Krankenhauskrise: Neun Wochen Notruf aus NRW
Die Klinikstreiks in Nordrhein-Westfalen gehen in die zehnte Woche. Beschäftigte der Unikliniken Aachen, Bonn, Köln, Düsseldorf, Essen und Münster fordern verbindliche Personalbemessungen und Belastungsausgleich
"Es geht um keinen Cent mehr" erklärt Birk Lemberg, "sondern um Menschlichkeit, die wir uns in diesem Land leisten können müssen". Er ist einer der streikenden Krankenhausbeschäftigten aus den Unikliniken in NRW. Mitarbeitende der sechs Unikliniken haben sich jenseits der Gewerkschaften selbst organisiert und am Montag, den 4. Juli, in der Kölner St. Agnes Kirche das "Schwarzbuch-Krankenhaus" verlesen.
Die Initiative des Krankenhauspersonals hat Geschichten aus dem Arbeitsalltag gesammelt, die belegen, wie die alltägliche Überbelastung im Beruf allen schadet, Belegschaft und Patienten. Die Sammlung, die bislang nur online zu finden ist, haben die Beschäftigten anonym verfasst, weil einiges, was hier erzählt wird, auch strafrechtlich relevant sei, so die Streikenden.
An der mit der Gewerkschaft ver.di geführten Streikkampagne "Profite schaden Ihrer Gesundheit" beteiligen sich mehrere Gruppen, auch der Verein Demokratischer Ärztinnen und Ärzte (VDÄÄ) zeigt sich solidarisch mit der Belegschaft und organisiert sich mit dem Bündnis "Krankenhaus statt Fabrik". Die Forderung nach Entlastung kommt ausdrücklich nicht nur vom Pflegepersonal, sondern von allen Krankenhausbeschäftigten.
"Wir laufen immer unter Notdienstbesetzung"
Lorenz Hoffman-Gaubig, Kinderkrankenpfleger im Personalrat, wird am Streikposten in Düsseldorf deutlich: "Seit einem halben Jahr wissen die Arbeitgeber, worum es geht. Alles, was sie angeboten haben, ist Dreck."
"Die Vorsitzenden der Unikliniken blockieren, sie sind ermächtigt aber nicht bereit ein brauchbares Angebot zu machen. Wir würden alle gerne wieder arbeiten", erklärt der Pfleger, "aber wenn man dem nicht gegensteuert, steuern wir in eine tiefere Krise hinein".
Auf Vorwürfe, der Streik würde Patienten schädigen, antworten Kevin und Helene: "Wir streiken genau deswegen, keine Leben riskieren zu müssen." Andererseits laufen die Kliniken auf Notbetrieb, "was laufen muss, läuft auch weiter".
Trotz der Sorge um die eigenen Angehörigen, die auf ihre OPs warten, haben Befragte in der Bahn vollstes Verständnis für die Streikenden. "Ich bin für Einwanderung", erklärt eine pensionierte Pflegerin. Sie verstehe nicht, warum Menschen aus Deutschland abgeschoben werden, "wenn wir doch Leute brauchen?". Unter den Streikenden befinden sich auch viele ausländische Krankenhausangestellte.
Dass die Belegschaft die Arbeitsniederlegung so lange durchhält, liegt daran, dass das Klinikpersonal gut genug organisiert ist, um in die Konfrontation zu gehen. Die gewerkschaftliche Kraft habe in den letzten Jahren so sehr zugenommen, "dass man kann".
Als die Beschäftigten bereit waren sich einzusetzen, wurde der Landesregierung und dem Arbeitgeberverband des Landes am 19. Januar ein Ultimatum gestellt. Dieses 100-Tage Ultimatum, auf die Forderungen der Beschäftigten einzugehen, hatten sie verstreichen lassen. Daraufhin stimmten in der Urabstimmung 98 Prozent für den unbefristeten Streik.
"Gesundheit ist keine Ware"
Die Streikenden sind sich weitgehend einig. Das Gesundheitssystem krankt an der Profitorientierung. "Mit den Fallpauschalen hat der Kapitalismus in die Krankenhäuser Einzug gehalten", erklärt Ina Oberländer, Gewerkschaftssekretärin der Uniklinik Düsseldorf.
Seit diese mit Beteiligung des heutigen SPD-Gesundheitsministers Karl Lauterbach 2003 unter "Rot-Grün" eingeführt wurden, werden Behandlungen pauschal nach diagnosebezogenen Fallgruppen (Diagnosis Related Groups: DRG) vergütet.
Fallpauschalen, also Pauschalbeträge je Krankheit und Maßnahme, seien ein zentrales Problem, das unter anderem zu "blutigen Entlassungen" führt. Patienten rechnen sich vor allem dann, wenn an ihnen viele Maßnahmen durchgeführt werden können. Und je mehr Maßnahmen ein Krankenhaus im gleichen Zeitraum durchführt, desto höhere Gewinne erzielt es.
Damit sie also nicht lange Betten belegen, werden Patienten häufig frühzeitig entlassen, was wiederum dazu führe, dass Komplikationen zu Hause auftauchen und Patienten dann nochmal ins Krankenhaus kommen. Doch für die Streikenden geht es jetzt darum, das Symptom der Überlastung zu bekämpfen, damit zumindest aus der "Profitrechnung das Personal rausfällt" und mehr Arbeitskraft pro Patient zur Verfügung steht.
Die chronische Überforderung findet sich nicht nur in NRW, die Zustände sind aus ganz Deutschland bekannt. Die Politiker stehen im Verdacht, beim "Tarifvertrag-Entlastung" einen Dominoeffekt verhindern zu wollen, der sich dann in ganz Deutschland durchsetzen würde. Die FDP und das von ihr geführte Finanzministerium hat die "schwarze Pflegenull" zum Ziel, will also über Einsparung im Sozialbereich Neuverschuldung und neue Steuern vermeiden.
Durchhalten lässt die Streikenden, dass es Erfolge wie die erkämpften Tarifverträge an der Berliner Charité und bei Vivantes gibt. In Dresden, Frankfurt und Marburg seien auch Streiks in Vorbereitung, heißt es.
Um die Gesundheitsversorgung im ganzen Land zu verbessern, müssen sich mehr Beschäftigte organisieren – darauf hofft Ina. "Der Druck muss aus der Gesellschaft kommen. Wenn die Patientinnen nicht mit uns auf die Straße gehen… Wir brauchen alle, denn es geht uns alle an."
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