Krieg im Nordirak: Schwere Giftgas-Vorwürfe gegen Türkei
Seite 2: Warum führt die Türkei eigentlich diesen Krieg?
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In den staatlich kontrollierten türkischen Medien geht es eigentlich immer nur um den Kampf gegen die PKK. In den 1980-er Jahren waren mit dieser Begründung außergerichtliche Tötungen, Folter, Vertreibung der kurdischen Bevölkerung und das Niederbrennen von Dörfern schon einmal an der Tagesordnung. In den 1990er-Jahren begann die Türkei Giftgas in den kurdischen Gebieten im Südosten der Türkei gegen vermeintliche Widerstandsnester einzusetzen.
Tausende von Zivilisten, darunter viele Kinder, starben bei diesen Angriffen. Obwohl die Türkei damals schon gegen das Verbot vom Einsatz von Chemiewaffen verstieß, blieb das folgenlos. Bis heute. Bei der Annektion der nordsyrischen Stadt Serekaniye am 17. Oktober 2019 wurde weißer Phosphor eingesetzt. Die Bilder des kurdischen Jungen Mohammed Hamid Mohammed aus Serekaniye, der bei einem türkischen Luftangriff mit weißen Phosphorbomben auf seine Heimatstadt schwere Verletzungen erlitten hatte, gingen in den Social Media weltweit viral. In Frankreich konnte der Junge in einer Spezialklinik jedoch erfolgreich behandelt werden. Aber er wird für sein Leben gezeichnet bleiben und sicherlich die Täter nicht vergessen. Es wird sein Leben prägen.
Heute wird immer deutlicher, dass es um viel mehr als die PKK geht. Erdogan hat sich einerseits zum Ziel gesetzt, bis 2023, dem 100-jährigen Bestehen der Republik Türkei, der türkischen Bevölkerung ein neues, neo-osmanisches Reich mit ihm als "Kalifen" zu präsentieren. Zu seinem Reich sollen auch große Gebiete von Nordsyrien und Nordirak gehören.
Das ist Teil der Propaganda, um das wirtschaftlich darbende Volk in der Türkei irgendwie über den tief verankerten Nationalismus noch bei der Stange zu halten. Bis jetzt hat das ja noch einigermaßen funktioniert, selbst die kemalistische CHP feierte den Einmarsch der Türkei in Afrin, in den Moscheen in Deutschland wurde für den Erfolg der Militäroperation gebetet.
Andererseits will die türkische Regierung in Nordsyrien wie im Nordirak verhindern, dass sich eine unabhängige kurdische Entität entwickelt. Ein demokratisches Selbstverwaltungssystem in Nordsyrien an der Grenze zur Türkei ist eine reale Bedrohung für das System Erdogan.
Wenn es Schule macht, könnte es ja auch in der Türkei oder im Nordirak auf Sympathie in Teilen der Bevölkerung stoßen. Im Nordirak setzt die Türkei daher auf Kooperation mit der konservativen, feudalistischen kurdischen Barzani-Regierung, die selbst mit den Demokratiebestrebungen in der eigenen kurdischen Bevölkerung zu kämpfen hat.
Im Regierungsgebiet der KDP mehren sich ebenfalls die kritischen Stimmen in der Bevölkerung, die unter der ökonomischen Krise und der ausufernden Korruption des Barzani-Clans leidet. Die Sympathien für die PKK steigen im Nordirak, je präsenter die türkische Armee dort ist und je offensichtlicher die Zusammenarbeit zwischen der KDP und dem türkischen Militär gegen die oppositionelle kurdische Bevölkerung wird.
Die Bevölkerung glaubt der Propaganda der KDP nicht mehr, dass das Problem die PKK sei. Sie befürchten vielmehr einen Bruderkrieg, vor dem die PKK immer wieder mahnt und zum Zusammenhalt der kurdischen Bevölkerung gegen die Expansionspläne der Türkei aufruft. Nach Erdogans Willen sollen diese unruhigen Regionen nun möglichst schnell unter türkische Kontrolle kommen, bevor die Stimmung im Nordirak und in der Türkei weiter zu seinen Ungunsten kippt.
Fernsehsender, die der türkischen Regierungspartei AKP nahestehen, haben mehrfach Landkarten gezeigt, auf denen der Nordirak einschließlich der Erdölstadt Kirkuk als türkisches Staatsgebiet beansprucht wird. Bei der nordirakischen KDP stößt das nicht auf Widerstand, denn es gibt viele Gemeinsamkeiten mit Erdogans AKP. Der Barzani-Clan gehört ebenfalls der sunnitischen Richtung des Islams an. Er ist nicht sonderlich interessiert an der gleichberechtigten Beteiligung anderer ethnischer oder religiöser Minderheiten, worunter vor allem die Christen und Eziden zu leiden haben.
Und es handelt sich bei beiden Parteien um eine stramme Männerherrschaft, in der Korruption und Begünstigungen des Clans oder der Parteimitglieder unhinterfragte Realität sind. Beide Parteien haben in der Bevölkerung an Zuspruch verloren. Und beide Parteien verstehen es gut, mit Verschwörungstheorien über die USA, Europa, die demokratische Opposition im Land, die Frauen...- alles je nach Bedarf einsetzbar - von ihren eigenen, hausgemachten Problemen abzulenken.
Die ländliche, traditionelle Bevölkerung ist dafür in beiden Ländern sehr empfänglich. Die zunehmende fundamentalistische Islamisierung gepaart mit Nationalismus und autoritärer Herrschaft in dieser Region sollte für westliche Regierungen mit Blick auf Afghanistan ein Alarmsignal sein.
Warnrufe gibt es derzeit von allen Seiten. Die Bundesregierung scheint jedoch beratungsresistent zu sein und setzt immer noch auf den Erdogan-Clan, während sich die USA und europäische Staaten wie Frankreich zunehmend von der Türkei abwenden.