Kollektivhaft für ein ganzes Volk

Israelische Menschenrechtsorganisation übt schonungslose Kritik an den Zuständen in den Palästinensergebieten - aber auch im israelischen Kernland

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Etwas ist faul im Staate Israel. Das jedenfalls legt der Jahresbericht zum Zustand der Menschenrechte in Israel nahe, den die "Vereinigung für Bürgerrechte in Israel" (ACRI) seit Donnerstag auf ihrer Internetseite präsentiert. Dass es mit den Menschenrechten in Israel nicht zum Besten bestellt ist, ist zwar keine neue Erkenntnis; neu ist jedoch, dass eine israelische NGO die Zustände derart offen und schonungslos anprangert.

Der 26-seitige Bericht der unabhängigen Menschenrechtsgruppe, die 1972 gegründet wurde, kritisiert dabei nicht nur die katastrophale Menschenrechtslage in den besetzten Palästinensergebieten, sondern zeichnet auch ein düsteres Bild der Lage im israelischen Kernland:

55 Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung haben wir immer noch keine Freiheit, keine Gerechtigkeit und keinen Frieden, keine Gleichheit von sozialen und politischen Rechten, keine Religions- oder Bekenntnisfreiheit und ganz gewiss keine Loyalität gegenüber den Prinzipien der UN-Charta.

Erschreckend sind die Fakten, die ACRI zur Situation in den besetzten Gebieten zusammen getragen hat. Zwar übergeht der Bericht nicht die palästinensischer Terroranschläge, die bei jedem Israeli zu Bedrohungsgefühlen führten. Aber: "Der Terror rechtfertigt keine Vergeltungsangriffe und befreit Israel, als demokratisches Land, nicht von seinen Verpflichtungen gegenüber den Menschenrechten."

Der Bericht kritisiert besonders, dass durch ein System von Straßensperren, Checkpoints und Ausgangssperren ein ganzes Volk für die Taten weniger in Kollektivhaft genommen wird. Jedes palästinensische Dorf in der Westbank ist inzwischen von Blockaden umgeben. Eine militärische Rechtfertigung gebe es dafür kaum. So zitiert der Bericht einen israelischen Reservisten, der am Kalandia-Checkpoint bei Ramallah Kontrollen vornehmen musste: "Nachdem ich zwei Wochen lang die Taschen von Leuten durchsucht hatte, die kamen und gingen und nachdem ich ihre Ausweise endlos kontrolliert hatte, kam ich zum Schluss, dass der Kalandia-Checkpoint keinen Zweck hat und so bald wie möglich abgebaut werden sollte."

Vielfach sehen sich Palästinenser an den Checkpoints aggressiven Soldaten ausgesetzt, die willkürlich Gewalt anwenden. Kassam Avisa, ein 19-jähriger Student aus Qalqiliya, ist bis heute davon gezeichnet: An einem Checkpoint bei Tulkarem ritzte ihm ein Soldat mit einer Glasscherbe einen Davidsstern in den Hals. Immer wieder werden Palästinenser auch am Zugang zu medizinischer Versorgung gehindert, wie der Fall von Rawan Harizat aus Hebron exemplarisch zeigt: Soldaten verzögerten die Überführung des vier Tage alten Babys in ein Krankenhaus so lange, bis es schließlich starb. Der Bericht kommt zu dem Schluss, dass solches Verhalten von der Armeeführung gedeckt werde, zumal nur die wenigsten Vorfälle eine Untersuchung nach sich zogen - entgegen den offiziellen Beteuerungen der Armeeführung.

Auch die Belastung der palästinensischen Bevölkerung durch Ausgangssperren hat inzwischen ein kaum vorstellbares Maß erreicht. Im Zeitraum vom 18. Juni 2002 bis zum 31. Mai 2003, also innerhalb von 348 Tagen, stand Hebron zusammen genommen 4.786 Stunden unter Ausgangssperre, also umgerechnet 199 Tage. In Nablus waren es 176 Tage, in Tulkarem 174 und in Jenin 126. Angekündigt wird eine Ausgangssperre oft dadurch, dass Soldaten Rauchbomben auf Palästinenser schießen, die sich im Freien aufhalten. Wie zynisch und absurd diese kollektive Bestrafung ist, versucht der Bericht mit einem Gedankenspiel zu veranschaulichen:

Wenn zum Beispiel erwiesen wäre, dass eine vollständige Ausgangssperre in Haifa die Einwohner vor Verletzungen bei Verkehrsunfällen schützen würde, oder wenn eine vollständige Ausgangssperre in Herzliya den Drogenhandel stoppen würde - wäre das eine ausreichende Rechtfertigung, über diese Städte eine Ausgangssperre zu verhängen?

Einen Angriff auf die Menschenrechte stellen dem Bericht zufolge auch die gezielten Ermordungen dar, mit denen die israelische Armee allein im abgelaufenen Jahr 80 Palästinenser liquidierte. Bei solchen Operationen wurden aber auch 90 unschuldige Menschen getötet und 300 verletzt. Besonders unverhältnismäßig war dabei die Ermordung von Hamas-Aktivist Salam Mustafa Shahada im Juli 2002: Ein Helikopter warf eine 1000-Kilo-Bombe auf Shahadas Haus, die 14 weitere Personen tötete und 150 verletzte.

Besorgt äußert sich der Bericht auch über die Situation im israelischen Kernland: Die arabische Minderheit werde diskriminiert, die Funktion der Justiz als Wächterin der Demokratie untergraben, die Pressefreiheit eingeschränkt und massive Kürzungen im Gesundheits-, Bildungs-, Erziehungs-, Wohn- und Sozialbereich führten zu einer Verschärfung der ohnehin schon großen sozialen Ungleichheit.

Der Bericht zieht in seiner Schonungslosigkeit die vielzitierte These in Zweifel, wonach Israel die einzige Demokratie im Nahen Osten ist. Ohnehin halten der Studie zufolge nur 77 Prozent der israelischen Juden die Demokratie für die beste Staatsform. Das ist der geringste Wert von allen 32 Ländern, für die eine solche Erhebung vorliegt.