Krieg im Nordirak: Schwere Giftgas-Vorwürfe gegen Türkei
Ihre Militärs sollen beim Kampf gegen Guerillakämpfer neuartige Kampfstoffe einsetzen
Seit Monaten führt die Türkei einen völkerrechtswidrigen Krieg im Nordirak und begeht, wie ihr vorgeworfen wird, offenbar schwere Kriegsverbrechen. Laut Zeugenaussagen soll sie seit einiger Zeit auch Giftgas einsetzen. Das wäre ein Verstoß gegen die Chemiewaffenkonvention (CWÜ) zum Verbot von Chemiewaffen, das die Türkei selbst unterzeichnet hat. Von den westlichen Medien und auch von den westlichen Regierungen gibt es nur beredtes Schweigen.
Würde Russland im Inland oder in einem seiner Nachbarländer Giftgas gegen die Opposition einsetzen, wäre das Medieninteresse und der Protest immens. Die westlichen Regierungen würden baldigst mit Sanktionen reagieren. Dem Nato-Mitglied Türkei scheint demgegenüber jedes Mittel gegen die Opposition erlaubt zu sein - sei es gegen die demokratische Partei HDP im Inland oder die Guerillaeinheiten der kurdischen Arbeiterpartei PKK im Irak. Diese Doppelmoral wirft ein bezeichnendes und beschämendes Bild auf den Zustand der Nato und der EU.
Die höchste belgische Gerichtsinstanz hat im Jahr 2020 mehrere Gerichtsurteile bestätigt, wonach die PKK "keine terroristische Organisation", sondern eine Partei in einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt sei.
Verpflichtung zur Einhaltung von Abkommen
In der Bewertung der militärischen Auseinandersetzungen ist es unerheblich, ob man in Europa die jeweiligen politischen Ziele der beiden Kriegsparteien teilt. Beide Kriegsparteien müssen sich an die Konventionen z. B. im Umgang mit Kriegsgefangenen, dem Schutz der Zivilbevölkerung oder Kulturgütern halten. Das gilt für alle Länder, die die entsprechenden Abkommen und Konventionen unterzeichnet haben - auch für die Türkei.
Doch was interessiert den türkischen Präsidenten, was in der Vergangenheit unterzeichnet wurde? Erdogan verstößt seit Jahren gegen die eigene Verfassung und gegen internationaIe Abkommen: Der ehemalige HDP-Vorsitzende Demirtas sitzt immer noch im Gefängnis, obwohl der Europäische Menschenrechtsgerichtshof seine Freilassung angeordnet hat.
In Nordsyrien wurde die Zivilbevölkerung aus den türkisch besetzten Gebieten Afrin, Serekaniye und Gire Spi systematisch vertrieben. Das ist ein vom UN-Sicherheitsrat verurteilter Verstoß gegen die UN-Charta. Olivenplantagen wurden entweder zerstört oder die Ernte in die Türkei verbracht. Kirchen, ezidische Heiligtümer, Friedhöfe, archäologische Stätten wurden geplündert und zerstört.
Ein klarer Verstoß gegen die Genfer Konventionen besteht darin, dass Wasser des Euphrat in der Türkei gestaut und die vertraglich geregelte Wassermenge der Region vorenthalten wird. Missernten und Wasserknappheit sind die gewollte Folge dieser Wasserpolitik.
Im Nordirak rodet die Türkei die Wälder und transportiert das Holz zur Verarbeitung in die Türkei. In unzugänglichen Gebieten werden durch Brandsätze aus Helikoptern die Wälder in der Region abgebrannt. Über die ökologischen Folgen für die Region redet niemand, aber die Revolverblätter in der Türkei überbieten sich mit Erfolgsmeldungen über den Kampf gegen die PKK durch diesen Raubbau an der Natur.
Giftgas gegen die Guerilla
Der Krieg der Türkei im Nordirak richtet sich nach Aussagen der türkischen Regierung gegen die Guerillaeinheiten der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). In der Realität trifft es aber auch immer wieder die Zivilbevölkerung in den Dörfern der Grenzregion in Metina, Zap und Avasin.
Seit den 1980-er Jahren ist die PKK im Nordirak in den Bergen der Grenzregion zur Türkei ansässig. Sie nennt diese Gebiete "Medya-Verteidigungsgebiete". Die Region Avasin mit dem Bergmassiv Werxele ist quasi der Eingang in das Rückzugsgebiet der PKK und wird von der Türkei mit Kampfflugzeugen, Kampfhubschraubern und bewaffneten Drohnen heftig attackiert, denn mit dem Absetzen von Bodentruppen scheiterte das türkische Militär kläglich.
Sie traten angesichts des Widerstands der PKK die Flucht an und hinterließen große Mengen an Sprengstoff und anderes militärisches Material. Darunter befand sich auch ein Sprengstoffdetektor aus deutscher Produktion einer im schwäbischen Achalm ansässigen Firma - ein erneuter Hinweis darauf, dass die von Deutschland an die Türkei gelieferten Waffen und anderes militärisches Equipment auch völkerrechtswidrig zum Einsatz kommen.
Nun versucht die Türkei, wie ihr vorgeworfen wird, mit dem Einsatz von völkerrechtlich geächtetem Giftgas das Gebiet zu erobern. Mehrere Guerillakämpfer seien dadurch getötet worden. Bereits 300 Mal soll nach Angaben der PKK in den letzten Wochen Giftgas eingesetzt worden sein.
Um welche Kampfstoffe es sich im Einzelnen handelt, ist nicht bekannt. Erst letzte Woche wurden fünf Guerillakämpfer durch ein neues, scheinbar noch aggressiveres Giftgas getötet. Journalisten vor Ort verfolgen die Kampfhandlungen und berichten ebenfalls über den Einsatz verbotener Chemiewaffen durch die türkische Armee. Ein Journalist vor Ort beschreibt dies bei ANF wie folgt:
Die Explosionswirkung dieser Waffe wurde uns wie eine Art Erdbeben beschrieben. Sie ist enorm stark. Zudem wurde uns berichtet, dass sich nach der Explosion ein extrem unausstehlicher Geruch verbreitet, der anders ist als das Gas, das bisher eingesetzt wurde. Das bisher verwendete Gas war wohl grau und roch wie verbrannter Zucker. Doch die seit kurzem eingesetzte neue Waffe ist von der Explosionswirkung her viel stärker und verbreitet zudem einen extrem ekligen Geruch. Uns wurde von Mitgliedern der Guerilla auch berichtet, dass das neue Gas bei Hautkontakt die Haut rot werden lässt und den menschlichen Körper langsam zersetzt. Also dieses Gas zersetzt das Fleisch des menschlichen Körpers.
Kawa Tolhildan, ANF
Eine Filmaufnahme von Medyanews zeigt ein grünes Gas in den Tunneln. In dem Filmbeitrag wird von 548 Zivilisten aus Kani Masi berichtet, die im letzten Monat mit Symptomen wie brennende Augen, verschwommenes Sehen, vorübergehende Blindheit, akute Kopfschmerzen, Nasenbluten, Kurzatmigkeit und Hautausschläge ins Krankenhaus eingeliefert wurden, die auf den Kontakt mit Giftgas hinweisen.
Aussagen des Christian Peacemaker Teams-Iraq
Die im Irak ansässige Nichtregierungsorganisation Christian Peacemaker Teams-Iraq (CPT-IK) bestätigte mit eigenen Recherchen in den von den türkischen Angriffen direkt betroffenen Gebieten mindestens einen dieser Fälle. Am 4. September wurde beispielsweise das Dorf Hiror Berichten zufolge mit Chemiewaffen angegriffen, wobei Mitglieder einer örtlichen Familie verletzt wurden.
Die Christian Peacemaker Teams-Iraq gehen davon aus, dass die Verletzungen der Familienmitglieder durch chemische Waffen verursacht wurden. Schon im Juni veröffentlichte CPT-IK ein Dossier über die zivilen Auswirkungen der türkischen Angriffe.
Nach ihren Aussagen wurden allein im Juni 2021 mehr als 1500 Menschen aus 22 Dörfern im Gouvernement Dohuk vertrieben, Tausende Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche und 1300 Bienenstöcke verbrannt.
Warum führt die Türkei eigentlich diesen Krieg?
In den staatlich kontrollierten türkischen Medien geht es eigentlich immer nur um den Kampf gegen die PKK. In den 1980-er Jahren waren mit dieser Begründung außergerichtliche Tötungen, Folter, Vertreibung der kurdischen Bevölkerung und das Niederbrennen von Dörfern schon einmal an der Tagesordnung. In den 1990er-Jahren begann die Türkei Giftgas in den kurdischen Gebieten im Südosten der Türkei gegen vermeintliche Widerstandsnester einzusetzen.
Tausende von Zivilisten, darunter viele Kinder, starben bei diesen Angriffen. Obwohl die Türkei damals schon gegen das Verbot vom Einsatz von Chemiewaffen verstieß, blieb das folgenlos. Bis heute. Bei der Annektion der nordsyrischen Stadt Serekaniye am 17. Oktober 2019 wurde weißer Phosphor eingesetzt. Die Bilder des kurdischen Jungen Mohammed Hamid Mohammed aus Serekaniye, der bei einem türkischen Luftangriff mit weißen Phosphorbomben auf seine Heimatstadt schwere Verletzungen erlitten hatte, gingen in den Social Media weltweit viral. In Frankreich konnte der Junge in einer Spezialklinik jedoch erfolgreich behandelt werden. Aber er wird für sein Leben gezeichnet bleiben und sicherlich die Täter nicht vergessen. Es wird sein Leben prägen.
Heute wird immer deutlicher, dass es um viel mehr als die PKK geht. Erdogan hat sich einerseits zum Ziel gesetzt, bis 2023, dem 100-jährigen Bestehen der Republik Türkei, der türkischen Bevölkerung ein neues, neo-osmanisches Reich mit ihm als "Kalifen" zu präsentieren. Zu seinem Reich sollen auch große Gebiete von Nordsyrien und Nordirak gehören.
Das ist Teil der Propaganda, um das wirtschaftlich darbende Volk in der Türkei irgendwie über den tief verankerten Nationalismus noch bei der Stange zu halten. Bis jetzt hat das ja noch einigermaßen funktioniert, selbst die kemalistische CHP feierte den Einmarsch der Türkei in Afrin, in den Moscheen in Deutschland wurde für den Erfolg der Militäroperation gebetet.
Andererseits will die türkische Regierung in Nordsyrien wie im Nordirak verhindern, dass sich eine unabhängige kurdische Entität entwickelt. Ein demokratisches Selbstverwaltungssystem in Nordsyrien an der Grenze zur Türkei ist eine reale Bedrohung für das System Erdogan.
Wenn es Schule macht, könnte es ja auch in der Türkei oder im Nordirak auf Sympathie in Teilen der Bevölkerung stoßen. Im Nordirak setzt die Türkei daher auf Kooperation mit der konservativen, feudalistischen kurdischen Barzani-Regierung, die selbst mit den Demokratiebestrebungen in der eigenen kurdischen Bevölkerung zu kämpfen hat.
Im Regierungsgebiet der KDP mehren sich ebenfalls die kritischen Stimmen in der Bevölkerung, die unter der ökonomischen Krise und der ausufernden Korruption des Barzani-Clans leidet. Die Sympathien für die PKK steigen im Nordirak, je präsenter die türkische Armee dort ist und je offensichtlicher die Zusammenarbeit zwischen der KDP und dem türkischen Militär gegen die oppositionelle kurdische Bevölkerung wird.
Die Bevölkerung glaubt der Propaganda der KDP nicht mehr, dass das Problem die PKK sei. Sie befürchten vielmehr einen Bruderkrieg, vor dem die PKK immer wieder mahnt und zum Zusammenhalt der kurdischen Bevölkerung gegen die Expansionspläne der Türkei aufruft. Nach Erdogans Willen sollen diese unruhigen Regionen nun möglichst schnell unter türkische Kontrolle kommen, bevor die Stimmung im Nordirak und in der Türkei weiter zu seinen Ungunsten kippt.
Fernsehsender, die der türkischen Regierungspartei AKP nahestehen, haben mehrfach Landkarten gezeigt, auf denen der Nordirak einschließlich der Erdölstadt Kirkuk als türkisches Staatsgebiet beansprucht wird. Bei der nordirakischen KDP stößt das nicht auf Widerstand, denn es gibt viele Gemeinsamkeiten mit Erdogans AKP. Der Barzani-Clan gehört ebenfalls der sunnitischen Richtung des Islams an. Er ist nicht sonderlich interessiert an der gleichberechtigten Beteiligung anderer ethnischer oder religiöser Minderheiten, worunter vor allem die Christen und Eziden zu leiden haben.
Und es handelt sich bei beiden Parteien um eine stramme Männerherrschaft, in der Korruption und Begünstigungen des Clans oder der Parteimitglieder unhinterfragte Realität sind. Beide Parteien haben in der Bevölkerung an Zuspruch verloren. Und beide Parteien verstehen es gut, mit Verschwörungstheorien über die USA, Europa, die demokratische Opposition im Land, die Frauen...- alles je nach Bedarf einsetzbar - von ihren eigenen, hausgemachten Problemen abzulenken.
Die ländliche, traditionelle Bevölkerung ist dafür in beiden Ländern sehr empfänglich. Die zunehmende fundamentalistische Islamisierung gepaart mit Nationalismus und autoritärer Herrschaft in dieser Region sollte für westliche Regierungen mit Blick auf Afghanistan ein Alarmsignal sein.
Warnrufe gibt es derzeit von allen Seiten. Die Bundesregierung scheint jedoch beratungsresistent zu sein und setzt immer noch auf den Erdogan-Clan, während sich die USA und europäische Staaten wie Frankreich zunehmend von der Türkei abwenden.