Konzerne haben zu viel Macht in der EU
LobbyControl-Bericht: Innerhalb der EU sind es weiterhin die Nationalstaaten, die ihre Wirtschaftsinteressen durchsetzen wollen
Brüssel gilt nach Washington weltweit als die Stadt mit der zweitgrößten Anzahl an Lobbyistinnen und Lobbyisten. Zahlreiche Lobbyakteure aus Unternehmen, Lobbyagenturen, Anwaltskanzleien, Branchenverbänden, Nichtregierungsorganisationen und anderen Zusammenhängen kommen aus 28 Mitgliedstaaten der EU und zahlreichen Nicht-EU-Ländern nach Brüssel - oder haben längst ihre Büros dort -, um Politik in ihrem Sinne zu beeinflussen.
Was wird in der EU-Hauptstadt getan, um bei diesem Lobby-Ansturm für Transparenz zu sorgen und Lobbyismus strenger zu regulieren? Und reicht dies aus, um sicherzustellen, dass demokratische Kontrolle möglich ist und Politik im Interesse der Allgemeinheit gemacht wird?
Diesen Fragen widmet sich der EU-Lobbyreport 2019, der am heutigen Montag, den 29. April, von der Nichtregierungsorganisation LobbyControl in Berlin vorgestellt wurde.
EU ist in Sachen Transparenz Nationalstaaten voraus
Dabei liefert der Report einige Argumente gegen eine undifferenzierte EU-Schelte, die vor allem von rechts gerne bedient wird. Danach ist die EU per se intransparent und als Lösung werden die Nationalstaaten gesehen. Demgegenüber stellt LobbyControl fest, dass die EU-Vertreter in Sachen Transparenz Nationalstaaten wie Deutschland voraus sind:
So veröffentlichen Kommissar/innen und wichtige Beamte ihre Lobbytreffen, Abgeordnete mit besonderen Funktionen müssen dies ab der nächsten Wahlperiode tun. Es gibt ein Lobbyregister, auch wenn es bislang nur freiwillig ist. Und auch in Puncto Seitenwechsel, Nebentätigkeiten oder Transparenz über Einkünfte gibt es viel bessere Regeln.
EU-Lobbyreport 2019
Dass trotzdem auch in der EU die großen Konzerne einen zentralen Einfluss haben, wird im Report an vielen Beispielen belegt:
So ist der Stoff Bisphenol A trotz Verdachts, dass er die Hormone schädigt, weiterhin in Lebensmittelverpackungen enthalten oder werden Handelsabkommen im Wesentlichen nach den Wünschen großer Unternehmen gestaltet. Das Verhältnis der Lobbytreffen mit der Kommission ist Ausdruck dieses Problems. Im Schnitt finden 70 Prozent der veröffentlichten Treffen der EU-Kommission mit Unternehmensvertretern statt.
EU-Lobbyreport 2019
In der Fachgruppe "Emissionen im praktischen Fahrbetrieb - leichte Nutzfahrzeuge" sind zu 70% Lobbyisten der Automobilindustrie und nur zu 30 Prozent Repräsentanten anderer Organisationen vertreten. Offen bleibt zwar, ob diese konkurrierende Industriebranchen vertreten. Aber so ist es natürlich nicht verwunderlich, dass dort Verordnungen beschlossen werden, die im Sinne der Autoindustrie sind.
Dabei zeigen die Konzernkritiker an verschiedenen Stellen, dass die Gegenüberstellung EU versus Nationalstaaten falsch ist. Im Gegenteil:
Eine zentrale Rolle für einseitige Lobbyeinflüsse spielen die EU-Mitgliedstaaten. Über den intransparenten Rat der EU boxen nationale Regierungen immer wieder die Interessen ihrer heimischen Industrien durch. Die Bundesregierung verwässerte oder verzögerte zum Beispiel wirksame Abgastests oder bessere Regeln beim Kampf gegen Steuervermeidung und -hinterziehung. Es ist also falsch, das Lobbyproblem allein auf EU-Ebene auszumachen. Die Mitgliedstaaten sind nicht besser.
EU-Lobbyreport 2019
Wenn man die Plakate zur Europawahl sieht, die seit einigen Wochen in deutschen Städten zu finden sind, liest man Parolen wie "Starkes Europa fit für Berlin" oder "Für Deutschlands Zukunft" (CDU), "Für Europa - unser Europa steht für Wachstum, soziale Sicherheit" (SPD). In dieser Wahlwerbung drückt sich exakt aus, dass diese Parteien die EU für die Durchsetzung der Interessen des Standorts Deutschlands nutzen (Kaffee, Kuchen, Klimawandel: Für Europa reicht’s noch).
Genau das dokumentiert die NGO LobbyControl in ihrem Report. Hier wird auch deutlich, dass die EU ein Wirtschaftsraum ist, in dem die unterschiedlichen Nationalstaaten mal mit- mal gegeneinander ihre jeweiligen Interessen durchsetzen wollen.
Deutschland hat innerhalb der EU eine starke Position, doch es zeigt sich natürlich auch immer mal wieder, dass die anderen Nationalstaaten den Einfluss Deutschlands auch begrenzen wollen. Diese innerkapitalistische Konkurrenz, die in der EU ausgetragen wird, wirkt sich auch in der Lobbyarbeit aus.
"Es ist der Kapitalismus, stupid"
Nun müsste eigentlich der Hinweis kommen, dass alles das, was LobbyControl in seinem EU-Report zusammengetragen hat, Beispiele für eine kapitalistische Wirtschaft ist. Dort haben eben Vertreter der Konzerne und nicht der Beschäftigten oder von Umwelt- und Stadtteilverbänden die Dominanz in den entscheidenden Ausschüssen. Wäre es anders, stünde die kapitalistische Eigentumsordnung in Frage.
Wie vor 100 Jahren, als Anhänger einer Rätedemokratie die Macht der Konzerne stark minimieren und die Lohnabhängigen in der Lage versetzten wollten, über die gesamte Gesellschaft also auch die Ökonomie zu bestimmen. Die alten Mächte und die Sozialdemokraten verhinderten diesen Versuch mit blutigem Terror.
Aktuell können wir angesichts der Initiative Deutsche Wohnen und Co enteignen, die sich auf das Grundgesetz beruft und großen Immobilienkonzernen ihr Eigentum abkaufen will, beobachten, welcher Gegenwind von den konzernorientierten Parteien gemacht wird, wenn man nur die Eigentumsfrage stellt. Das versucht LobbyControl erst gar nicht.
Die fünf Punkte, die LobbyControl als Reformvorschläge vorschlägt, liegen ganz auf der Linie einer Einhegung des Kapitalismus, die mit Parolen wie fair etc. überall zu finden ist:
1. Konzerneinfluss begrenzen
EU-Lobbyreport 2019
Kommissare, Beamte und Abgeordnete müssen verpflichtet werden, ihre Lobbytreffen ausgewogener zu gestalten. Expertengruppen dürfen nicht mehr von Konzernvertretern dominiert sein.
2. Abhängigkeit von Unternehmensexpertise reduzieren
In der EU-Kommission arbeiten rund 32.000 Menschen. Sie sind für 510 Millionen Bürger*innen zuständig. Zum Vergleich: Allein in der deutschen Finanzverwaltung sind 45.000 Menschen beschäftigt. Deswegen: Die EU-Kommission braucht mehr interne Expertise.
3. Privilegierte Zugänge für Konzerninteressen minimieren
Strengere Regeln beim Wechsel von Politikern in die Wirtschaft und ein Ende der vielen Exklusiv-Veranstaltungen von Konzernen und Politik wie Oettingers Mini-Davos.
4. Reform des Rates der EU
Der Rat der EU ist das intransparenteste Gremium Europas. Das muss sich ändern. Denn zurzeit boxen die nationalen Regierungen hier viel zu oft die Interessen ihrer heimischen Industrien durch. Wir brauchen ein Lobbyregister beim Rat und Einblick in die Verhandlungspositionen der Mitgliedsstaaten.
5. Mehr Lobbytransparenz
Umfassendes, verbindliches Lobbyregister mit verlässlichen Daten für alle EU-Institutionen und eine legislative Fußspur, die den Einfluss von Lobbygruppen auf die europäische Gesetzgebung sichtbar macht.
Angesichts der aktuellen Machtverhältnisse scheinen solche Reformvorschläge die einzig mögliche Alternative. Nur ist auch klar, dass sie das eigentliche Problem nicht lösen können. Zur kapitalistischen Konkurrenzwirtschaft gehört eine starke Lobby.