Korruptionsskandal beim Türkischen Roten Halbmond

Seite 2: Die Ensar-Stiftung und die Missbrauchsfälle

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Die Ensar-Stiftung wurde 1979 gegründet und betreibt Bildungsinstitute und Wohnheime. Allein in Istanbul gibt es mehr als 25 Ensar-Einrichtungen. 2016 wurde bekannt, dass der 54-jährige Lehrer Muharrem B. in der Stadt Karaman in einer Einrichtung der Stiftung mindestens 45 Schüler und Schülerinnen sexuell missbraucht hatte.

Die Dunkelziffer dürfte aber weit höher liegen, denn die Kinder und Jugendlichen, die oft aus armen Familien kommen, sind den Betreibern hilflos ausgeliefert, weil sie durch kostenlose Stipendien finanziert werden. Ein Junge sagte als Zeuge aus: "Er kam in der Nacht und zwang mich, mitzukommen (auf das Zimmer des Lehrers, Anm. d. Verf.) ... Ich habe mich gewehrt. Aber er ließ nicht nach." Danach habe Muharrem B. zu ihm gesagt: "Das bleibt unter uns."

Zwar wurde der Lehrer aufgrund der öffentlichen Empörung zu lebenslanger Haft verurteilt, die Regierung versuchte aber, den Missbrauch zu relativieren: Ein einziger Vorfall sei "kein Grund, eine Einrichtung zu beschmutzen, die gute Arbeit gemacht habe," ließ die Familien- und Sozialministerin Sema Ramazanoğlu (AKP) verlautbaren. Die Ensar-Stiftung wies die Vorwürfe ihrerseits zurück, der Lehrer hätte 2013 nur für fünf Monate für die Stiftung gearbeitet.

Die Ermittlungen deuteten jedoch auf eine jahrelange Missbrauchsgeschichte, die erst so spät ans Licht kam, weil niemand genau hinschaute. Schon bald wurde nachgewiesen, dass die Ensar-Stiftung schlicht gelogen hatte: Muharrem B. arbeitete seit schon seit 2012 für die Stiftung. Bei den Vernehmungen der Kinder sagte eines der Opfer aus, "dass Muharrem B. ihn zwischen 2012 und 2015 zwölfmal vergewaltigt habe."

Im September vergangenen Jahres wurde ebenfalls ein Fall von sexuellem Missbrauch bei der islamischen Sekte "Fikih-Der" (Erkenntnis-Verein) in Istanbul bekannt. Mindestens 20 Jungen sollen dort von Koranlehrern missbraucht und vergewaltigt worden sein. Die Rechtsexpertin Seda Akço Bilen ist überzeugt, dass fehlende Kontrollen eines der Hauptprobleme seien. Gerade die illegalen Koranschulen, die vom Staat geduldet würden, würden keiner Kontrolle unterliegen, denn seit 2012 sorgte eine Gesetzesänderung dafür, dass illegale Korankurse nicht strafbar seien.

Sexueller Missbrauch und Pädophilie in islamischen Einrichtungen ist in der Türkei genauso ein Tabuthema wie bei der katholischen Kirche im Westen. Seit Jahren steigt die Zahl der Fälle, die bekannt werden, rasant. Nach einem Bericht der Oppositionspartei CHP ist die Zahl der angezeigten Missbrauchsfälle "in der Regierungszeit von Erdogans AKP seit 2002 bis 2016 von rund 4000 auf etwa 18.000 beziehungsweise um 450 Prozent angestiegen."

Der schon erwähnte Journalist Ismail Saymaz veröffentlichte unlängst ein Buch mit dem Titel "Sehvetiye Tarikati" (Orden der Lüstlinge) über die rund 30 bekannten islamischen Sekten und Orden in der Türkei. Darin beschreibt er die pädophilen Verstrickungen vieler dieser Organisationen und ihrer Imame.

Die türkische Regierung reagiert mit Nachrichtensperren, bzw. relativiert und spricht von 'Einzelfällen'. Der Politikwissenschaftler der Hochschule IUBH in Dortmund, Burak Copur, sieht einen Zusammenhang zwischen den steigenden Missbrauchsfällen in den islamischen Organisationen und der Regierungspolitik Erdogans, die immer mehr auf die Islamisierung der Gesellschaft setze.

Ein großes Problem sei, dass der politische Islam durch die AKP immer mehr Einzug in die Gesellschaft hält. Es ist aber nicht nur das, sondern auch die weitverbreitete Angst potentieller Aufklärer pädophiler Umtriebe, genauso wie viele andere dann durch Erdogan und seine Clique ebenfalls als Verleumder, Verräter oder gar Unterstützer von Terroristen verfolgt zu werden.