Krieg gegen die Hamas: Was ist Israels Endgame?
Seite 2: Den Rasen mähen, den Rasen entwurzeln
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Wer sich in der modernen Geschichte bei dem umschaut, was der renommierte Professor für US-Außenpolitik und ehemaliger Berater des Weißen Hauses, William R. Polk, als "Violent Politics" bezeichnet, der kann eine durchgängige Lehre aus gewaltsamen Besatzungen von fremden Territorien nicht übersehen: Gewaltkaskaden von Besatzungsmächten führen nicht zur Stabilisierung. Im Gegenteil. Früher oder später müssen die Besatzer einsehen, dass es nicht weiter geht und werden gezwungen, die Okkupation aufzugeben.
Eine weitere, eher technische Frage ist: Wie will Israel mit einer ausgelöschten Hamas den Gazastreifen und die Palästinenser dort verwalten und in Schach halten? Soll es eine militärische Dauerpräsenz, eine Art permanenten Kriegszustand in der Enklave geben? Das kann Israel nicht wollen, auch angesichts der eigenen Verluste von Soldaten, die das mit sich brächte – und wird auch wohl nicht eintreten.
Ein Vorschlag, der in den Mainstreammedien im Westen diskutiert wird, ist eine Administration durch ausländische Staaten. Auf BBC erklärte Lord Peter Ricketts, der ehemalige Vorsitzende des britischen Geheimdienstausschusses unter Tony Blair und ehemalige nationale Sicherheitsberater von David Cameron, dass "gemäßigte arabische Länder zusammenkommen und eine Art von Stabilität" im von der Hamas gesäuberten Gazastreifen schaffen sollten.
Es müsste "eine Art gemäßigte arabische Koalition geben, die einige gemäßigte Palästinenser zusammentrommeln, die bereit sind, mit Israel zusammenzuarbeiten". Der prominente Nahost-Experte räumte dabei ein, dass es "eigentlich ein ziemlich mutiges Land wäre, das die Verwaltung des Gazastreifens übernehmen könnte", aber er sehe "keine andere Alternative".
Wer sich die Lage und Stimmungen von infrage kommenden arabischen Staaten angesichts der israelischen Gaza-Bombardierungen und weltweiten Proteste dagegen anschaut, von Jordanien und Marokko über Bahrein und Sudan bis hin zu den Vereinigten Arabischen Emiraten und Libyen, ist wohl kaum gewillt, dieser alternativlosen Lösung irgendeine Chance auf Umsetzung zuzubilligen.
Zudem ist es natürlich keine "Lösung", sondern eine weitere Erniedrigung der Palästinenser durch eine outgesourcte Besatzungsadministration. Das Modell "Westjordanland", bei dem eine korrupte, mit Privilegien versehene Palästinenser-Elite versucht, einigermaßen für Ruhe zu sorgen und mit Israel kooperierend jeglichen Protest zu unterdrücken, ist ja einer der zentralen Gründe gewesen, warum die Hamas überhaupt entstand und große Zustimmung erhielt.
Und das gilt mehr oder weniger bis heute: Eine Umfrage unter Palästinensern im Dezember 2022 ergab, dass Präsident Mahmud Abbas von der Fatah-Bewegung, wenn er gegen den Chef des politischen Büros der Hamas, Ismail Haniyeh, antreten müsste, Haniyeh mit 58 Prozent der Stimmen gewinnen würde, gegenüber 35 Prozent für Abbas.
Im Übrigen kollabiert das Westjordanland-Modell zunehmend. Jetzt könnte dort eine neue Intifada entzündet werden.
Wahrscheinlich ist die präferierte Lösung innerhalb der Netanjahu-Regierung aber etwas anderes. Wie auf Telepolis berichtet, gibt es mehrere, auch aktuelle Pläne, von der rechtsgerichteten Siedlerpartei unter der Führung von Bezalel Smotrich über die israelische Denkfabrik Misgav Institute for National Security & Zionist Strategy bis zum israelischen Ministerium für Nachrichten- und Geheimdienste, angeführt von Minister Gila Gamliel (Likud), die eine ethnische Säuberung des Gazastreifens vorsehen.
Ägypten soll dabei die Vertriebenen aufnehmen, während eine militärische Sperrzone über mehrere Kilometer breit sie daran hindern soll, in ihre Heimat zurückzukehren. Aber selbst Nahost-Experte Peter Ricketts sieht das auf BBC als nicht realisierbar an. Keine Regierung in Kairo werde es jemals akzeptieren.
Zudem würde eine solche Vertreibung die Kosten für Israel in die Höhe treiben: mögliche internationale Klagen gegen die Säuberung; weiterer Ansehensverlust Israels in der ganzen Welt, auch in den USA und Europa (zumindest bei der Bevölkerung und in der Zivilgesellschaft, was wieder Druck auf die Regierungen erzeugt); ein drohender regionaler Krieg mit arabischen Nachbarstaaten, insbesondere mit Iran und der Hisbollah im Libanon; sowie interne Verwerfungen innerhalb Israels.
Ob Netanjahu die blutigen Massenbombardements der Gaza-Eskalation, wenn es so weitergeht und am Ende Bilanz gezogen wird, politisch überlebt, ist fraglich, auch wenn er ein Machtmensch mit Stehauf-Qualitäten ist. Es gibt jetzt schon Anzeichen, dass es in der Regierung Auseinandersetzungen und Spaltungen gibt.
Immer lauter wird zudem in Israel gefordert, dass über den von der Hamas angebotenen Geisel-vs.-Gefangenen-Austausch verhandelt werden soll. Viele Angehörige der Geiseln schließen sich einem solchen Deal an. Es sei der einzige Weg, die Entführten lebend zu befreien. Doch Netanjahu votiert einzig für militärische Gewalt, und setzt damit das Leben der Geiseln aufs Spiel. Ein mögliches Geisel-Desaster könnte Netanjahu auf die Füße fallen.
Am Ende sieht es so aus: Israel schießt seit fast einem Monat aus allen Rohren auf Gaza, und ist auch schon mit Bodentruppen darin vorgerückt. Ist die Hamas verschwunden oder substanziell geschwächt worden? Wird das in Monaten anders aussehen? Ist die Organisation seit 2008 im Zuge der bisher fünf Gaza-Kriege Israels zum Verschwinden gebracht worden?
Die Wahrheit ist: Die israelische Regierung hat wie die ihr vorausgegangenen keinen politischen Plan, keinen Plan für danach. Es ging immer nur darum, "den Rasen zu mähen", so nennt man in Israel die Bombardierung von Gaza alle paar Jahre. Man setzte auf Gewalt und Zerstörung, die wieder Gewalt erzeugte. Bis zum nächsten Rasenmähen.
Doch diesmal ist etwas anders: Früher konnte man zurückkehren zum Status quo, das wussten beide Seiten auch. Diese Option gibt es nicht mehr. Auch das wissen beide Seiten. Wie der Professor für moderne arabische Studien der Columbia University in den USA, Rashid Khalidi, sagt: Eine neue Ära in Nahost ist angebrochen. Nur, wohin geht es?
Die Netanjahu-Regierung hat bisher nur eine Antwort, nicht nur in ihrer extremistischen, mit Holocaust- und Nazi-Vergleichen gespickten Rhetorik gegen Palästinenser, sondern auch im Handeln: uneingeschränkte, undifferenzierte, an Völkermord und ethnische Säuberung reichende militärische Gewaltanwendung gegen eine Zivilbevölkerung, die in einen Gaza-Käfig eingesperrt ist. Und das unter dem offiziellen Ziel: Hamas-Eliminierung. Aber die führt ins Nichts.
Israel hat faktisch kein politisches Endgame, außer der irrigen Hoffnung darauf, dass sich die okkupierten Palästinenser ihrem Schicksal fügen, ihre garantierten Rechte komplett aufgeben und irgendwie verschwinden oder zum Verschwinden gebracht werden.
Man muss die Gewaltspirale nur bis ans Ende drehen, so lautet die implizite Doktrin, die nun in Israel wild wuchert. Das einflussreiche Begin-Sadat Center for Strategic Studies an der Ba-Ilan Universität in Israel schrieb am 22. Oktober in einem Perspektiven-Papier: Jetzt gehe es nicht mehr ums Rasen mähen. Der Rasen müsse final entwurzelt werden.
Wir kennen diese Rhetorik aus dem "War on Terror" der USA, der vor 22 Jahren startete. Und wir wissen, welche großen Erfolge er weltweit zeitigte.
Redaktionelle Anmerkung: Es wurde bei den Luftschlägen gegen Fluchtkonvois klärend eingefügt: "laut palästinensischen Behörden".