Kosovo: "Die Menschenrechte sind auf dem Nullpunkt"
Frauenorganisationen machen mobil gegen die inhumane Situation im Kosovo und gegen UNMIK-Chef Harri Holkeri
Das von internationalen Armee-, Bürokratie- und Polizeieinheiten besetzte Kosovo ist auch fünf Jahre nach Gründung des Protektorats ein menschenrechtliches Vakuum. Das mit Hilfe von NATO-Bomben, internationaler Diplomatie und Milliarden an öffentlichen Geldern aus dem Boden gestampfte "Experimentierfeld des Westens" hat der Bevölkerung bisher kaum Fortschritt gebracht. Und so warten Tausende von Flüchtlingen weiter auf Rückkehr, die Zurückgebliebenen auf elementare Grundrechte und die "Internationalen" auf Standards. Gegen diesen Zustand organisieren sich die Einwohner Kosovos. Die einen um ihr Ziele mit Gewalt zu erreichen, die anderen mit friedlichen Mitteln.
In den Enklaven war es besonders kompliziert, "Unterschriften gegen Holkeri" zu erhalten. Dort, wo nichtalbanische Einwohner des Kosovos teilweise hermetisch abgeschirmt von der Bevölkerungsmehrheit leben. In Gegenden, wo Schwangere eine Stunde über holprige Pflasterwege quer durch die Berge gefahren werden müssen, um ein Krankenhaus zu erreichen. Wo Schulkinder aufwändige Umwege hinnehmen müssen, um von Soldaten eskortiert überhaupt zu Schule zu gelangen. Wo schlicht Stacheldraht und Sperren Ethnien voneinander trennen. Auch dort wollte man Unterschriften sammeln, um damit den Rücktritt von Harri Holkeri fordern zu können.
Der ehemalige finnische Premier steht im Kosovo an der Spitze der "Pyramide der Macht", so Ruzica Simic, eine der Mitorganisatoren der Unterschriftenaktion. Insgesamt 55 nichtstaatliche Frauenorganisationen aus dem Kosovo hatten dazu aufgerufen, den Chef der UN-Mission an seine Verantwortung für die jüngste antiserbische Gewalt im Kosovo (Terror im Kosovo) zu erinnern. Dabei seien insgesamt über 12.000 Unterschriften zusammen gekommen. In den Enklaven hatten aber lediglich 1.600 unterschrieben. "Der Grund sind Repressalien von UN-Soldaten und albanischen Terroristen", die die Einwohner in den Enklaven fürchten müssten. Zudem seien dort die Grundrechte eingeschränkt und würden permanent verletzt. "Dort gibt es nur einen begrenzte Freiraum und eine normale Kommunikation wurde unterbrochen", erklärt Nevebka Medic, eine Kollegin von Simic.
Die Situation der Minderheiten
Verantwortlich sei dafür Harri Holkeri. Er habe, so der Vorwurf, auch die jüngste Gewalt nicht verhindert, als 19 Menschen starben und über 900 verletzt wurden. Albanische Extremisten hatten am 17. und 18. März 2004 im Kosovo systematisch nichtalbanische Einwohner aus ihren Häusern vertrieben und mehr als 700 Häuser und 30 serbische Kirchen sowie zwei Klöster in Brand gesteckt. 4.500 Serben, Roma und Aschkali mussten ihre Häuser verlassen, von denen 1.800 inzwischen wieder zurückgekehrt sind. Auch UNMIK (UN-Zivilverwaltung) und KFOR (NATO-Truppe) waren Ziele der Angriffe. Nach NATO-Angaben waren ca. 50.000, vor allem junge Menschen, an den Angriffen beteiligt. Doch Holkeri relativierte die Fakten und sprach nur von "einigen Vorkommnissen".
Die Frauenorganisationen werfen ihm zudem vor, auch schon zuvor nicht seiner Verpflichtung nachgekommen zu sein, wie es die UN-Resolution 1244 verlange. Auch das Grundgesetz, welches im Kosovo gilt, spreche davon, dass er alle Rechte besitzt, um die Menschenrechte der Einwohner zu schützen und dass er auf die nationalen Minderheiten zu achten habe. Der Anteil der serbischen Bevölkerung liegt nach unterschiedlichen Angaben zwischen 5 und 10 %. "Der Ausbruch der Gewalt am 17. März zeigt lediglich, dass Holkeri seinen Hauptaufgaben nicht nachkomme, wegen denen er überhaupt in das Kosovo gekommen sei", so Ruzica Simic.
"Die jetzige Situation ist schlimmer als 1999", meint Radmila Kapetanovic, Vorsitzende von "Zora" (dt. Morgenrot), einem Netzwerk von Frauenorganisationen im Kosovo. Damals wurden Menschenrechte besser geachtet und das Kosovo sei auch wirtschaftlich besser gestellt gewesen. Heute sei hingegen nicht einmal mehr das UNHCR (Flüchtlingshilfswerk der UN) auf die plötzliche Katastrophe vorbereitet gewesen, so dass nur noch aus Belgrad Hilfe komme. Zusätzliche Hilfe stelle Russland.
Bisher seien zudem nur einige der insgesamt 250.000 Serben, Roma und anderen nicht-albanischen Flüchtlinge wieder zurückgekehrt, die in den vergangenen fünf Jahren nach der NATO-Bombardierung größtenteils vertrieben wurden. Bisherige Rückkehrer leben meist in neuen, von den "Internationalen" erbauten Häusern. Denn die alten Häuser wurden zerstört oder werden mittlerweile von Albanern bewohnt. Nach der jüngsten Gewaltwelle sind aber nun auch die meisten dieser neuen Häuser zerstört worden. Ein eindeutiges Signal an diejenigen, die vorhatten demnächst, ins Kosovo zurückzukehren:
Wir haben jetzt die Situation, dass Flüchtlinge andere Flüchtlinge aufnehmen. [...] und unser Eigentum benutzen jetzt Albaner. Unser Land, unsere Häuser, unsere Gärten haben wir verloren, ohne etwas dafür zu erhalten. Und wir können nicht einmal zurückkommen, um unsere Orte zu besuchen.
Radmila Kapetanovic
Menschenrechtssituation
"Die Menschenrechte sind auf dem Nullpunkt", beschreibt Radmila Kapetanovic die verheerende allgemeine rechtliche Situation weiter. Eine wirtschaftliche Entwicklung gebe es nicht. Das Kosovo finanziere sich von Kriminellen, dem Menschen- und Drogenhandel sowie vom Kleingewerbe. Viele Betriebe sind geschlossen. Es gibt große Armut und deshalb auch Probleme in den Familien mit Alkohol oder Gewalt. Bewegungsfreiheit existiere nicht, da sich KFOR und UNMIK nicht als Taxiunternehmen verstehen würden, wie sie den Betroffenen immer wieder klar machen. Eine kleine Gruppe von Serben im Ort Orahovac hänge so z. B. vom guten Willen der UNMIK ab. "Manchmal sind sie in guter Laune, die Serben zu beschützen. Manchmal nicht. Aber in jedem Fall ist der gute Wille nicht Auftrag ihres Mandats", meint sie lakonisch.
Zudem gibt es für die serbische Minderheit kein Recht auf Religion angesichts der Tatsache, dass in den letzten fünf Jahren mehr als 125 serbisch-orthodoxe Kirchen und Klöster zerstört wurden. Hinzu kommt, dass die ethnischen Verbrechen der letzten Jahre bisher nicht aufgeklärt und somit deren Täter nicht gefunden wurden. Niemand stand bislang wegen Mordes vor Gericht oder ging dafür in Gefängnis. Bei Morden an internationalen Polizisten wurden immer nur Serben ins Gefängnis gebracht, so Radmila Kapetanovic. Und sie ergänzt:
Nach 10 bis 15 Tagen - so lange die Medien-Farce anhielt - blieben sie dort. Danach wurden sie wieder entlassen. Es wurde seitens der "Internationalen" nichts weiter dazu gesagt, nicht mal eine Entschuldigung. Und es gibt Beispiele, dass unsere Leute mehr als drei Jahre im Gefängnis sitzen, jedoch bisher nicht vor Gericht standen oder sich verteidigen konnten. Wir wissen aber, dass das Maximum für die Vorbereitung auf eine Gerichtverhandlung sechs Monate beträgt.
Flüchtlinge
"Auch Flüchtlingskonventionen werden nicht befolgt", kritisiert Ruzica Simic, die in der ethnisch geteilten Stadt Kosovska Mitrovica wohnt. Sie hat miterlebt, wie der Ort seit dem Ende der 90er Jahre zu einer Flüchtlingsstadt geworden ist, und erinnert an die Zustände, die seit der jüngsten Gewaltwelle in Mitrovica herrschen: "Das ist für mich ein sehr trauriges Bild und eine harte Situation." So müssten z. B. bis zu 50 Flüchtlinge in einem Keller im städtischen Gymnasium wohnen. Dieses sei ohnehin schon ausgelastet, weil das Gebäude auch dem Gymnasium aus Süd-Mitrovica, der Fakultät für Rechtswissenschaften und der Philosophie-Fakultät als Herberge dient.
Wir fragen uns, wo diese Konventionen sind, wie man mit Flüchtlingen umgeht. Ich sage das, denn wir waren bei vielen Trainings der UNHCR. Dort gibt es Gesetze, wie viel Leute wie viel Quadratmeter Wohnfläche und andere Dinge benötigen. Das UNHCR hat nur gesagt, dass sie auf die Situation nicht vorbereitet sind und überrascht wurden.
Dankbar ist sie deshalb für die humanitäre Hilfe, die aus Serbien kommt:
Aber ich appelliere, dass diese Hilfe nicht so schnell abklingt. Die Leute sind noch immer in derselben Situation wie vor ein paar Wochen. Sie mussten ihre Häuser ohne jegliche Sachen verlassen. Und das geschah auch ohne jede Dokumentation. Wir wissen nicht, ob wir etwas tun können. [...] Wir können nicht auf die internationalen Organisationen zählen.
Die Verschwundenen
Ein weiteres Problem sind die "Verschwundenen und Gekidnappten". Vor allem seit dem Krieg zwischen UCK und serbischer Armee 1998 und der Flüchtlingswelle während und nach der NATO-Bombardierung, haben viele Familien Angehörige verloren. Doch viele haben noch immer keinerlei Erkenntnisse über deren Verbleib. Mit dieser Ungewissheit muss auch Ljiljana Milic leben, die während des Krieges für ein Jahr Flüchtling in Montenegro war und heute in einer serbischen Enklave im Kosovo lebt. Sie vermisst drei Mitglieder ihrer Familie und macht sich in ihrer Organisation für die Suche nach den "Verschwundenen" stark. Doch bisher ohne Erfolg. Denn Harri Holkeri und auch seine drei Vorgänger, die die UN-Mission innerhalb von nur fünf Jahren bereits gesehen hat, haben bisher nichts für die Lösung des Problems getan:
Wir haben Beweise an das UNMIK-Büro in Belgrad übergeben, an die Untersuchungseinheit in Pristina, an das Internationalen Rote Kreuz oder das "Büro für vermisste Personen". Wir geben lediglich Informationen, aber Rückinformationen gibt es keine. Immer wieder beginnen wir neu, denn sie tauschen ihr Personal alle sechs Monate aus. Niemand überlässt seinem folgenden Kollegen irgendwelche Informationen. Für uns ist es kein Problem an jedem Ort und zu jeder Zeit Informationen zu liefern. Aber es ist hart für uns, dass keiner Informationen für uns hat.
Ljiljana Milic
Man frage sich deshalb, warum zwischen all diese internationalen Organisationen, einschließlich der KFOR, keine Kommunikation bestehe. "Alle arbeiten nur für sich selbst", konstatiert Ljiljana Milic. Auch Nevenka Medic hat ähnliche Erfahrungen gemacht. Seit Jahren fordert sie und ihre Organisation die "Internationalen" immer wieder in Appellen dazu auf, ihre Arbeit zu tun:
Wir sind natürlich voller Stolz und wir wollen nicht jemand darum anbetteln, etwas zu tun. Aber erneut müssen wir auf die Knie fallen, um zu beten, dass sie ihre Arbeit tun.[...] Wir denken auch, dass Schweigen ein Verbrechen ist. Gewalt geschieht nicht nur in Bosnien und Kroatien, sondern auch im Kosovo, aber niemand will das erkennen. Wir sind jedoch der Meinung, dass es deren Job ist, das zu sehen.
Unterschriften gegen Holkeri
So war es dann auch nach der jüngsten Gewaltwelle. Nur wenige westliche oder kosovarische Politiker und Medien verurteilten sofort die Gewalt von extremen Kosovo-Albanern. Nach Angaben des Außenministers von Serbien und Montenegro habe sich vor allem Deutschland in UN-Kreisen gegen eine einseitige Schuldzuweisung stark gemacht und stehe neben anderen Ländern für ein unabhängiges Kosovo. Nur wenige Minuten nachdem der Minister diese Aussage im Belgrader Radio B92 gemacht hatte, wies das Auswärtige Amt in Berlin diese Aussage zurück. Viel mehr war dann aber auch nicht zu hören. Erst jetzt, mehrere Wochen später, lassen zunehmend Aussagen aus NATO-Kreisen und von einigen westlichen Regierungen ein scheinbares Umdenken erkennen. Nevenka Medic über die "Internationalen":
Wir hatten erwartet, dass sie auf beiden Seiten sein würden, aber mehrheitlich waren sie auf der Seite der Albaner. Diese Einstellung stammt von 1999 und das wollten sie nicht aufgeben. Sie folgen ihr vielmehr. Und noch immer ist die Situation so, dass bei vielen Dingen, die im Kosovo stattfinden, die Serben verantwortlich gemacht werden. Aber wir geben keinen Anlass für eine solche Denkweise.
So gab nun auch die International Crisis Group, ein Brüssel-naher Think-Tank, ihrer jüngste Studie den Namen "Kollaps im Kosovo". Darin warnte man, dass ohne eine neue Strategie über den künftigen Status und die sozio-ökonomische Entwicklung das Kosovo unregierbar werden und damit die gesamte Region in einen Strudel von Hass und Gewalt geraten könne. Deshalb müsse man umdenken und aus den bisherigen Fehlern lernen.
Diesen Fehlern sind Radmila Kapetanovic, Ruzica Simic, Ljiljana Milic oder Nevenka Medic im Kosovo tagtäglich ausgesetzt. Ob in ihrem persönlichen Leben als Teil der serbischen Minderheit oder bei der Arbeit in ihren Organisationen. Sie fordern deshalb zunächst dazu auf, eine internationale Untersuchungskommission für die Vorfälle einzusetzen, die Verantwortlichen der Gewaltwelle zu bestrafen und die Medienlügen in der Öffentlichkeit klar zu stellen.
Doch überrascht war man, als Harri Holkeri die Gewalt beschönigte und sogar nach Begründungen suchte, warum diese geschehen sei. Er beschuldigte zudem Serben indirekt, dass sie auf gewisse Weise selbst Schuld seien, da sie ja nicht ihre Häuser verlassen wollten. Sie verlangten sofort ein persönliches Gespräch mit Holkeri, schließlich hatten sie sich auch um ihn Sorgen gemacht, als die UN in Gefahr war. Aber weder bei ihm, der KFOR oder OSZE, noch bei anderen internationalen oder albanischen Organisationen fanden die zahlreichen Briefe Gehör. Am vergangenen Mittwoch wurden deshalb die insgesamt 12.413 Unterschriften dem UN-Büro in Belgrad übergeben, um sie von dort aus direkt nach New York an UN-Generalsekretär Kofi Annan zu senden.
Was die Frauen dabei am meisten bewogen hat, ist die Angst, dass es bald ein Kosovo komplett ohne Serben, Roma, Aschkalen, Türken oder anderen Nicht-Albanern geben könnte. "Ich denke, das ist jetzt die letzte Chance, dagegen etwas zu tun", meint Ljiljana Milic und hofft, dass eines Tages "die Wahrheit über all diese Ereignisse und über diejenigen herauskommen wird, die in den Enklaven leben. Denn wir können wirklich nicht über ein multiethnisches Kosovo sprechen, dafür sind Nationalismus und Hass zu groß." Und Ruzica Simic unterstreicht:
Unsere Angelegenheit ist es, laut zu sagen, was sie tun, und zweitens müssen wir ihnen sagen, dass wir nicht Teil ihrer Farce sein wollen. Aber ohne Verantwortlichkeit in den Institutionen ist ein Leben im Kosovo für uns nicht mehr möglich.