Kopieren für die Wohlfahrt
Urheberrechtschutz volkswirtschaftlich betrachtet
Taugt ein verschärfter Urheberrechtsschutz dazu, den unerlaubten Handel von Musiktiteln über Internet-Tauschbörsen einzudämmen und den Absatz verkaufter Tonträger wieder in die Höhe zu treiben? Die Erfolgsaussichten einer solchen Maßnahme sind umstritten. Gegner einer Urheberrechts-Verschärfung geben zu bedenken, dass Kopien, via Netzwerkeffekte, den Verkauf sogar anregen können (Internetpiraten in der Netzwerk-Ökonomie). Ein anderer Einwand: Gesetze gegen unerlaubtes Kopieren nützen zwar der Industrie, nicht aber dem Großteil der Künstler. Als Anreiz für die Produktion von Kulturgütern, zu welchem Zweck das Urheberrecht einst geschaffen wurde, ist dieses deshalb schon heute nur bedingt geeignet (Wissenspoker: Von unsichtbaren und von öffentlichen Händen). Zu diesen Überlegungen tritt nun eine weitere hinzu: Auch volkswirtschaftlich betrachtet würde nämlich eine Verschärfung des geltenden Urheberechtsschutzes negative Auswirkungen auf die allgemeine Wohlfahrt haben. Das behauptet der Stuttgarter Ökonom Jochen Haller in seiner Studie Urheberrechtsschutz in der Musikindustrie.
Einige Wirtschaftswissenschaftler schätzen, dass der Wohlfahrtsverlust, der bereits heute durch die monopolähnlichen Preise bei Tonträgern in der Musikindustrie entsteht, nahezu dem Umatz der gesamten Industrie entspricht1.1 Jochen Haller hält diese Einschätzung tendenziell für richtig.
Kopieren steigert die Wohlfahrt
Die Rechnung ist einfach: Konsumenten machen beim Kauf soviel Gewinn, wie der Preis des Produktes unter ihrer individuellen Zahlungsbereitschaft liegt. Produzenten erwirtschaften auf der anderen Seite Gewinne, wenn sie durch den Verkauf eine Summe erzielen können, die die Grenzkosten, also die Material- und Produktionskosten, wieder einspielt. Wie groß die Zahlungsbereitschaft für ein Produkt in Wirklichkeit ist, lässt sich allenfalls mittels Umfragen und auch damit nur sehr ungenau ermitteln.
Im Fall des Musikmarktes aber fällt auf, dass der Spielraum zwischen Grenzkosten und Verkaufspreis außerordentlich groß ist: Ungefähr einen Euro kostet es, eine Musik-CD anzufertigen – fünfzehn Euro und mehr muss der Kunde dafür bezahlen. „Allein die Tatsache, dass diese Spanne so derart weit ist“, meint Jochen Haller, „ist ein Indiz dafür, dass es auf diesem Markt große Wohlfahrtsverluste gibt.“ Wären die CDs billiger, würden mehr davon verkauft – und Kunden und Produzenten hätten, zusammen genommen, einen größeren Nutzen.
Ein Teil dieses Wohlfahrtsverlustes, meint Jochen Haller, wird bereits heute durch die Verbreitung digitaler Kopien wieder wettgemacht. Denn wenn Musikhörer, denen fünfzehn Euro für eine CD zu viel sind, sich eine Kopie des Titels verschaffen, dann ist dies, volkswirtschaftlich betrachtet, von Nutzen. Insgesamt nämlich ist in dieser Situation ein Gewinn erzielt worden. Dieser Gewinn berechnet sich aus der Differenz zwischen der Zahlungsbereitschaft des Musikhörers und den Material- und Beschaffungskosten für das Kopieren der CD. Ohne die Möglichkeit des digitalen Kopierens wäre dieser Gewinn nicht erzielt worden.
Das Fazit, soweit: Digitale Kopien schaden niemandem. Einige aber haben einen Nutzen davon. Ingesamt betrachtet, geht es uns mit digitalen Kopien besser als ohne digitale Kopien.
Verkaufsrückgang durch Kopien: Spekulation statt Zahlen
Natürlich ist diese Rechnung unvollständig. Denn es gibt immer noch jene Musikfreunde, die die fünfzehn Euro für eine CD in der Tasche haben und auch auszugeben bereit wären – und trotzdem kopieren. Jene Gruppe macht die Musikindustrie verantwortlich für die Krise, in der sie sich derzeit befindet. Und die ist schwer zu leugnen. Weltweit ging der Umsatz mit Tonträgern, einem stetigen Abwärtstrend folgend, von 32,2 Milliarden US-Dollar im Jahr 2002 auf 30 Milliarden Dollar im Jahr 2003 zurück. In Deutschland sank der Umsatz mit Tonträgern im Jahre 2003 um beinahe 20 Prozent.
Diesen Rückgang erklären Industrieverbände in der Tat mit der immer weiteren Verbreitung von unautorisierten digitalen Kopien. So hat die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) im Auftrag der International Federation of the Phonographic Industry (IFPI) in einer Studie durch die Befragung von zehntausend Konsumenten im Alter ab zehn Jahren herausgefunden, dass im Jahr 2003 rund 602 Millionen Musiktitel aus dem Internet heruntergeladen wurden. Davon stellten zirka 93 Prozent unautorisierte Kopien dar. Im gleichen Jahr wurden schätzungsweise 486 Millionen CD-Rohlinge verkauft, von denen wiederum 259 Millionen mit Musikdateien bespielt wurden.
Auf der Grundlage dieser Zahlen schätzt die IFPI, dass die Musikindustrie in Deutschland allein durch das Kopieren von CDs im Bekanntenkreis einen Umsatzverlust von 240 Millionen Euro erlitten hat. Den Schaden durch Internet-Tauschbörsen beziffert die IFPI darüber hinaus mit 930 Millionen Euro.
Aber der exakte Schein trügt. Die Schätzungen sind rein willkürlich. Denn Aufschluss darüber, wie viele legale Tonträger durch unautorisierte Kopien ersetzt worden sind, meint Jochen Haller, können die Zahlen der GfK gar nicht geben. Wer kann schließlich sagen, ob jeder, der einen Titel kopiert, sich diesen auch zum Marktpreis kaufen würden, wenn das Kopieren nicht möglich wäre? Im Gegenteil: Ein Großteil der Nachfrage nach unerlaubten Kopien – auch das zeigt die Studie der GfK - geht von jungen Konsumenten aus, die ohnehin nicht genug Geld hätten, sich die Titel, die sie kopieren, auch zu kaufen.
Unabhängig davon handelt es sich nach einer von Haller zitierten Studie2 ohnehin bei 75 Prozent aller „unautorisierten Kopien“ um Privatkopien und nicht um Kopien im Bekanntenkreis oder im Internet.
Ein theoretisches Modell
Man kann es also anstellen wie man will: Gewinne, die auf Seiten der Konsumenten durch die Möglichkeit digitalen Kopierens entstehen, lassen sich nicht seriös gegen Verluste aufrechnen, die der Industrie möglicherweise durch diese Technik entstehen. Jochen Haller hat deshalb ein mathematisches Modell entwickelt, welches darstellt, wie sich ein stärkerer oder schwächerer Urheberrechtsschutz tendenziell auswirkt. Das Modell soll zeigen, wie, zumindest in der Theorie, der Schutz von immateriellen Gütern unter Wohlfahrtsaspekten am besten ausgestaltet werden kann – also unter Berücksichtigung der Gewinne auf beiden Seiten: von Konsumenten und von Produzenten oder Verwertungsgesellschaften. Auch Netzwerkeffekte werden dabei berücksichtigt.
Am mikroökonomischen Modell wird deutlich, was in der politischen Diskussion leicht untergeht: „Unterschiedlichste Informationsgüter können nicht mit einem 'One size fits all'-Urheberrecht (im volkswirtschaftlichen Sinne) optimal geschützt werden“, sagt Jochen Haller. Ausschlagend ist die Kostenstruktur des jeweiligen Produktes. Filme zum Beispiel haben hohe Fixkosten, die in Europa im Durchschnitt im sechs- bis siebenstelligen Bereich liegen. Ein Album mit elektronischer Musik kann bereits mit 10.000 oder 20.000 Euro produziert werden. Diese Tatsache würde dafür sprechen, Filme tendenziell stärker zu schützen, Musik eher weniger. Eine allgemeine Regel lässt sich hier trotzdem kaum formulieren: die Einspielung eines Konzertes für ein Symphonieorchester kostet ein Vielfaches der im Heimstudio produzierten Aufnahme eines Elektro-Stückes. Eigentlich müsste man von daher für beide Produkte den Urheberrechtsschutz unterschiedlich hoch anlegen. Trotz dieser Unwägbarkeiten kommt Jochen Haller zu einer klaren Empfehlung:
Letztendlich zeigt sich somit, dass die positiven Auswirkungen eines erhöhten Urheberrechtsschutzes höchst unsicher sind, wohingegen dessen negative Auswirkungen als relativ sicher gelten können.
Außerdem, schreibt Haller, muss in diesem Zusammenhang bedacht werden, dass das Ausmaß des unerlaubten Kopierens stark mit der Höhe des Preises für die entsprechenden Produkte zusammenhängt. Dem Problem „Raubkopie“ könnte deshalb auch mit einer anderen Preispolitik begegnet werden:
So sind die Preise von Videos seit deren Markeinführung vor 15 Jahren von 100 US-Dollar auf ca. 10 US-Dollar gesunken, wodurch deren Absatz derart stark anstieg, dass heutzutage der Umsatz aus dem Verkauf von Videos die Einnahmen der Kinos deutlich übertrifft. Zwar besitzen die angesprochen Strategien ebenfalls spezifische Nachteile, dennoch scheint deren Umsetzung vielversprechender zu sein als eine weitere Verschärfung des Urheberrechtschutzes.
Jochen Haller
Jochen Haller: Urherberrechtsschutz in der Musikindustrie. Eine ökonomische Analyse. Lohmar - Köln: Eul Verlag, 2005, 375 S., EUR 56