Können Spiele Kunst sein?
Während die Gräben zur anerkannten Kunst tief bleiben, versuchen "Arthouse Games" das junge Medium Computerspiel künstlerisch zu erweitern.
„The Graveyard“, „Passage“ und die Diskussion um „Games as Art“ dokumentieren die Schritte eines Mediums in neue Diskursregionen.
Sind Spiele Kunst? Obwohl sich erst letztes Jahr der Deutsche Kulturrat für die Anerkennung guter Computerspiele als Kulturgut ausgesprochen hat, herrscht bei dieser Frage auf allen Seiten weitgehende Einigkeit: Es sei noch nicht so weit, aber das Medium sei ja noch jung. Die Diskussion, ob Spiele überhaupt jemals in die heiligen Hallen „echter“ Kunst aufsteigen können, entzündete sich aber aktuell an einer Filmbesprechung: Roger Ebert, gefeierter Filmkritiker der Chicago Sun-Times und Pulitzer-Preis-Träger, hatte in seiner Filmkritik zur Spieleverfilmung „The Hitman“ kühn postuliert, Spiele würden „niemals“ zur eigenen Kunstform aufsteigen. Diese provokante Einschätzung rief entrüstete und emotionale Reaktionen hervor, unter anderem antworteten Industrie-Insider wie Jim Preston oder E. Daniel Arey, aber auch N’Gai Croal, gefeierter Spielkulturexperte bei Newsweek, mit langen, ausführlichen Retouren auf die kränkende Kritik aus der etablierten Hochkultur. Ohne hier näher auf die Argumentationen, Emotionalitäten und Grenzziehungen der ausufernden Debatte einzugehen, seien stattdessen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, einige Spiele genannt, die handfest auf die mögliche Zukunft des neuen Mediums auch als Kunst verweisen.
Memento mori in 3D
The Graveyard ist ein Spiel, das sich nur durch Oberflächlichkeiten als solches zu erkennen gibt: Ja, man hat als Spieler die Kontrolle über eine Figur, und ja, man kann mit dieser Figur eine Welt in 3D durchwandern. Hier enden aber die Gemeinsamkeiten mit dem, was gemeinhin als Spiel definiert wird - und die unendlichen, tückischen Weiten der Welt der Kunst und der Interpretation eröffnen sich.
Die belgische Softwareschmiede Tale of Tales, bislang vor allem durch ihr meditatives Projekt The Endless Forest bekannt, das eine Mischung aus Screensaver und Massively Multiplayer Online-Umgebung darstellt, beschäftigt sich mit ihrem neuen „very short game“ mit nichts weniger als dem Tod. In der Gestalt einer alten Frau am Stock humpelt man mühsam und gemächlich auf einem einzigen, geradlinigen Pfad durch einen wunderschönen schwarz-weißen Friedhof, auf eine Kapelle zu; die stimmungsvolle, etwas morbide Grafik wird dabei von vielfältigen Ambientsounds unterlegt. Schon in den ersten Minuten wird klar: Hier geht es nicht ums in anderen Spielen obligatorische Kämpfen oder Erforschen, vielmehr verkörpert man ein auf den ersten Blick beschränktes Leben: Das Gehen ist mühsam, nach wenigen Schritten beginnt die alte Frau, schmerzhaft zu humpeln, sodass man freiwillig Verschnaufpausen einlegt - ein seltener Akt der Empathie mit seinem digitalen Alter Ego.
Nach einigen Minuten erreicht man eine Bank an der Rückwand einer Kapelle, und die Ruhepause kommt zur rechten Zeit. Langsam beginnt ein trauriges Lied, der flämische Text mit englischen Untertiteln erzählt von den Toten, die hier besucht werden, während eine Großaufnahme des Gesichts der alten Frau, zusammengeschnitten mit dem wandernden Blick über die endlosen Grabreihen, den Spieler zum tatenlosen Zuhörer und Zuseher werden lässt. Das Lied endet, und dem Spieler bleibt nichts zu tun, außer den Friedhof auf demselben Weg wieder zu verlassen. Zehn Minuten, in denen nichts geschieht und in denen der Spieler mit seinen Assoziationen und Gedanken zum Gebotenen allein gelassen wird.
Ein provokatives Verkaufsmodell setzt dem digitalen Memento mori noch eins drauf: Das Spiel, von Tale of Tales selbst als „explorable painting“ beschrieben, ist in zwei Varianten erhältlich: Als Gratisdownload oder als 5$ teure „Vollversion“, die um einen einzigen Aspekt erweitert ist: den Tod der Hauptfigur. In der Bezahlversion kann jederzeit, bei jedem Start des Spiels, ein plötzlicher Tod das Leben der Hauptfigur beenden - ein seltsames, kalkuliert verstörendes Element in der sonst so bunten und oft infantil unsterblichen Welt der Spielkultur. Auch das nächste Projekt der Belgier klingt vielversprechend: The Path soll mehr spielerische Elemente enthalten, aber dafür eine innovative Variante des Ingame-Storytelling vorstellen – man darf gespannt sein.
Melancholie in Retro
Jason Rohrers kleine, an die längst vergangene 8-Bit-Ära erinnernde Freeware-Minispiele verwischen ebenfalls die ansonsten klar definierten Grenzen zwischen Spiel und Kunst. Passage, sein meistbeachtetes Spiel, symbolisiert in minimalistischer Darstellung nichts weniger als ein komplettes Leben: Vom linken Rand des Bildschirms durchschreitet der namenlose Protagonist ein nur im schmalen Balken dargestelltes Labyrinth, um am rechten Rand auch am Ende seines Lebens anzukommen: Unweigerliches „Game over“ nach wenigen Minuten, ein Grabstein ohne Extraleben beendet die Passage vom Leben zum Tod.
Auf dem Weg dorthin können Punkte gesammelt werden, ganz zu Beginn kann aber auch eine Gefährtin mit auf den Lebensweg genommen werden: Das erschwert zwar das Erforschen der verwinkelten Gänge, allerdings werden alle Punkte verdoppelt. Dieser einfache spielmechanische Kniff zwingt den Spieler unweigerlich zum Abwägen seiner Prioritäten. „Passage“ berührt den Spieler durch seinen melancholischen Fatalismus; die simple Gestaltung, die Unausweichlichkeit des Endes und die lakonische Präsentation lassen die emotionale Reaktion des Spielers in den Vordergrund treten. Diese Ansätze ließen Rohrers kleines Spiel, Monate vor „The Graveyard“, zu einem kleinen Internetphänomen in der Games-Community werden – der Tod, ansonsten hundertfacher, aber bedeutungsloser Begleiter im virtuellen Spielerleben, entfaltet in diesem Zusammenhang auch bei „Passage“ eine starke emotionale Bedeutsamkeit, die weit über das in Spielen Übliche hinausgeht.
Ähnliches versuchte auch Rohrers nächstes Spiel „Gravity“, in dem wieder Abhängigkeitsverhältnisse in Korrelation zum Erreichen anderer Ziele thematisiert werden, und auch The Marriage, ein abstraktes Spielexperiment von Rod Humble (der ironischerweise im Broterwerb beim Spieleriesen EA tätig ist), reiht sich in die prominenten Vertreter der jungen Arthouse Games-Szene ein. In diesem simplen interaktiven Stück ohne vorab definierte Regeln werden auf abstrakte spielerische Art und Weise Wechselwirkungen in Paarbeziehungen erforscht – zumindest ist der Spieler durch den Titel dazu angehalten, das Gezeigte dahingehend zu interpretieren. Ein Veteran des Genres sei noch erwähnt, der sich weit weniger abstrakt mit dem Problemfeld „Paarbeziehung“ beschäftigt: Facade, ein „one-act interactive drama“, in dem sich durch Interaktion mit den beiden Hauptfiguren überraschende Wendungen und dunkle Geheimnisse in deren Beziehungsleben entdecken lassen.
Bezeichnenderweise sind es auch hier stets unabhängige Programmierer aus der überaus aktiven Indiegames-Szene, die ohne großen Personal- und Entwicklungsaufwand mit dem Medium experimentieren und frischen Wind in eine Produktlandschaft bringen, die, von Millionenetats und Käufermaximierung hypnotisiert, fast nur mehr Fortsetzungen und Hochglanzaufgüsse des Ewiggleichen produziert. Vom oft prognostizierten Tod des PC als Gaming-Plattform und von Stagnation kann in dieser Hinsicht keine Rede sein. Wie weit die neue Richtung der Arthouse Games ins öffentliche Bewusstsein der Spieler und Medien rückt, wird aber sicher auch von einer Beibehaltung der grundlegendsten Charakteristika des Spielens an sich abhängig sein: Schlussendlich sollen Spiele auf irgendeine Art und Weise Spaß machen, indem sie „eine Reihe interessanter Entscheidungen“ anbieten, wie Sid Meiers griffige Definition postuliert. Somit stellt sich statt der eigentlich arroganten Frage, ob Spiele überhaupt jemals Kunst werden können, eine andere – wie weit Spiele, die als Kunst akzeptiert und wahrgenommen werden, noch Spiele sein können.