Krieg gegen die Hamas: Was ist Israels Endgame?

Wolf Blitzer von CNN interviewt den Sprecher der israelischen Verteidigungsstreitkräfte, Richard Hecht, zur Bombardierung des Flüchtlingscamps Jabalia am Dienstag. Bild: Screenshot CNN

Die Hamas-Eliminierung wird von der Netanjahu-Regierung propagiert. Aber das ist ein Weg ins Nichts. Wohin steuert Israel mit der Gewalteskalation, welchem Plan folgt man?

Israel bombardiert den 27. Tag in Folge den Gazastreifen, während die belagerte palästinensische Enklave mit einer wachsenden humanitären Katastrophe konfrontiert ist. Das Flüchtlingslager Jabalia wurde gestern zum zweiten Mal innerhalb von weniger als 24 Stunden unter Beschuss genommen und in großen Teilen dem Erdboden gleichgemacht.

Am Dienstag wurden beim ersten Flächenangriff auf das dicht besiedelte Lager nach Angaben der Gesundheitsbehörden mindestens 50 Menschen getötet. Auf CNN befragte der Star-Moderator Wolf Blitzer den Sprecher der israelischen Verteidigungsstreitkräfte, Richard Hecht, zu der Bombardierung. Nach Hechts Erklärung, dass ein Hamas-Kommandeur in der Gegend gewesen sei, fragte Blitzer:

Sie wussten, dass es dort Flüchtlinge gab, alle Arten von Flüchtlingen, aber Sie haben trotzdem beschlossen, eine Bombe auf dieses Flüchtlingslager zu werfen, um den Hamas-Kommandeur zu töten?

Darauf antwortete der israelische Militärsprecher: "Das ist die Tragödie des Krieges, Wolf. Wie wir schon seit Tagen sagen, sie sollen in den Süden gehen." Israel bombardiert jedoch auch im Süden und hat laut palästinensischen Behörden selbst Fluchtkonvois beschossen, mit Dutzenden Toten.

Die israelische Armee hat seit dem 7. Oktober 18.000 Tonnen Bomben auf den Gazastreifen abgeworfen. Das entspricht etwa der 1,5-fachen Sprengkraft der Atombombe, die im Zweiten Weltkrieg auf Hiroshima in Japan abgeworfen wurde, berichtet die türkische Nachrichtenagentur Anadolu Agency.

Bis jetzt sind dabei mindestens 8.796 Gaza-Bewohner getötet worden, darunter 3.648 Kinder und 2.290 Frauen. Alle zehn Minuten kommt in Gaza ein Kind gewaltsam zu Tode. Dazu kommen mehr als 22.219 Verletzte, über die Hälfte davon Kinder und Frauen.

Im besetzten Westjordanland wurden seit dem Gaza-Krieg mindestens 128 Menschen getötet und 1.980 verletzt. Dort stieg außerdem die Zahl der inhaftierten Palästinenser, die von Menschenrechtsorganisationen als politische Gefangene angesehen werden, von 5.200 in den letzten drei Wochen auf 10.000 Palästinenser.

Salama Marouf, Leiter des Medienbüros der Gaza-Behörden, sagte vor Pressevertretern, dass die israelischen Streitkräfte neben Krankenhäusern auch 85 Regierungsgebäude im Gazastreifen zerstört hätten.

In Gaza hat Israel 47 Moscheen zerstört und drei Kirchen schwer beschädigt. Durch die Angriffe wurden mehr als 200.000 Gebäude beschädigt, von denen 32.500 unbewohnbar geworden sind. 203 Schulen wurden schwer beschädigt, und 45 Schulen sind jetzt völlig unbrauchbar. Aufgrund der Intensität der Angriffe sind die Statistiken noch nicht vollständig.

Gleichzeitig dringt das israelische Militär immer tiefer in den Nordteil des Gazastreifens ein. Seit der Evakuierungsanordnung Israels sind von dort über eine Million Menschen in den Südteil geflohen.

Die Frage angesichts der anhaltenden Bombardierungen und militärischen Eskalation ist: Was ist Israels Endgame, worauf zielt Tel Aviv politisch nach einem Kriegsende irgendwann in der Zukunft ab?

Von der israelischen Seite ist immer wieder in deutlichen Worten klargestellt worden, dass man nicht eher mit der Militäroffensive aufhören werde, bis die Hamas komplett zerstört ist, während israelische Offizielle Palästinenser entmenschlichen bzw. zu "menschlichen Tieren" degradieren.

So empörte sich der ehemalige israelische Premierminister Naftali Bennett in einem Interview mit Sky News darüber, dass es der Moderator wage, von Zivilisten im Gazastreifen zu sprechen. Man bekämpfe "Nazis". Überall wird von israelischen Politikern, Abgeordneten und Regierungsvertretern eine genozidale Sprache benutzt. Sie betonen öffentlich und unmissverständlich: "Gaza soll ausgelöscht werden".

Tel Aviv hat zudem sehr klar erklärt: Es gibt kein Zurück mehr zum Status quo in Gaza. Man richte sich auf einen komplizierten, langen Kampf ein.

Niemand kann jedoch ernsthaft der Meinung sein, dass eine umfassende Hamas-Eliminierung militärisch erreicht werden kann. Ganz abgesehen davon, ob das überhaupt legitim ist. Gaza und Hamas repräsentieren ja keinen Staat, gegen den man Krieg führen kann oder sich selbst verteidigt.

Es gilt das Rechtsstaatsprinzip insbesondere für besetzte Gebiete, bei dem das internationale Recht dem Besatzer klare Pflichten auferlegt für die von ihm besetzte Bevölkerung. Personen, die wie im Fall der Hamas-Attacken schwere Verbrechen begangen haben, müssen danach ermittelt und vor Gericht gestellt werden.

Das Gleiche gilt natürlich ebenfalls für die vielen Verbrechen, die israelische Soldaten und Siedler gegen Palästinenser in den besetzten Gebieten begangen haben und begehen (tatsächlich in der Anzahl über die Jahre um ein Vielfaches größer als die von Palästinensern). Während jedoch die israelischen Verbrechen straffrei bleiben, wird nun erneut die palästinensische Bevölkerung in Gaza kollektiv bestraft.

Natürlich gäbe es für Israel noch einen anderen, zivilen Weg, das "Terrorproblem" zu mindern und zu beseitigen: sich selber nicht mehr am Terror zu beteiligen. Seit Jahrzehnten wird zudem von vielen Seiten ein Ende der israelischen Besatzungspolitik, ein Ausstieg aus dem, was Menschenrechtsorganisationen Apartheid nennen sowie ernsthafte Verhandlungen über eine Zweistaatenlösung auf der Grundlage internationalen Rechts und den Resolutionen der UN-Weltgemeinschaft gefordert.

Aber das schließt Israel – trotz Forderungen und Drängen der Weltgemeinschaft und aller relevanten Organisationen – seit Jahrzehnten kategorisch aus. Vielmehr hat die "einzige Demokratie im Nahen Osten" bei Verhandlungen und Angeboten von palästinensischer Seite wieder und wieder Expansion (Siedlungsausbau, Annexion, Verdrängung der Bevölkerung) über Sicherheit gestellt, wie Nahost-Analytiker wie Noam Chomsky es bezeichnen.

Aber selbst wenn eine militärische "Lösung" denkbar wäre, würde das über Wochen und Monate ein noch verheerenderes Blutbad als bisher schon unter palästinensischen Zivilisten in Gaza anrichten. Humanitär wäre es ein Alptraum.

Zudem gibt es jetzt schon gewichtige Warnungen, dass das Vorgehen der Netanjahu-Regierung als Völkermord eingestuft und verfolgt werden könnte. Auch der Internationale Gerichtshof spricht von möglichen Kriegsverbrechen Israels.

Und dann stellt sich die Frage: Was kommt nach der gewaltsamen "Lösung" der "Hamas-Frage", sollte sie gelingen? Würden sich die Palästinenser daraufhin schweigend in ihr Schicksal begeben und als geläuterte Besetzte in ihr ärmliches Leben zurückkehren, eingepfercht in das, was vom Gazastreifen noch übrigbleibt (vielleicht nur noch der Südteil, die Hälfte vom Gaza-Käfig, während der Nordteil dauerhaft von Israel geräumt wird), ohne irgendeine Perspektive, jemals ihre Rechte, ihre Würde als Gemeinschaft und Volk erhalten zu können?

Man bedenke: Jeder der Gaza-Überlebenden müsste nach solch einem Szenario viele seiner Verwandten und Freunde betrauern, Zehntausende wahrscheinlich, die von Israel im Zuge der Hamas-Eliminierung getötet würden. Dazu kämen Massen an Verletzten und die Zerstörungen.

Den Rasen mähen, den Rasen entwurzeln

Wer sich in der modernen Geschichte bei dem umschaut, was der renommierte Professor für US-Außenpolitik und ehemaliger Berater des Weißen Hauses, William R. Polk, als "Violent Politics" bezeichnet, der kann eine durchgängige Lehre aus gewaltsamen Besatzungen von fremden Territorien nicht übersehen: Gewaltkaskaden von Besatzungsmächten führen nicht zur Stabilisierung. Im Gegenteil. Früher oder später müssen die Besatzer einsehen, dass es nicht weiter geht und werden gezwungen, die Okkupation aufzugeben.

Eine weitere, eher technische Frage ist: Wie will Israel mit einer ausgelöschten Hamas den Gazastreifen und die Palästinenser dort verwalten und in Schach halten? Soll es eine militärische Dauerpräsenz, eine Art permanenten Kriegszustand in der Enklave geben? Das kann Israel nicht wollen, auch angesichts der eigenen Verluste von Soldaten, die das mit sich brächte – und wird auch wohl nicht eintreten.

Ein Vorschlag, der in den Mainstreammedien im Westen diskutiert wird, ist eine Administration durch ausländische Staaten. Auf BBC erklärte Lord Peter Ricketts, der ehemalige Vorsitzende des britischen Geheimdienstausschusses unter Tony Blair und ehemalige nationale Sicherheitsberater von David Cameron, dass "gemäßigte arabische Länder zusammenkommen und eine Art von Stabilität" im von der Hamas gesäuberten Gazastreifen schaffen sollten.

Es müsste "eine Art gemäßigte arabische Koalition geben, die einige gemäßigte Palästinenser zusammentrommeln, die bereit sind, mit Israel zusammenzuarbeiten". Der prominente Nahost-Experte räumte dabei ein, dass es "eigentlich ein ziemlich mutiges Land wäre, das die Verwaltung des Gazastreifens übernehmen könnte", aber er sehe "keine andere Alternative".

Wer sich die Lage und Stimmungen von infrage kommenden arabischen Staaten angesichts der israelischen Gaza-Bombardierungen und weltweiten Proteste dagegen anschaut, von Jordanien und Marokko über Bahrein und Sudan bis hin zu den Vereinigten Arabischen Emiraten und Libyen, ist wohl kaum gewillt, dieser alternativlosen Lösung irgendeine Chance auf Umsetzung zuzubilligen.

Zudem ist es natürlich keine "Lösung", sondern eine weitere Erniedrigung der Palästinenser durch eine outgesourcte Besatzungsadministration. Das Modell "Westjordanland", bei dem eine korrupte, mit Privilegien versehene Palästinenser-Elite versucht, einigermaßen für Ruhe zu sorgen und mit Israel kooperierend jeglichen Protest zu unterdrücken, ist ja einer der zentralen Gründe gewesen, warum die Hamas überhaupt entstand und große Zustimmung erhielt.

Und das gilt mehr oder weniger bis heute: Eine Umfrage unter Palästinensern im Dezember 2022 ergab, dass Präsident Mahmud Abbas von der Fatah-Bewegung, wenn er gegen den Chef des politischen Büros der Hamas, Ismail Haniyeh, antreten müsste, Haniyeh mit 58 Prozent der Stimmen gewinnen würde, gegenüber 35 Prozent für Abbas.

Im Übrigen kollabiert das Westjordanland-Modell zunehmend. Jetzt könnte dort eine neue Intifada entzündet werden.

Wahrscheinlich ist die präferierte Lösung innerhalb der Netanjahu-Regierung aber etwas anderes. Wie auf Telepolis berichtet, gibt es mehrere, auch aktuelle Pläne, von der rechtsgerichteten Siedlerpartei unter der Führung von Bezalel Smotrich über die israelische Denkfabrik Misgav Institute for National Security & Zionist Strategy bis zum israelischen Ministerium für Nachrichten- und Geheimdienste, angeführt von Minister Gila Gamliel (Likud), die eine ethnische Säuberung des Gazastreifens vorsehen.

Ägypten soll dabei die Vertriebenen aufnehmen, während eine militärische Sperrzone über mehrere Kilometer breit sie daran hindern soll, in ihre Heimat zurückzukehren. Aber selbst Nahost-Experte Peter Ricketts sieht das auf BBC als nicht realisierbar an. Keine Regierung in Kairo werde es jemals akzeptieren.

Zudem würde eine solche Vertreibung die Kosten für Israel in die Höhe treiben: mögliche internationale Klagen gegen die Säuberung; weiterer Ansehensverlust Israels in der ganzen Welt, auch in den USA und Europa (zumindest bei der Bevölkerung und in der Zivilgesellschaft, was wieder Druck auf die Regierungen erzeugt); ein drohender regionaler Krieg mit arabischen Nachbarstaaten, insbesondere mit Iran und der Hisbollah im Libanon; sowie interne Verwerfungen innerhalb Israels.

Ob Netanjahu die blutigen Massenbombardements der Gaza-Eskalation, wenn es so weitergeht und am Ende Bilanz gezogen wird, politisch überlebt, ist fraglich, auch wenn er ein Machtmensch mit Stehauf-Qualitäten ist. Es gibt jetzt schon Anzeichen, dass es in der Regierung Auseinandersetzungen und Spaltungen gibt.

Immer lauter wird zudem in Israel gefordert, dass über den von der Hamas angebotenen Geisel-vs.-Gefangenen-Austausch verhandelt werden soll. Viele Angehörige der Geiseln schließen sich einem solchen Deal an. Es sei der einzige Weg, die Entführten lebend zu befreien. Doch Netanjahu votiert einzig für militärische Gewalt, und setzt damit das Leben der Geiseln aufs Spiel. Ein mögliches Geisel-Desaster könnte Netanjahu auf die Füße fallen.

Am Ende sieht es so aus: Israel schießt seit fast einem Monat aus allen Rohren auf Gaza, und ist auch schon mit Bodentruppen darin vorgerückt. Ist die Hamas verschwunden oder substanziell geschwächt worden? Wird das in Monaten anders aussehen? Ist die Organisation seit 2008 im Zuge der bisher fünf Gaza-Kriege Israels zum Verschwinden gebracht worden?

Die Wahrheit ist: Die israelische Regierung hat wie die ihr vorausgegangenen keinen politischen Plan, keinen Plan für danach. Es ging immer nur darum, "den Rasen zu mähen", so nennt man in Israel die Bombardierung von Gaza alle paar Jahre. Man setzte auf Gewalt und Zerstörung, die wieder Gewalt erzeugte. Bis zum nächsten Rasenmähen.

Doch diesmal ist etwas anders: Früher konnte man zurückkehren zum Status quo, das wussten beide Seiten auch. Diese Option gibt es nicht mehr. Auch das wissen beide Seiten. Wie der Professor für moderne arabische Studien der Columbia University in den USA, Rashid Khalidi, sagt: Eine neue Ära in Nahost ist angebrochen. Nur, wohin geht es?

Die Netanjahu-Regierung hat bisher nur eine Antwort, nicht nur in ihrer extremistischen, mit Holocaust- und Nazi-Vergleichen gespickten Rhetorik gegen Palästinenser, sondern auch im Handeln: uneingeschränkte, undifferenzierte, an Völkermord und ethnische Säuberung reichende militärische Gewaltanwendung gegen eine Zivilbevölkerung, die in einen Gaza-Käfig eingesperrt ist. Und das unter dem offiziellen Ziel: Hamas-Eliminierung. Aber die führt ins Nichts.

Israel hat faktisch kein politisches Endgame, außer der irrigen Hoffnung darauf, dass sich die okkupierten Palästinenser ihrem Schicksal fügen, ihre garantierten Rechte komplett aufgeben und irgendwie verschwinden oder zum Verschwinden gebracht werden.

Man muss die Gewaltspirale nur bis ans Ende drehen, so lautet die implizite Doktrin, die nun in Israel wild wuchert. Das einflussreiche Begin-Sadat Center for Strategic Studies an der Ba-Ilan Universität in Israel schrieb am 22. Oktober in einem Perspektiven-Papier: Jetzt gehe es nicht mehr ums Rasen mähen. Der Rasen müsse final entwurzelt werden.

Wir kennen diese Rhetorik aus dem "War on Terror" der USA, der vor 22 Jahren startete. Und wir wissen, welche großen Erfolge er weltweit zeitigte.

Redaktionelle Anmerkung: Es wurde bei den Luftschlägen gegen Fluchtkonvois klärend eingefügt: "laut palästinensischen Behörden".