Kriegsschauplatz Irak: Angriffe der Armee auf das jesidische Şengal-Gebiet
Acht Jahre nach den Massakern des "Islamischen Staates" sollen jesidische Selbstverteidigungseinheiten zum Abzug gezwungen werden
Während die Türkei im Norden des Iraks einen völkerrechtswidrigen Krieg – vermeintlich gegen die HPG – den bewaffneten Arm der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) führt, liefert sich die irakische Armee Gefechte mit den jesidischen Selbstverteidigungseinheiten YBŞ, um sie zu entwaffnen und die totale Kontrolle über die Region Şengal zu erlangen. Lokale Quellen vermuten, dass die Angriffe auf Geheiß Ankaras stattfinden.
Mitte April versuchte die irakische Armee einen Kontrollpunkt der YBŞ bei der Stadt Sinune einzunehmen. Dabei wurden zwei Zivilisten und mehrere Personen aus den Reihen der jesidischen und irakischen Sicherheitskräfte verletzt.
Das Nachrichtenportal Ezidi Press berichtete, das irakische Militär habe Luftangriffe auf YBŞ-Stützpunkte im Şengal (arabisch: Sindschar) geflogen. Die Kämpfe haben eine neue Fluchtbewegung unter den Jesiden ausgelöst. Nach Angaben der Barzani Charity Foundation (BCF) sind bislang 1200 Familien, also etwa 6000 Menschen, aus dem Şengal in die Autonome Region Kurdistan geflohen.
Nun forderte die irakische Regierung von den YBŞ deren Abzug bis Samstag, ansonsten drohe ein Großangriff. Sollte es dazu kommen, werden erneut Tausende Menschen aus der Şengal-Region die Flucht ergreifen. Nadia Murad, Friedensnobelpreisträgerin und jesidische UN-Botschafterin aus dem Şengal, wie auch die UN-Hilfsmission für den Irak (UNAMI) riefen die internationale Gemeinschaft auf, die Zivilbevölkerung in dem Gebiet zu schützen.
"Nach Jahren der Vertreibung sind die Rückkehrer aufgrund der aktuellen bewaffneten Auseinandersetzungen im Sindschar erneut gezwungen, aus ihren Häusern zu fliehen", sagte Murad.
Seit Jahren gibt es im Irak Spannungen wegen der Verwaltung des Şengal. Nachdem die Jesiden beim Überfall des IS 2014 sowohl von den nordirakischen Peschmergas wie auch von der irakischen Armee im Stich gelassen wurden, fordern sie, ähnlich wie die Christen der Ninive-Ebene im Nordirak, für das Şengal-Gebiet einen Autonomiestatus.
Drohnenterror gegen traumatisierte Bevölkerung
Seit der Befreiung vom IS vor acht Jahren bauen sie eigene, basisdemokratische Selbstverwaltungsstrukturen auf, da sich weder die kurdische Regierung der nordirakischen Barzanis, noch die irakische Regierung für das Schicksal der Jesiden interessiert.
Obwohl die Bedrohung durch den sich reorganisierenden IS im Irak und in Nordsyrien wächst. Das Şengal-Gebiet liegt außerhalb des kurdischen Autonomiegebietes der Barzanis, die aber trotzdem Gebietsansprüche postuliert. Ernsthafte Anstrengungen zum Wiederaufbau der Region unternahmen weder die kurdische Barzani-Regierung noch die irakische Regierung.
Im Gegenteil: sowohl die feudal-konservative Barzani-Regierung wie auch die rechts-konservative irakische Regierung Khadimis lassen seit der Befreiung der Jesiden vom IS zu, dass die Türkei die traumatisierte Bevölkerung, zusätzlich zu den politischen Spannungen in der Region, mit ihren Killerdrohnen terrorisiert. Außer verbalen Protestnoten hat die Türkei nichts zu befürchten.
Drohende Destabilisierung der gesamten Region
Dabei baut sich im Irak ein gewaltiger Konflikt auf. Im Oktober 2020 "wurde unter der Regie des türkischen Staates ein Abkommen zwischen der irakischen Regierung und der PDK geschlossen, mit dem die Auflösung der Selbstverwaltung von Şengal und die Aufteilung der Kontrolle über die Region beschlossen wurde. Die betroffenen Jesiden selbst wurden bei den Beratungen nicht hinzugezogen und wurden erneut zum Spielball nationaler und internationaler Machtpolitik.
Im Vorfeld des Abkommens legten die Eziden mehrere Vorschläge zu einem Status des Şengal-Gebietes im Rahmen der irakischen Gesetzgebung vor, die bei dem Abkommen keine Berücksichtigung fanden. Damit ist das Abkommen von 2020 Teil des Problems. Die Autonomieverwaltung der Jesiden sieht darin eine Ermunterung Ankaras, die Angriffe auf das Gebiet fortzusetzen und die Jesiden aus ihrem jahrtausendealten Siedlungsgebiet zu vertreiben.
Die nordirakische Autonomieregierung Barzanis werde damit in ihren Gebietsansprüchen bestärkt. Letztlich ginge es darum, die Autonomieverwaltung der Jesiden zu zerstören. Bleibt die Frage, wer das ezidische Volk eigentlich schützen kann und will. Die Peschmerga der Barzani-Kurden und die irakische Armee haben beim Angriff des IS 2014 ja bewiesen, dass sie entweder nicht willens oder nicht in der Lage sind, die Eziden vor einem erneuten Genozid oder erneuter Vertreibung zu schützen.
Die derzeitige Politik der Barzani-Regierung im Nordirak zeigt, auf wessen Seite sie steht: In den letzten zwei Jahren baute sie im Nordirak mit Hilfe der Türkei 66 Militärstützpunkte auf nur 33 Kilometern an der Grenze zu Nordsyrien, die auch vom türkischen Geheimdienst MIT und dem türkischen Militär genutzt werden, berichtet die kurdische Nachrichtenagentur ANF. Panzerfahrzeuge von Spezialeinheiten der Peschmergas werden mit Thermalkameras versehen und in der Region zusammengezogen.
Eine Startbahn für türkische Aufklärungsflugzeuge wurde auf dem, nach Nordsyrien zugewandten Berg Bêxêr errichtet. Damit ist die Grenze vom Nordirak nach Nordsyrien indirekt im Verbund mit der KDP-Regierung Barzanis unter türkischer Kontrolle. Die Auswirkungen sind deutlich spürbar: humanitäre Hilfstransporte nach Nordsyrien können nur mit größten Schwierigkeiten den Grenzübergang Fishkhabur – Sêmalka passieren. Journalisten oder Mitarbeiter von Hilfsorganisationen wird immer wieder der Grenzübertritt nach Nordsyrien verwehrt.
Bürger aus Nordsyrien, die den Grenzübergang Sêmalka in den Nordirak passieren wollen, müssen im Voraus einen Antrag auf Einreise in der Nordirak bei den nordirakischen Behörden stellen.
Keine vertrauensbildenden Maßnahmen
Die irakische Regierung sorgte ebenfalls nicht für vertrauensbildende Maßnahmen. Im Gegenteil, sie schloss den Grenzübergang al-Walid zwischen Nordsyrien und dem Şengal. Seit März diesen Jahres baut das irakische Militär eine 250 Kilometer lange Mauer entlang der Grenze zwischen Şengal und Nordsyrien. Damit soll das Gebiet der Selbstverwaltung in Nordsyrien isoliert und vom Şengal und dem Nordirak abgeschottet werden.
Heinz Bierbaum, Präsident der Partei der Europäischen Linken (EL), erklärte dazu in einer Pressemitteilung: "Wir verurteilen diese Angriffe! Die Weltgemeinschaft darf nicht wegsehen, wenn Jesidinnen und Jesiden erneut in ihrer langen Geschichte von Verfolgung und Vertreibung zum Opfer willkürlicher Machtpolitik werden! (…) Und Deutschland darf nicht länger wegsehen, wenn das Nato-Mitglied erneut völkerrechtswidrige Angriffe durchführt!"
Frieden für alle Bevölkerungsgruppen im Irak könne es nur geben, wenn der Irak nicht länger Spielball äußerer Interessen sei und wenn militärische Angriffe endlich entsprechend geahndet würden.