte viele Leute, die auch gern einmal echte Villains treffen wollten. Litvinoff entwickelte eine Kray-Obsession und erzählte auf jeder Party von ihnen. So waren die Zwillinge auch denen ein Begriff, die ihnen nie begegnet waren. Heute kann niemand mehr genau sagen, ob die Geschichten von mit einer Machete abgeschlagenen Fingern, abgeschossenen Testikeln und abgeschnittenen Nasen wahr sind oder nicht. Wichtig war, dass man sie den Krays zutraute.
Ein Türöffner war auch Rons offen ausgelebte Homosexualität. Sie verschaffte ihm Zugang zu einem Zirkel schwuler oder bisexueller Stützen der Gesellschaft, für die er Sexpartys und Filmvorführungen organisierte. Einer seiner neuen Freunde war der Labour-Abgeordnete Tom Driberg, von dem später die Nachrufschreiber sagten, er sei der unwürdigste Parlamentarier aller Zeiten gewesen. Driberg stellte den Kontakt zum konservativen Politiker Lord Boothby her, dem früheren Privatsekretär von Winston Churchill. Boothby trat regelmäßig im Fernsehen und im Radio auf, um zu aktuellen Fragen Stellung zu nehmen. Im Kreis seiner Freunde teilte er mit, dass er nicht genau wisse, wen er lieber mochte: Frauen oder Jungen. Ron half ihm dabei, das herauszufinden.
Figuren wie Driberg und Boothby wurden durch den intimen Umgang mit den Krays erpressbar, was sie offenbar nicht kümmerte (oder erst dann, als ihnen die Krays kompromittierende Briefe und Photos vorlegten). Es war chic, sich mit Gangstern zu zeigen. Vielleicht wird irgendwann jemand ein Photobuch mit den vielen Bildern veröffentlichen, auf denen die Krays oder die Richardsons mit Adeligen, Wirtschaftsführern oder Stars wie Frank Sinatra, Judy Garland und Stanley Baker zu sehen sind. Es wäre ein spannender Beitrag zur Sozialgeschichte. Sogar George Raft, die Stilikone der Krays, kam nach London, ließ sich von den Zwillingen die Sehenswürdigkeiten zeigen und revanchierte sich mit Weisheiten wie der, dass man länger jung bleibt, wenn man abends unter Leute geht, statt vor dem Fernseher zu sitzen. Man kann das alles in den autobiographischen Werken der Brüder nachlesen. Rafts Sentenzen werden präsentiert, als stammten sie von Konfuzius.
Der Lord und der Gangster
Am 12. Juli 1964 brachte der Sunday Mirror auf Seite 1 einen Artikel mit der Überschrift „DER ADELIGE UND DER GANGSTER“. Berichtet wurde, dass Scotland Yard demnächst Verhaftungen in einem Fall vornehmen werde, in dem es auch um die Beziehung eines allseits bekannten Adeligen zu „einem homosexuellen Schläger an der Spitze der Londoner Unterwelt“ gehe. Namen wurden zunächst nur in Deutschland genannt (im Stern vom 22. Juli), aber es war kein großes Geheimnis, wer gemeint war: Lord Boothby und Ron Kray. Tatsächlich wurde ermittelt. Doch Sir Joseph Simpson, der Polizeichef, ließ dementieren.
Was folgte, war eine Vertuschungsaktion, an der sowohl die Regierung als auch die Opposition beteiligt waren (darüber muss man nicht mehr spekulieren, weil entsprechende Unterlagen seit dem Ablauf der 30-jährigen Sperrfrist im Public Records Office einzusehen sind). Im Jahr davor war der konservative Premierminister Macmillan wegen der Profumo-Affäre zurückgetreten. Christine Keeler, eine Hauptfigur der Affäre, war die Geliebte von Rachman gewesen, dem Geschäftsfreund der Krays. Schon wieder ein Sexskandal hätte das äußerst ramponierte Image des Landes weiter beschädigt. Neue Enthüllungen hätten die Regierung von Macmillans Nachfolger Sir Alec Douglas-Home zu Fall bringen können. Für die Konservative Partei war die Sache deshalb so brisant, weil Lord Boothby eines ihrer Aushängeschilder war. Außerdem war er der langjährige Liebhaber von Lady Dorothy. Das war die Gattin Macmillans, dem er seinen Adelstitel verdankte.
Eigentlich, möchte man meinen, war das Ganze ein gefundenes Fressen für die Opposition. Aber Harold Wilson, der Chef der Labour Party, hatte schon bei der Profumo-Affäre sehr zögerlich agiert, weil er mit solchem Schweinkram nichts zu tun haben wollte. Wilson hatte beste Chancen, die anstehenden Wahlen auch so zu gewinnen und wollte sich hinterher nicht nachsagen lassen, er sei wegen eines Sexskandals Premierminister geworden. Das war der ehrenhafte Teil der Überlegungen. Den Ausschlag gab aber wohl, dass in den Polizeiakten von Treffen Boothbys mit Londoner Gangstern und Tom Driberg die Rede war. Der schwule, in mehrere Korruptionsaffären verwickelte Driberg (später Lord Driberg) war Labour-Abgeordneter. Das hätte auch die Opposition in Turbulenzen bringen können.
So kam es, dass sich plötzlich prominente Mitglieder der Labour Party für den konservativen Lord Boothby stark machten. Auch anwaltlich vertreten wurde er von zwei prominenten Labour-Juristen: Arnold Goodman (später Lord Goodman) war der Lieblingsanwalt von Harold Wilson; Gerald Gardiner (später Lord Gardiner) wurde im Jahr darauf von Wilson in sein Kabinett berufen. Auf ihr Anraten ging Boothby in die Offensive. Er schrieb einen Brief an die Times, der am 2. August veröffentlicht wurde. Darin erklärte er sich zum unschuldigen Opfer einer Schmutzkampagne. Boothbys Erklärung war zwar von A bis Z erlogen, aber ohne die Mithilfe von Sir Joseph Simpsons Polizei konnte der Mirror das nicht beweisen. Vorteilhaft war auch, dass der Chefredakteur und der Aufsichtsratsvorsitzende der Mirror-Gruppe die Labour Party unterstützten und (zu Recht) hofften, nach deren Wahlsieg für ihre Verdienste um das Allgemeinwohl geadelt zu werden. Das half nun einem Konservativen. Der Mirror einigte sich außergerichtlich mit „Mr. Fixit“ Goodman, widerrief alle seine Behauptungen, entschuldigte sich bei Boothby und zahlte ihm ein Schmerzensgeld von 40 000 Pfund (plus Anwaltskosten). Heute wäre das weit mehr als eine halbe Million.
Ein Photo vom schwulen Schläger
Lord Voldemort, der Bösewicht bei Harry Potter, ist so gefürchtet, dass Hexen und Zauberer meistens nur als „You-Know-Who“ oder als „He-Who-Must-Not-Be-Named“ von ihm sprechen. J.K. Rowling sagt in einem Interview, der Einfall gehe auf die Krays zurück, deren Namen auch tabu gewesen sei. Das ist ein Mythos. Die Krays wollten nicht die anonymen Herrscher der Unterwelt sein. Ihr Ziel war es, jemand zu sein („to be somebody“). Als sich der Mirror in großen Lettern bei LORD BOOTHBY entschuldigte, bei Ron aber nur indirekt und ohne Namensnennung, war das ärgerlich. Also musste etwas unternommen werden.
Ein Photograph hatte dem Mirror eine Reihe von Bildern verkauft, die Boothby zusammen mit Ron Kray zeigten. Ein paar Tage später hatte der Mann eine Einstweilige Verfügung erwirkt, die der Zeitung die Veröffentlichung untersagte. Der Mirror hatte daraufhin (16. Juli) von einem Photo berichtet, das er nicht zu drucken wage; das Bild zeige „ein bekanntes Mitglied des House of Lords, auf einem Sofa sitzend mit einem Gangster, der den größten Ring von Schutzgelderpressern leitet, den London je gesehen hat“. Ron suchte jetzt das Bild von sich und Boothby aus, das er am schmeichelhaftesten fand und ließ es für 100 Pfund an ein Konkurrenzblatt verkaufen. Der Daily Express brachte das Photo am 6. August auf Seite 1. Damit war ein für allemal klargestellt, wer mit „homosexueller Schläger“ gemeint war.
Die an der Vertuschung Beteiligten würden sich wahrscheinlich auf die Staatsraison herausreden. Mag sein, dass das Ansehen Großbritanniens in der Welt geschützt werden musste. Das ging aber auf Kosten der künftigen Kray-Opfer. Die Kriminalreporter des Mirror hatten gerade mit einer Artikelserie über die Londoner Unterwelt begonnen, in der es auch um bestochene Beamte gehen sollte (die Simpson-Ära gilt als besonders korrupt). Die Serie wurde nun eingestellt. Die Botschaft erreichte auch die anderen Zeitungen. Boothby hatte 40 000 Pfund bekommen, obwohl in jeder Redaktion bekannt war, dass er gelogen hatte. Daraus zog man den Schluss, dass er Protektion von ganz oben habe – eine Protektion, der sich offenbar auch die Krays erfreuten. Von ihnen ließ man besser die Finger. So ähnlich sah man es bei Scotland Yard. Auch Polizisten wollen Karriere machen. Nachdem der Polizeichef behauptet hatte, es sei nie gegen die Firma ermittelt worden, galten solche Ermittlungen als nicht besonders förderlich für die Karriere. Die Krays hielten sich nun für „unberührbar“. Sie hatten damit nicht ganz unrecht.
Im Januar 1965 demolierte die Firma den Nachtclub von Hew McCowan, der die Krays daraufhin wegen Schutzgelderpressung anzeigte. Der Fall kam zur Anklage, als McCowan seine Anzeige wider Erwarten aufrechterhielt. Die Zwillinge engagierten zwei der teuersten Strafverteidiger und besorgten sich zur Sicherheit Namen und Adressen der Geschworenen. Mindestens ein Juror wurde kontaktiert, und ein Juror bekannte auf unschuldig. Ohne einstimmiges Urteil musste neu verhandelt werden (der Fall trug dazu bei, dass später das Gesetz geändert wurde). Bis zum zweiten Prozess hatten die Krays Unschönes über McCowans Vergangenheit herausgefunden. Nachdem die Glaubwürdigkeit des wichtigsten Zeugen zerstört war, wurden die Zwillinge freigesprochen. Die BBC lud sie ins Fernsehstudio und gab ihnen Gelegenheit, sich über ein Polizeikomplott zu beklagen. In den nächsten drei Jahren konnten sie fast nach Belieben Schalten und Walten, ohne von Scotland Yard groß belästigt zu werden.
Der Al Capone von London
Ronnie Kray wollte kein Frühstücksdirektor sein, sondern ein richtiger Gangster, der sein Geld durch harte (und für die Betroffenen sehr schmerzhafte) Arbeit verdient. Leslie Payne wurde er immer unheimlicher. „The Brain“ begann, seine Geschäftsverbindungen mit den Krays zu lösen. Rons neuer Berater in allen Lebensfragen wurde Alan Cooper, der Chef der privaten Europan Exchange Bank. Mit seiner Hilfe machten die Krays gestohlene Wertpapiere aus den USA zu Geld, im Auftrag der Mafia. Die Mafia streckte auch deshalb die Fühler nach London aus, weil dort nun das Glücksspiel legalisiert war. Geplant waren Pauschalreisen für reiche US-Kunden, auf denen auch alle sexuellen Wünsche befriedigt wurden. Die Krays sollten sich darum kümmern, dass man ein Rundumsorglos-Paket buchen konnte und weder von der Polizei noch von örtlichen Kriminellen belästigt wurde.
Ron träumte davon, der Al Capone von London zu werden (wie Reg hatte auch er sich ein paar jener dunkelblauen Zweireiher anfertigen lassen, die George Raft in seinen Gangsterfilmen trägt). Wie weit die Zusammenarbeit mit der Mafia 1968 tatsächlich gediehen war, wurde nie richtig aufgeklärt. Der beste Film zum Thema ist John Mackenzies The Long Good Friday (1979), mit Eddie Constantine als nur am Geschäft interessiertem Mafioso und Bob Hoskins als von den Krays inspiriertem Gangsterboss, der daran scheitert, dass er Probleme weiter so lösen will wie früher im East End. Als der Film angelaufen war, bekam Hoskins Post aus Broadmoor, einer geschlossenen Klinik für geisteskranke Straftäter. Ron Kray lobte ihn für die gelungene Darstellung. Damit beginnt nun endgültig der Teil dieser ziemlich verrückten Geschichte, den man nur erzählen kann, weil er sich wirklich so abgespielt hat. Wäre die Geschichte erfunden, müsste man sich sagen lassen, dass sie unglaubwürdig ist und man sich etwas Besseres ausdenken soll.
Teil 2: Mörder und Götter