Kool Herc kann sich keine Nierenoperation leisten

Während Figuren wie "Bushido" reich wurden, muss der Erfinder von Hip Hop Spenden sammeln

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Clive Campbell alias Kool Herc gilt als Derjenige, der am meisten zur Erfindung von Hip Hop beitrug. 1973 begann der geborene Jamaikaner in der Bronx, besonders reizvolle Stellen in Platten zu verlängern, indem er diese auf zwei Plattenspielern laufen ließ und sie immer wieder ineinanderfügte. Seine über diese Darbietungen gesprochenen Ansagen wirkten inhaltlich wie stilistisch stilbildend für die späteren Raps. Doch noch bevor das Genre mit der Sugarhill Gang erste weltweite Erfolge feiern konnte, musste Campbell nach einem Messerangriff auf ihn und einem Wohnungsbrand aus dem DJ-Geschäft aussteigen und sein Geld unter anderem als Trucker und Hafenarbeiter verdienen.1

Heute ist der Hip-Hop-Erfinder, wie viele andere arme Amerikaner auch, nicht krankenversichert. Vor kurzem bekam er schmerzhafte Nierensteine, die zu Blutungen führten und operiert werden müssten. Das klappte bisher jedoch nicht, weil die Krankenhäuser dafür einen Vorschuss verlangten, den Campbell nicht bezahlen konnte. Deshalb werden Spenden für ihn gesammelt.

Der Fall Campbell ist kein Einzelfall, sondern Standard im Musikgeschäft. Das System ist darauf angelegt, dass sehr wenige sehr reich werden und sehr viele sehr arm bleiben. Wobei diejenigen, die reich werden, keineswegs die wichtigsten kreativen Beiträge leisten, was man etwa an der dubiosen Figur "Bushido" sieht.

Clive Campbell 2009. Foto: Public Domain.

Apologeten dieses Systems der Ressourcenallokation in der Musikbranche behaupten, dass es notwendig sei, um Anreize für Kreativität zu schaffen. Motivationspsychologen fanden allerdings heraus, dass genau das Gegenteil der Fall ist. Dass die klassische Anreiztheorie nur auf einem begrenzten Gebiet so funktioniert, wie Lieschen Müller und das FAZ-Feuilleton sich das vorstellen, ist bereits seit längerem bekannt. In den 1970er Jahren fasste Kenneth McGraw von der University of Mississippi die Ergebnisse der bis zu diesem Zeitpunkt durchgeführten Motivationsstudien zusammen und kam zu dem überraschenden Ergebnis, dass finanzielle "Anreize" zur Leistungsminderung führen können - vor allem dann, wenn die Leistung komplex ist und/oder schöpferischen Aufwand erfordert.

So kamen beispielsweise Testpersonen, die einen elektrischen Schaltkreis herstellen sollten, den sie nur mittels eines Schraubenziehers schließen konnten, weil die ihnen zur Verfügung gestellten Drähte zu kurz waren, deutlich schneller zum Ziel, wenn ihnen vorher keine Belohnung versprochen wurde.2 Finanzielle Anreize verringerten die Risikobereitschaft und damit auch ungewöhnliche, neue Ansätze. "Extrinsische" Motivation verschlechterte die Ergebnisse bei "heuristischen" - also kreativen - Aufgaben und steigerte die Ergebnisse lediglich bei "algorithmischen" Aufgaben, für die es bereits bekannte Lösungswege gab.3

Es gibt, wie die Harvard-Psychologin Teresa Amabile später herausfand, allerdings noch eine Ausnahme von der Ausnahme: Wenn die finanzielle Belohnung die Durchführung der kreativen Aufgabe erst möglich macht, fördert sie ein besseres Gesamtergebnis. Darüber hinausgehende Belohnungsanreize verschlechtern das Ergebnis jedoch wieder.4 Eine adäquate Umsetzung dieser Ergebnisse wäre also beispielsweise eine Künstlergrundsicherung, nicht aber ein System, das sehr wenigen Menschen sehr hohe "Belohnungen" bietet, der großen Masse aber zu wenig für ein Auskommen ohne Zusatzarbeit.

Der Fall Campbell zeigt (wie viele vor ihm), dass es das System der Ressourcenverteilung in Musikgeschäft nicht wert ist, weiter perpetuiert zu werden. Stattdessen sollte man den gerade vor sich gehenden Strukturwandel als Gelegenheit nutzen, ein neues und gerechteres Modell auf die Beine zu stellen: Das könnte mittels einer Kulturflatrate geschehen, deren Verteilung sich nicht nach einer Abspiel- oder Downloadhäufigkeit richtet (die ohnehin nur mit erheblichen Eingriffen in die Privatsphäre der Verbraucher zu ermitteln wäre). Ein erster Schritt dahin wäre, den Verwertungsgesellschaften, die Hoheit über die Verteilung der Leermedien-, Geräte- und sonstigen Verwertungsabgaben zu nehmen und diese Einnahmen der Künstlersozialkasse zu übertragen, die daraus Kranken- und Rentenversicherungsbeiträge bestreitet und so für soziale Sicherheit für alle hauptberuflich schöpferisch Tätigen sorgt.

Im Nachteil wären bei diesem Modell allerdings jene Institutionen, die im vordigitalen Zeitalter für die nun selbständig laufende Verbreitung von Inhalten sorgten, weshalb von dieser Seite bisher auch der stärkste Widerstand gegen entsprechende Lösungen kam. Auch deshalb, weil Musik- und Buchverlage sowie Film-, und Fernsehproduzenten sich über die Verwertungsgesellschaften systemwidrig subventionieren lassen, ohne schöpferische Akte zu erbringen.

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