Krieg als Rätsel
Wer will was in Südossetien?
Als 1982 argentinische Truppen die Falkland-Inseln besetzten, da musste man raten, ob die dortigen Militärmachthaber Informationen hatten, an die man nicht so ohne weiteres herankam - oder ob sie schlicht inkompetent waren und die außen- wie die innenpolitische Lage völlig falsch einschätzten. Ein ähnliches Rätsel stellt sich beim georgischen Einmarsch in den de facto seit 18 Jahren unabhängigen Teil Südossetiens.
Darauf, dass der umstrittene georgische Präsident - ähnlich wie die argentinischen Generäle - möglicherweise tatsächlich auf eine innenpolitische Stärkung seiner Position durch einen nationalen Taumel hoffte, deutet eine Einschätzung der Korrespondentin des Bayerischen Rundfunks in Tiflis hin, die am Montag berichtete, dass sich nun auch frühere politische Gegner um Saakaschwili scharen und ihm den Rücken stärken würden. Allerdings müssen solcherart mit Gewalt erzwungene innenpolitische Erfolge (wie nicht zuletzt das argentinische Beispiel zeigt) nicht unbedingt von Dauer sein und können mittel- bis langfristig durchaus nach hinten losgehen.
So bleibt weiterhin schwer erklärlich, warum georgische Truppen in der letzten Woche in das vorher von einer gemischten aber russisch dominierten Friedenstruppe kontrollierte Gebiet einmarschierten und die relativ nahe der Grenze gelegene Hauptstadt Zchinwali angriffen. Die trotz des Weilens von Ministerpräsident Putin in Peking erwartbare Reaktion ließ auch nicht lange auf sich warten: Russisches Militär vertrieb nicht nur die in Südossetien einmarschierten Truppen, sondern griff auch Ziele in Georgien an, wobei sogar Wohnhäuser zerstört wurden.
Im Gegensatz zu Abchasien, wo die georgische Bevölkerungsmehrheit 1992 von einer Minderheit vertrieben wurde, waren und sind die Verhältnisse in Südossetien weniger klar: 1989 betrug der Anteil der ethnischen Georgier im gesamten Gebiet etwa ein Drittel. Zwar sollen seitdem mehr als 20.000 Georgier aus dem unabhängigen Teil Südossetiens ausgewandert sein, diese Zahl relativiert sich jedoch anhand von mindestens 100.000 Osseten, die im Gegenzug aus ganz Georgien nach Russland abgewandet sein sollen. Allerdings handelt es sich bei all diesen Zahlen um Schätzungen auf unklarer Basis. Zudem ist es nicht immer leicht, zwischen erzwungener und freiwilliger Abwanderung zu unterscheiden: So wanderten nach der Öffnung der Grenzen beispielsweise auch fast alle georgischen Juden nach Israel und praktisch alle Pontosgriechen in die EU aus. Und selbst darüber, welche Gebiete vor dem Beginn des vor wenigen Tagen neu ausgebrochenen Krieges unter georgischer Kontrolle standen, lassen sich keine einheitlichen Informationen erzielen.
Im Gegensatz zu den Georgiern, die eine nicht mit indoeuropäischen Sprachen verwandte kaukasische Sprache pflegen, sprechen die Osseten eine aus dem iranischen Zweig. Trotzdem sind sie - ebenso wie die Georgier - überwiegend christlicher Herkunft. Insgesamt gibt es zwischen 700.000 und 800.000 Osseten, davon leben nur etwa 40.000 in der jetzt umkämpften Region.
Das Verhältnis der Kaukasusvölker untereinander ist traditionell schlecht. Diese Tatsache erleichterte das Vordringen Russlands im 18. und 19. Jahrhundert beträchtlich. Bereits zu Anfang dieser Expansion stellten sich ossetische Fürsten unter russischen Schutz. Das heutige Südossetien war damals allerdings Teil Georgiens, das erst von 1801 an unter russischen Einfluss geriet. 1842 schuf das Zarenreich dort den ossetischen "Okrug", um den der derzeitige Krieg geht.
Am 10. November 1989 beschloss der Oberste Sowjet des Bezirks gegen den Willen Moskaus die Gründung einer Südossetischen Autonomen Sowjetrepublik. Nach kriegerischen Auseinandersetzungen mit georgischen Truppen erklärte sich ein Teil des Gebiets 1990 für unabhängig, dort konnte sich seitdem ein De-Facto-Regime stabilisierte. Dazu trug maßgeblich bei, dass Boris Jelzin, damals russischer Präsident, und Eduard Schewardnadse, der ehemalige Staatschef Georgiens, im Juni 1992 ein Waffenstillstandsabkommen unterzeichneten. In der Folge sorgten circa 1.500 russische, südossetische und georgische Soldaten sechzehn Jahre lang für relativen Frieden. Beaufsichtigt wurden die Truppen von einer Kontrollkommission, in der Vertreter der georgischen und der russischen Regierungen sowie Süd- und Nordosseten mitarbeiteten.
Während dieser Zeit wurde in Südossetien vieles wie im nördlichen Nachbarn, der russischen Teilrepublik: die Amtssprachen sind Ossetisch und Russisch, man zahlt mit russischen Rubeln und angeblich 95 % der Einwohner des De-Facto-Staates haben die russische Staatsbürgerschaft inne. Im Regierungs- und Verwaltungsapparat finden sich bemerkenswert viele Russen in Spitzenpositionen - keine lange in Südossetien ansässigen, sondern neu zugewanderte - man möchte fast meinen "versetzte" - Fachkräfte. Premierminister Juri Morosow (ein russischer Industrieller), Geheimdienstchef Anatoli Baranow (vormals Chef des FSB in der wolgafinnischen Teilrepublik Mordwinien) und Verteidigungsminister Wasilij Lunew sprechen angeblich kein Ossetisch.
Inwieweit dies die südossetische Bevölkerung als Problem sieht, ist schwer zu ermitteln: In jedem Fall scheint der Schutzmachtstatus in Nord- wie in Südossetien zumindest insofern erwünscht zu sein, als auch das Verhältnis zu den im Osten des Siedlungsgebietes ansässigen Inguschen und den mit ihnen eng verwandten Tschetschenen traditionell schlecht ist. Das 2004 von Wahabiten verübte Massaker in der Schule in Beslan war nicht der einzige Terrorakt, den Gewalttäter aus den östlichen Nachbarrepubliken auf ossetischem Gebiet verübten.
Bei der russischen Mehrheitsbevölkerung stößt die Anlehnung der Osseten nur bedingt auf Gegenliebe: Sie haben in Moskau einen ähnlich schlechten Ruf wie die Georgier - mit dem feinen Unterschied, dass letztere eher als Einbrecher und Glücksspielbetrüger gelten, erstere dagegen als Straßenräuber.