"Krieg in Europa" und ein Déjà-vu
- "Krieg in Europa" und ein Déjà-vu
- Krieg in Europa
- "Als in Jugoslawien Krieg ausbrach"
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Als im Februar Russland die Ukraine angriff, war das Erschrecken groß: "Der Krieg ist nach Europa zurückgekehrt", verkündeten Politik und Medien und beklagten das Ende der europäischen Friedensordnung.
Bundeskanzler Scholz erinnerte bei der Gedenkrede zum 8. Mai, dem Tag der Kapitulation des faschistischen Deutschland, an die lange Friedensperiode der Nachkriegszeit und daran, "wie heute, 77 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, erneut rohe Gewalt das Recht bricht, mitten in Europa".
Außenministerin Baerbock teilte am Tag der Invasion mit, sie und ihre Kollegen seien "heute in einer anderen Welt aufgewacht (...) Mit dem militärischen Angriff auf die Ukraine bricht die russische Regierung vor den Augen der Welt mit den elementarsten Regeln der internationalen Ordnung (...) Die Europäische Friedensordnung der letzten Jahrzehnte ist die Grundlage für das Leben in Wohlstand und Frieden".
Und der Verletzung dieser Ordnung gelte es "entschieden" entgegenzutreten, mit robusten Mitteln, was, wie man mittlerweile weiß, militärisch fast alles einschließt – bis auf eine direkte Nato-Beteiligung.
Frieden in Europa?
Zum diesjährigen Fest des Friedens kamen natürlich wieder, wie fast an jedem Weihnachtsabend, Meldungen über die beklagenswerte Unfriedlichkeit auf dem Globus. In der Nacht zum 25. Dezember fielen etwa in Europa Schüsse "nahe einer Nato-Patrouille", wie die Bild (27.12.22) meldete.
Eine Situation sei "entstanden, die leicht außer Kontrolle geraten kann", kommentierte die FAZ (28.12.22) und warnte vor einem "Wiederaufflammen der Gewalt", das den "Westen in erhebliche Schwierigkeiten stürzen" würde – und von dem Russland, das dieses Mal gar nicht beteiligt war, natürlich profitieren dürfte.
Der Schlusssatz macht klar: Es geht nicht um die neue Ostfront in der Ukraine. Die Schüsse fielen nämlich im Norden des Kosovo, wo schon seit Langem die "Spannungen wachsen" (FAZ) und kein wirklicher Frieden herrscht, sondern gilt: "Serbien bereits im Modus der 1990er-Kriegsjahre (...) Etwa 3.760 Nato-Soldaten halten den fragilen Frieden in der Region aufrecht" (Bild).
Wer es vergessen haben sollte: Zur großartigen europäischen Friedensordnung gehören allerlei (para-)militärische Konflikte, die mal als separatistische Militanz (siehe Spanien, Belgien) hochkochen oder (siehe Nordirland) einen Dauerzustand darstellen. Auch als Rivalität von Nachbarn (Griechenland und Türkei) kennt man potenzielle Kriegsgründe, die immer wieder eingehegt werden müssen. Und last but not least hat in Jugoslawien fast ein ganzes Jahrzehnt lang eine heftiger Krieg stattgefunden, der dem Ukrainekrieg das Wasser reichen kann.
Kürzlich ist dazu das Buch Krieg in Europa – Der Zerfall Jugoslawiens und der überforderte Kontinent des Journalisten Norbert Mappes-Niediek erschienen, der damals als Korrespondent deutscher und österreichischer Zeitungen auf dem Balkan unterwegs war (Rowohlt Berlin 2022, daraus, so weit nicht anders vermerkt, die folgenden Zitate).
Ein Blick zurück
Das Buch sollte Pflichtlektüre für alle sein, die sich heutzutage über den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands in der Ukraine beklagen und die Putin die Zerstörung der europäischen Friedensordnung zur Last legen.
Zum einen sind ja seit dem Ende des Ost-West-Gegensatzes völkerrechtswidrige Kriege selbstverständliches Mittel der Nato-Staaten, wenn eine Legitimierung über den UN-Sicherheitsrat nicht zu erhalten ist oder wenn die USA schlicht und ergreifend kein Interesse daran haben, wie von George Bush Jr. bis Trump explizit verkündet, sich supranationalen Autoritäten zu unterstellen.
Mappes-Niediek, der an die Ausrufung einer "New World Order" (US-Präsident George Bush Sr.) nach dem Ende des Ost-West-Gegensatzes erinnert, resümiert das kriegsträchtige Jahrzehnt der 90er, als sich die "einzig verbliebene Supermacht" USA – mit einer weit gehend willfährigen russischen Regierung im Schlepptau – um die Erneuerung ihrer Weltordnung kümmerte:
"Regime Change" wurde zum Schlagwort des Jahrzehnts. Wenn es nicht mit der Unterstützung der Vereinten Nationen geht, dann eben ohne sie: Das blieb die Leitlinie der Vereinigten Staaten.
Norbert Mappes-Niediek (362)
Der Autor erinnert auch daran (357), dass zwar die Einrichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs in Gang kam – nachdem der Vorwurf der Kriegsverbrechen auf der jeweils anderen Seite die militärische Propaganda befeuert hatte –, dass sich aber die USA gleich davon distanzierten, ja, dass Präsident Trump Sanktionen gegen die Ankläger des ICC verhängte, die gegen verdächtige amerikanische Soldaten und Soldatinnen ermitteln wollten.
Zum andern ist die europäische Friedensordnung, die seit Putins Krieg immer wieder als das Opfer russischer Machenschaften beschworen wird, eine Fiktion. Genauer gesagt: Sie hat sich gewissermaßen vom ersten Tag an, als die Teilung der Welt aufhörte und das "Gemeinsame Haus Europas" (Gorbatschow) am Horizont erschien, als eine blutige Realität offenbart.
Nicht mit Putins Invasion in die Ukraine ist ja der Krieg nach Europa zurückgekehrt, wie es von den neuen Bellizisten immer heißt, sondern mit den militärischen Konflikten auf dem Balkan, die vom Westen kräftig gefördert und betreut, schließlich auch selber geführt wurden.
Über acht Jahre zogen sich die Jugoslawienkriege, 135.000 Menschen kamen zu Tode, Millionen flüchteten oder wurden vertrieben.
Norbert Mappes-Niediek (356)
Der Kosovo-Krieg, den die Nato-Staaten – unter Bruch des Völkerrechts – führten, sollte der "letzte 'Krieg in Europa' sein", so der deutsche Außenminister Joseph Fischer (357). In Wirklichkeit ließ er eine unbefriedete Region zurück, wurde zum Auftakt mehrerer Kriege in der europäischen Nachbarschaft und führte Deutschland auf den Weg einer zunehmenden Militarisierung.
Anfang des neuen Jahrhunderts, unter dem deutschen Nato-Generalsekretär Manfred Wörner, konnte sich somit der ehemalige Kriegsverlierer als weltweit engagierte Militärmacht präsentieren, wie die Presse stolz vermeldete: "Deutschland ist größter Truppensteller für Auslandseinsätze und nach den USA der zweitgrößte Beitragszahler in der Allianz". Diese Karriere begann mit den Kriegen auf dem Balkan. Mappes-Niediek resümiert: "In Jugoslawien wurde gebombt, Deutschland war dabei." (358)
Und schließlich ist daran zu erinnern, dass Jugoslawien zum Präzedenzfall für Putins Invasion wurde. Der russische Herrscher verfuhr 2022 genau nach der Logik des Westens. Der hatte sich ja damals die Frage vorgelegt: "Darf man intervenieren, wenn in einem Land Menschenrechte verletzt und Bürgerkriege geführt werden? Muss man es nicht sogar?" (359)
Die Amerikanisierung des Völkerrechts – gefasst als Responsibility to protect – gab die klare Antwort: Man darf. Mit derselben Legitimation griff Putin 2022 zum Schutz einer bedrohten Volksgruppe in die Ukraine ein. Als er das tat, wurde im Westen natürlich gleich klargestellt: Quod licet Iovi, non licet bovi.
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