"Krieg in Europa" und ein Déjà-vu

Seite 3: "Als in Jugoslawien Krieg ausbrach"

Zwei Einwände muss man jedoch gegen diesen aufschlussreichen Rückblick vorbringen, der das Ideal eines friedlich vereinten, multiethnisch ausbalancierten Kontinents unterstellt und dagegen im Klagemodus das Bild einer trostlosen Welt setzt.

Erstens: Wenn sich herausstellt, dass die Ideale nichts wert sind, ja dass sich die vom Westen verbreiteten Visionen einer besseren Welt genau in dem Moment der "Zeitenwende" von 1989/90, als ihre Realisierung angestanden hätte, in kürzester Frist als Sinnestäuschungen erweisen, dann können sie kein ernsthaftes Projekt gewesen sein.

Dann wäre folglich eine Untersuchung angebracht, die die wirkliche Rolle der Friedens- und anderen Idealismen aufspürt. Dann hätte es nahe gelegen, sie etwa als – diplomatisch notwendige, auf Legitimation zielende – Umgangsformen im modernen Staatenverkehr unter die Lupe zu nehmen, denen man eventuell die wirklich gültige Zielsetzung entnehmen kann.

Zweitens gibt es bei Mappes-Niediek grundsätzliche Aussagen, die einen aufhorchen lassen. Wie zitiert, kennt der Autor Weltlagen, in denen ein Krieg "ausbricht"; oder es kommt dazu, dass sich Jugoslawien "auflöst". Ein Vorgang oder Land figurieren hier als Subjekte, die etwas bewirken und entscheidende Veränderungen in die Welt setzen. Das hat natürlich seine Tradition, aber man stelle sich einmal vor, zum neuesten Krieg in Europa würde es heißen, er sei am 24. Februar ausgebrochen.

Natürlich spricht der Autor auch von den Kriegsherren Jugoslawiens, sieht hier etwa den serbischen Nationalismus mit seinem Anführer Slobodan Milošević als Hauptkriegstreiber. Es klingt also an, dass es bestimmte Figuren in der politischen Klasse gab, die mit hoheitlicher Gewalt ihren Anhang zu der fatalen Konfrontation hindirigieren konnten.

Aber hier liegt dann gleich ein weiteres Problem. Wenn man den Kriegsverlauf in den Blick nimmt, dann wird eins unübersehbar klar: Nicht Jugoslawien löste sich auf, sondern es wurde vom Westen (seinerzeit sogar mit weitgehender Zustimmung Russlands) systematisch in seiner Auflösung betreut und gefördert, am Schluss dann durch direktes militärisches Eingreifen "befriedet".

Ohne die auswärtigen Interessen an dieser Region wäre es nicht zu der ausgreifenden militärischen Konfrontation gekommen, vielleicht wäre der Aufbruch in die neue Weltordnung nur mit ein paar völkischen Gehässigkeiten oder separatistischen militanten Aktionen verbunden gewesen, wie man sie aus anderen westeuropäischen Ländern kennt.

Zur Beurteilung von Kriegsgründen und Kriegsverlauf durch den Journalisten Mappes-Niediek wäre im Einzelnen einiges anzumerken. Der Autor will auf eine tragische Verkettung in einem "dunklen Jahrzehnt" hinaus. Dabei bringt er es fertig, über eine parallele Militäraktion, mit der damals die Nato-Führungsmacht befasst und angeblich von Europa abgelenkt war, zu schreiben:

Der Januar [1991] hatte im Nahen Osten den Zweiten Golfkrieg gebracht.

Norbert Mappes-Niediek (77)

Und die EU-Größen trafen sich zur selben Zeit in Brüssel, wo sie abends die Tagesschau über das Geschehen auf dem Balkan mit den ersten Schusswechseln informierte:

Die versammelten Regierungschefs waren sich der Brisanz der Nachricht bewusst. Sofort schickten sie hochrangige Emissäre nach Belgrad, um das Schlimmste zu verhindern.

Norbert Mappes-Niediek (78)

Kriege brechen aus oder kommen zu einem bestimmten Datum auf die Welt, Regierungschefs mächtiger Staaten sehen abends Nachrichten und sind erschüttert. Sie wollen eigentlich den Nationalismus abschaffen und die europäischen Völker vereinigen, haben dabei alle möglichen Probleme am Hals, sodass sie den Aufruhr auf dem Balkan, unmittelbar vor ihrer Haustür, nicht richtig wahrnehmen und erst – hilflos und unabgestimmt – eingreifen, wenn es zu spät ist. Alles in allem sind sie Macher eines "überforderten Kontinents". Fast so wie die legendären "Schlafwandler" von 1914.

Wer's glaubt, wird selig! Natürlich glaubt auch Mappes-Niediek solche Beurteilungen nicht wirklich. An anderer Stelle weiß er zu berichten, dass "schon im Juli 1990, ein ganzes Jahr vor Kriegsbeginn" (116), in der deutschen Politik über eine Sezession Kroatiens diskutiert wurde, dass Deutschland unter Kohl und Genscher vorpreschte; und zwar im Bewusstsein seiner neu errungenen Machtstellung, die bei den "Partnern" misstrauisch beäugt wurde, "denn die Begeisterung für eine Wiedervereinigung Deutschlands hielt sich auch bei engen Verbündeten in Grenzen." (117)

Eine sehr diplomatische Formulierung! Deutschland erhob damals einen Führungsanspruch bei der Neugestaltung des europäischen Hauses, der bei den anderen EU-Mitgliedern auf Widerspruch stieß. Diese Hindernisse mussten Kohl und Co. erst abarbeiten.

Wenn man näher hinblickt, offenbart sich also das angeblich Zögern und Abwarten des "Westens" als Folge einer Konkurrenzaffäre: Imperialistische Staaten kamen sich bei der Neuordnung des Kontinents ins Gehege und mussten Statusfragen klären. Die Kohl-Regierung setzte sich durch und die verhängnisvollen Daten für die folgenden Kriege.

Das Programm, das hierzulande von Medien und politischer Klasse geteilt wurde, sollte eben "das beträchtliche Gewicht des wiedervereinigten Deutschland unbedingt einbringen – nicht aus imperialen Gelüsten, sondern aus Verantwortungsgefühl" (125), wie der Balkan-Experte formuliert.

Die Verantwortung! Jahrzehntelang hat man in Deutschland seitdem gehört, es sollte und müsste und wollte mehr Verantwortung übernehmen. Damals erfolgte die Verantwortungsübernahme dann in der Form, dass man sich 1999 dem militärischen Überfall auf Serbien anschloss.

Und heute ist klar, dass Deutschland zur Rolle einer militärischen Führungsmacht berufen ist – verantwortlich für kontinentale und globale Ordnungsfragen, was mit Imperialismus natürlich nichts zu tun hat.

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