Kommt das "europäische Zeitalter"?
Nachdem die Kreditexpansion in den USA trotz Leitzinssenkung an ihre Grenzen stoßen dürfte, könnte nun Europa als Importeur der weltweiten Überschüsse einspringen. Die EZB scheint jedenfalls bereit zu sein, wie die USA einen vor allem von China finanzierten Boom zuzulassen
Nachdem die US-Notenbank Fed die Leitzinsen am Dienstag deutlich abgesenkt hat, scheinen die Chancen gut, dass sich die internationalen Finanzmärkte wieder beruhigen. Die erste Reaktion der Wall Street war jedenfalls euphorisch: der höchste Tagesgewinn bei US-Aktien seit mehr als vier Jahren und ein starker Rückgang der Spekulationen auf weitere Kursrückgänge. Damit verbunden war allerdings ein weiteres Absacken des Dollar gegenüber dem Euro – womit die Gewichtsverschiebung in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen weiter an Dynamik gewinnen dürfte.
Denn weniger klar erscheint, ob die US-Zinssenkung auch die US-Konjunktur wieder auf alte Höhen heben kann. So dürfte der Verfall der US-Hauspreise dadurch wohl ebenso wenig aufgehalten werden, wie der damit verbundene Rückgang des Wachstums des privaten Konsums. Damit werden die USA aber als Abnehmer für die weltweiten Exportüberschüsse an Bedeutung verlieren – immerhin ist das US-Leistungsbilanzdefizit zuletzt erstmals seit langem zurückgegangen –, so dass sich die Exporteure aus den Emerging Markets zusehends einen neuen Abnehmer werden suchen müssen. Und dafür dürfte derzeit wohl einzig und allein die EU zur Verfügung stehen.
Wie die taz vor wenigen Tagen Jörg Wuttke, den Vorsitzende der „Europäischen Handelskammer“, zitierte, dürfte der Wechsel bereits unmittelbar bevorstehen. So könnte der chinesische Handelsüberschuss mit der EU dieses Jahr auf „überwältigende 140 Milliarden Euro“ (195 Mrd. USD) steigen, nach 128 Mrd. Euro im Vorjahr. Zwar ist Wuttkes Verband eine private Organisation mit kommerziellen Interessen, die nicht unbedingt den besten Ruf genießt, ihre dahingehende Schätzung wird aber auch von anderen Experten für durchaus glaubwürdig gehalten. Addiert man zudem die ebenfalls wachsenden europäischen Chinaexporte (63 Mrd. Euro im Vorjahr), sollte das einen Exportwert von deutlich mehr als 200 Mrd. Euro ergeben, den China in diesem Jahr an die EU verkaufen wird.
Die Asiatische Entwicklungsbank (ADB) schätzt den gesamten Exportüberschuss Chinas auf rund 300 Mrd. USD (rd. 220 Mrd. Euro), so dass der chinesische Leistungsbilanzüberschuss 2007 also fast zur Gänze gegenüber der EU erzielt werden könnte. Sollte die USA, die in den zwölf Monaten vor dem 31. Juli bereits chinesische Güter im Wert von 312 Mrd. Dollar (225 Mrd. Euro), aufgenommen hat, jetzt nicht überraschend wieder auf einen starken Wachstumskurs einschwenken, dürfte die USA 2007 dahingehend also nur noch knapp vor der EU zu liegen kommen (das ist übrigens kein Widerspruch, denn gegenüber vielen Rohstoff- und Ölexporteuren ist die chinesische Handelsbilanz negativ). Jedenfalls könnte man mutmaßen, dass China dieser Gewichtsverlagerung bald Rechnung tragen und seine Währungspolitik entsprechend anpassen wird.
Denn bei einem Sozialprodukt von vermutlich rund 2.500 Mrd. USD (1785 Mrd. Euro) machen die Exporte in die USA und die EU zusammen mehr als ein Fünftel der chinesischen Gesamtproduktion aus, wobei für China belanglos sein dürfte, an wen letztlich geliefert wird. Zwar fehlen diese Exporte bereits für den Konsum am chinesischen Inlandsmarkt, wo die Einzelhandelsumsätze im ersten Halbjahr laut ADB mit 15,4 Prozent so stark angestiegen sind wie selten zuvor, doch dürfte der Export für China als Wachstumstreiber noch auf Jahre hinaus unersetzlich bleiben, bzw. zumindest nicht zurückgehen dürfen. Sollten die USA also ihr Leistungsbilanzdefizit tatsächlich reduzierten, wird Europa zwangsläufig in den verstärkten Genuss chinesischer Exportanstrengungen geraten, was China, wie die gewaltigen Dollarreserven zeigen, sich bekanntlich aber auch einiges kosten lässt.
Damit wird die chinesische Inflation bald aber nicht nur, wie bisher, zum wichtigsten Exportgut der USA, sondern auch zu dem der EU. Während sich die offiziellen Inflationsraten in Europa und den USA trotz aller Geldmengenexpansion nach wie vor auf relativ niedrigen Niveaus bewegen, steigen in China die Preise. So gab die offizielle chinesische Statistik am 12. September mit 6,5 Prozent die höchste Steigerungsrate seit 1994 bekannt, was zwar auch auf Sonderfaktoren wie den großflächigen Ausbruch einer Schweinepest und der Verdoppelung der Getreidepreise auf dem Weltmarkt zurückzuführen ist, der Inflationstrend zeigt aber jedenfalls eindeutig nach oben.
Für Europa orten EU-Kommission und EZB hingegen nur ein geringfügiges Anziehen der Inflation, die sich aber weiterhin im von der EZB noch tolerierten Bereich von zwei Prozent bewegen soll. Wie in China steigen (bzw. stiegen bis zum Ausbruch der aktuellen Bankenkrise) auch in Europa die Immobilien- und Aktienpreise, die für den Inflationsindex wichtigen Preise für Konsumgüter dürften aber weiterhin niedrig bleiben – weil durch den starken Euro die Importe von Fertigwaren aus China sowie von Rohstoffen tendenziell billiger werden. China hat zwar laut AFB gegenüber dem Dollar zuletzt etwas stärker aufgewertet – um 4,4 Prozent im zweiten Quartal 2007 nach 3,7 im ersten Quartal und nur 2,8 Prozent im ganzen Jahr 2006 –, gegenüber dem Euro ergibt sich aber dennoch eine weitere Abwertung.
Das fördert die chinesischen EU-Exporte, drückt das europäische Preisniveau und erlaubt somit der EZB, ihre fest in den Statuten fixierten Geldmengenziele weiter zu ignorieren, da die Inflation ja ohnehin durch den starken Euro gedämpft werde. Immerhin umfasst die so genannte „Erste Säule“ der EZB-Geldpolitik neben einer Inflationsrate von maximal zwei Prozent auch eine maximale Wachstumsrate der breitesten Geldmenge M3 von 4,5 Prozent.
Laut EZB-Analysen führt die Geldmengenausdehnung über einen Zeitraum von bis zu drei Jahren zu einem entsprechenden Ansteigen der Preise, was bekanntlich unbedingt zu verhindern werden müsse. Allerdings ist auch nicht ganz von der Hand zu weisen, dass durch die zunehmende Komplexität der Finanzmärkte der theoretisch angenommene direkte Zusammenhang zwischen Geldmenge und Preisniveau (wenn mehr Geld sich auf gleich viele Güter verteilt, sollten laut volkswirtschaftlicher „Quantitätstheorie“ die Preise analog dazu ansteigen) nicht mehr in so hohem Ausmaß gegeben ist wie früher. So begründete die EZB den in letzter Zeit übermäßig hohen Anstieg von M3 zuletzt mit der Umschichtung von Anlagegeldern von langfristigen (nicht in M3 enthaltenen) Sparformen in kurzfristige Veranlagungen, die M3 zugerechnet werden.
Die Fed hat solche einer Geldmengenexpansion hinderliche Geldmengenziele bereits vor Jahren komplett aufgegeben und keine M3-Daten mehr veröffentlicht – angeblich weil sie keinerlei echten Informationsgehalt mehr hätten. Die EZB blieb aber bislang offiziell bei ihrem Ziel für M3, das sie aber schon seit einiger Zeit so deutlich verfehlt, dass sie als Kur eigentlich längst höhere Leitzinsen hätte verordnen müssen. Immerhin hat dieser Wert laut EZB-Angaben bereits im Juli das Rekordniveau von 11,7 Prozent erreicht und dürfte mit den im August im Zuge der Bankenkrise erfolgten Liquiditätseinschüssen nun aber förmlich explodiert seien. Die starke Expansion der Privatkredite in der EU zeigte aber auch zuvor schon ein ähnliches Bild wie jenes in den USA bis zum Ausbruch der Subprime-Krise, vom Ansteigen der Immobilien und Aktienpreise ganz zu schweigen.
Sollte der europäische Kreditboom also nicht bereits jetzt wieder versickern - etwa weil die Bankenkrise auch auf deren Kreditvergaben an den Privatsektor durchschlägt, was die EZB eigentlich mit ihren Liquiditätseinschüssen verhindern wollte - und sollten die USA zudem die Grenzen ihrer Kreditexpansionsfähigkeit inzwischen tatsächlich erreicht haben, dann dürfte die bislang noch eher ausgeglichene Leistungsbilanz der EU bald auch insgesamt deutlich negativ werden.
Würde China deswegen entscheiden, den Dollar als hauptsächliche Reservewährung durch den Euro zu ersetzen, dann könnte sich nach den USA nun Europa für eine Weile den Luxus eines fremdfinanzierten Konsumbooms gönnen. Voraussetzung dafür ist nur, dass die EZB weiterhin eine expansive Geldpolitik betreibt und ihre eigenen Geldmengenziele ignoriert. Davon könnte sie allerdings abgeschreckt werden, wenn nun die USA, der die EZB offenbar zusehends nacheifert, in eine größere Rezession verfallen. Sollte die Fed diese mit ihren Zinssenkungen vorerst aber neuerlich vermeiden können, dann dürfte einem mehr oder weniger langen „europäischen Zeitalter“ eigentlich nichts mehr im Wege stehen.