Kriegsberichterstattung oder Eingreiftruppe?
Überlegungen zur Realität der Massenmedien und über die Umstände des in Afghanistan getöteten deutschen Reporters Voker Handloik
"Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien." Mit diesem Satz beginnt Niklas Luhmanns Abhandlung über "Die Realität der Massenmedien", die den Nachweis zu führen sucht, dass diese Realität, "unsere" Realität, eine "Konstruktion" ist, deren Gestalt primär von den Eigengesetzlichkeiten des Mediensystems abhängt und nicht von einer objektiv "gegebenen" Realität, über die dann so oder so berichtet würde. Diese Beobachtung Luhmanns gilt auch für die Kriegsberichterstattung.
Am Beispiel des Ersten Weltkriegs hat bereits Karl Kraus vorgeführt, nach welchen Vorgaben und Skripts die Kriegsberichterstattung dessen Realität produziert und schließlich selbst zum integralen Teil eines Krieges wird, der zu Hause genauso tobt (um die öffentliche Meinung) wie an der Front. Dazu müsse man, so formuliert es ein zynischer Reporter in Kraus' Die letzten Tage der Menschheit, nicht einmal selbst an den Kampfhandlungen teilnehmen: "Gott beschütze! Sie haben recht - wozu man selbst dabei sein muß, seh ich auch nicht ein, man verliert nur Zeit, man soll drüber schreiben". Und wer doch an die Front fährt, sieht nur dort das, was er zu sehen erwartet. In Kraus' Monumentaldrama ist es die bekannte Journalistin Alice Schalek, die eine feuernde Batterie als "Schauspiel" wahrnimmt:
"Jetzt beginnt ein Schauspiel - also jetzt sagen Sie mir Herr Leutnant, ob eines Künstlers Kunst spannender, leidenschaftlicher dieses Schauspiel gestalten könnte. Jene, die daheim bleiben, mögen unentwegt den Krieg die Schmach des Jahrhunderts nennen, jene, die dabei sind, werden aber vom Fieber des Erlebens gepackt. Nicht wahr Herr Leutnant, Sie stehen doch mitten im Krieg, geben Sie zu, manch einer von Ihnen will gar nicht, daß er ende!"
Gleichgültig gegen Reden und Sterben der Soldaten nimmt die Journalistin die Front genau so wahr, wie die Leitartikel es vorgeben, die sie ohnehin immer schon vorab zu schreiben pflegt. "Mir scheint, die Vorstellung ist zu Ende. Wie schade! Es war erstklassig", bemerkt die Schalek nach Ende des Gefechts, und der Offizier fragt, ob sie zufrieden sei. "Wieso zufrieden?", entgegnet sie, "zufrieden ist gar kein Wort!" Als Tote gemeldet werden, zeigt die Schalek sich wiederum begeistert "vom Fieber des Erlebens gepackt". Alles an der Front ist enorm "interessant", sobald es vom Zauberstab der Massenmedien berührt worden ist.
Kraus' Figur des "Nörglers" vertritt die These, dass das Verhältnis von Krieg und Kriegsberichterstattung sich unter der Notwendigkeit, die Heimatfront propagandistisch bei Laune zu halten, umgekehrt habe:
"Alles was geschieht, geschieht nur für die, die es beschreiben."
Die Welt, in der wir leben, existiert für die Massenmedien. Um einen heroischen Film über die Sommeschlacht abzudrehen, wird eine Abteilung nach der anderen von den Filmschaffenden aus dem Graben hinaus zum Sturmangriff in den Tod getrieben. Und als die Schalek für ihre Zeitung einen Artillerieangriff benötigt, aber eine Batterie in Gefechtspause antrifft, überredet sie nicht nur den widerstrebenden Offizier zu einem Angriff, sondern eröffnet selbst das Feuer. "Die Schalek schießt, der Feind erwidert. Offizier: Also da ham mrs! Schalek: Was wollen Sie haben? Das ist doch interessant!" Die Kriegsberichterstattung übernimmt die Kriegsführung.
In seiner letzten Reportage berichtet der in Afghanistan getötete Reporter Voker Handloik von seiner mexikanischen Kollegin Adriana vom TC Azteca, die den "Krieg der Zivilisationen in eine latein-amerikanische Soap-Opera" verwandelt habe. In der vordersten Linie der Front, unter sporadischem Sniper-Beschuss durch Taliban, gab sie ihr Mikro "mit buntem Pop-Schutz einem Kämpfer", "nahm eine Kalaschnikow in die Hand", "deutete pathetisch" Richtung feindliche Linien und "deklamierte in rasendem Spanisch". Handloik bemerkt dazu nur: "Ich musste sie einfach lieben". Das muss wohl das "Fieber des Erlebens" sein.
Das "Kriegstheater" (Clausewitz) ist keine Metapher mehr. Für die Schalek war es tatsächlich ein Schauspiel, das ihrer eigenen Regie folgte, in Afghanistan wird es zur "Soap-Opera". Auch hier gibt eine Journalistin die Bühnenanweisungen:
"Sie sprang herum und verteilte die übermüdeten Mudschahedin in den Schützengräben, damit sie einen besseren Shot bekam."
Getroffen hat dann nicht nur die Kamera. Volker Handloik beschreibt sich selbst in seinem letzten Artikel als "verwandelt".
"Ich trug das Nationalkostüm der Afghanen, knielanges Hemd und Puffhose, und darüber einen bunten usbekischen Kaftan, drunter meine schwarze Fotoweste, die wahrscheinlich wie ein Armee-Survival-Kit aussah."
In diesem Aufzug, der ihn aus der Sicht der Taliban, die er als "der Feind" bezeichnet, selbst in einen Gegner verwandeln musste, wurde er von einem vorrückenden Schützenpanzer heruntergeschossen. Von einem Hinterhalt ist die Rede. Handloik liefert in seiner letzten Reportage ein mögliches Motiv:
"CNN verbreitete (allen Ernstes) das Gerücht, an der Nordfront würde es einen blonden Mudschahedin geben, der offensichtlich großen Einfluss habe."
Ist es möglich, dass dieses CNN-Gerücht, das er mit einem gewissen Stolz auf seine Bedeutung zu erwähnen scheint, dass ihn diese Mär von "blonden Mudschahedin" getötet hat, nachdem er mit anderen Journalisten an exponiertem Ort mit Waffen posierte, um dann gemeinsam mit Kampftruppen weiter vorzurücken? Ist es denkbar, dass hier einige Reporter, genau wie die Journalisten in den Letzten Tage der Menschheit, alle Distanz zu ihrem Gegenstand verloren haben, um selbst als Kombattanten aufzutreten?