Telepolis-Chef Neuber: "Zwischen allen Stühlen – und das ist gut so"

Fernglas liegt auf Telepolis-Logo

Telepolis hat über 70.000 Altartikel offline genommen. Dies sorgte für heftige Debatten. Wie kam es dazu – und was bedeutet das für die Zukunft des Magazins?

1996 ist Telepolis als eines der ersten Online-Magazine in Deutschland überhaupt an den Start gegangen. 2002 bekam die Redaktion den Grimme-Online-Award, eine der begehrtesten Auszeichnungen in der Branche. Zur Begründung durch die Jury hieß es damals, die Redaktion sei unbestechlich, unabhängig von den großen Verlagshäusern und fachlich auf hohem Niveau.

Mittlerweile gibt es Telepolis seit fast 30 Jahren, immer noch angesiedelt beim Heise Verlag, doch einiges hat sich geändert. Seit 2022 existiert ein eigenes redaktionelles Leitbild, und Ende vorigen Jahres wurde eine Qualitätsoffensive verkündet, die allerdings für einigen Wirbel gesorgt hat. Maßgeblich verantwortlich für die jüngste Entwicklung bei Telepolis ist Harald Neuber, seit gut vier Jahren Telepolis-Chefredakteur. Mit ihm hat Dietmar Ringel gesprochen.

▶ Ich bin freier Autor bei Telepolis. Wir duzen uns. Es wäre Quatsch, jetzt hier auf "Sie" zu machen, um das Gespräch "seriöser" erscheinen zu lassen. Aber das heißt natürlich nicht, dass ich keine unbequemen Fragen stelle. Deshalb gleich auf's Schlimme. Was du Qualitätsoffensive nennst, heißt ganz konkret, alle Texte, die vor 2021 auf Telepolis veröffentlicht wurden, sind gesperrt. Man kann nicht mehr auf sie zugreifen. Warum dieser radikale Schritt?

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Harald Neuber: Die Qualitätsoffensive selbst läuft schon viel länger bei Telepolis. Und diese Entscheidung, die wir getroffen haben, zur Depublikation der Texte oder eines großen Teils der Texte, die bei Telepolis erschienen sind, das war sozusagen der letzte Schritt. Uns war klar, dass es keine goldene Lösung ist. Denn es sind einige wenige schwierige Texte bei Telepolis erschienen, Texte, die nicht allgemeingültigen redaktionellen Standards entsprechen.

Wir haben in den vergangenen vier Jahren, seit dem Wechsel der Chefredaktion, seit ich diese Redaktion übernommen habe, viele Versuche gestartet und viele Initiativen, um unser Bild nach außen und die Wahrnehmung von Telepolis zu verbessern. Und wir haben gemerkt, dass das nicht gelingt. Da sind Dinge passiert in der Vergangenheit, die so stark nachwirken, dass wir Probleme haben, uns davon freizumachen.

Und deswegen haben wir gesagt, wir möchten die aktuellen Texte, die unter der neuen Chefredaktion, aber vor allem nach Entwicklung und Etablierung eines journalistischen Leitbildes erschienen sind, deutlich von dem trennen, was vorher geschehen ist. Das hat nichts mit den Texten pauschal zu tun, sondern das hat etwas mit der redaktionellen Leitung zu tun.

▶ Wenn man eine Zeitung nimmt, die es schon seit 50 Jahren gibt, da findet man natürlich in den Archiven auch Dinge, wo die Verantwortlichen sagen, das würden wir heute so nicht wieder drucken. Das sind Dinge, die uns nicht gefallen. Aber die gehören zur Geschichte dazu. Und man könnte es auch kennzeichnen und sagen, hier haben sich die Ansichten deutlich gewandelt. Dazu würden wir jetzt als Redaktion nicht mehr stehen, aber es gehört zu unserer Geschichte...

Porträt Harald Neuber
Harald Neuber

Harald Neuber: Das ist richtig. Das Problem mit den betreffenden Texten ist, dass es keine Meinungsfrage ist, dass es keine Ansicht eines Zeitgeists ist, der sich ändert. Sondern hier wurden vielfach – man muss sagen, es waren keine Einzelfälle – grundsätzliche redaktionelle Standards missachtet. Und es sind Sachen erschienen, die, ich sage es noch einmal, so stark nachwirken, dass wir uns davon nicht frei machen können. Und wir haben einiges versucht.

Also wir haben vor der Depublikation einen Disclaimer vor die alten Texte gesetzt. Aber wir haben gemerkt, da regen sich die Autoren oder ein Teil der Autorenschaft nur auf. Und in der Außenwahrnehmung ändert das nichts. Und ich möchte noch einmal dazu sagen, es hat natürlich auch etwas mit dem Zustand der Gesellschaft, ihrer politischen und auch medialen Verfassung zu tun.

Denn wir erleben seit zehn, 15 Jahren eine starke Polarisierung und eine Segmentierung der Gesellschaft. Wir sehen das auch bei den Medien. Man sagt immer, es gibt Alternativmedien und Mainstream-Medien. Und das ist ein grundsätzliches Problem, denn beide begehen Fehler. Das heißt, die Trennlinie kann nur dort verlaufen, wo der Journalismus anfängt oder endet.

▶ Wir haben jetzt recht allgemein gesprochen. Du hast gesagt, es handele sich um bestimmte Artikel. Aber konkret: Was für Themen, was für Artikel sind das, die dich mit Blick auf die Vergangenheit zu solch radikalen Schritten veranlassen?

Harald Neuber: Ich möchte jetzt keine Namen nennen. Wer das publizistische Geschehen aufmerksam verfolgt hat, wird ohnehin Rückschlüsse ziehen können.

Aber ich möchte dir ein Beispiel geben: die sogenannte Biowaffen-Laborthese in der Ukraine. Es gab eine Aussage der US-Außenpolitikerin Victoria Nuland, die gesagt hat, es gebe in der Ukraine Biolabore, die die USA zusammen mit den Ukrainern aufgebaut hätten. Die dürften den Russen nicht in die Hände fallen. Es gab auf der anderen Seite auf einmal eine These, die lautete, in der Ukraine gebe es geheime Biowaffenlabore, in denen Kampfstoffe entwickelt würden, die nur Russen töten.

Das ist eine vielfach nicht haltbare These, für die es keine Begründung gibt. Und dieses Schema sehen wir immer wieder. Das ist das, was immer wieder als Verschwörungsmythos diskutiert wird. Das heißt, es gibt einerseits eine These, eine Einzelbeobachtung, und andererseits eine andere These, die oft viel komplexer ist. Und dazwischen gibt es viele grundsätzliche, problematische Dinge und Fehler, die gemacht werden.

Es werden Dinge in dem Sinn der These, die am Ende bestätigt werden soll, umgedeutet, umgeschrieben, falsch interpretiert. Und das kann man nicht einfach stehen lassen. Es gibt ja auch eine Verantwortung. Wir hatten das auch bei der Corona-Pandemie. Generell gibt es in der Gesundheitspolitik unglaublich viele problematische Sachen, die publiziert werden, und ich möchte das als Chefredakteur nicht verantworten.

Ich möchte dazu aber auch sagen, dass wir die Texte, und das war von vornherein so geplant, dass wir diese Texte wieder online stellen werden.

Ich möchte aber, dass es ganz klar getrennt ist von dem, was auf der Basis des aktuellen redaktionellen, journalistischen Leitbildes passiert. Das möchte ich klar getrennt haben von den Texten der Vergangenheit.

▶ Du sagst, das soll wieder in die Öffentlichkeit kommen. Dann wäre die Frage, wie geht man damit um? Nehmen wir die Nuland-Geschichte von eben. Die könnte man noch einmal aufgreifen und dabei transparent machen, was der reale Hintergrund und was Fehlinterpretationen waren. Das wäre auch heute noch ein spannendes Thema …

Harald Neuber: Ja, sicher. Aber am Ende des Tages müssen wir auch pragmatisch mit dem ganzen Thema umgehen. Wir reden über 70.000 Texte. Davon sind jetzt viele tagesaktuelle Meldungen nicht mehr wirklich relevant, aber es ist wirklich ein Problem. Wir sind eine kleine Redaktion, wir müssen das tägliche Geschäft aufrechterhalten, wir können jetzt nicht tausende oder sogar zehntausende Texte sichten.

Wir werden einen signifikanten Teil dieser Beiträge wieder in unser aktuelles Archiv übernehmen. Wir sind gerade dabei, eine Methode dafür zu entwickeln. Wir werden dabei nach Themenbereichen vorgehen oder bestimmten Autoren, die bis heute eine hohe Relevanz haben.

Ich finde es gut, dass Du sagst, natürlich müssen wir diese Diskussion weiterführen, denn da lässt sich ja viel davon verdeutlichen, was in dieser Gesellschaft, in der Politik und den Medien falsch läuft. Und ich habe eben gesagt, ich möchte gar nicht diese Frontstellung zwischen Mainstream und Alternativmedien.

Verstehst du das? Weißt du was das bedeutet?

▶ Ich kann mir vorstellen, was man damit zum Ausdruck bringen möchte. Aber die Frage ist ja, was ist das "Echte", und was ist die "Alternative"? Mittlerweile gibt es viele Leute, die die sogenannten Mainstream-Medien überhaupt nicht mehr verfolgen. Ist das dann noch der Mainstream? Wenn man sich die Quoten und die Auflagen der Zeitungen anschaut, gibt es natürlich noch die großen und die kleineren, aber vieles vermischt sich.

Ich bin auch der Meinung, es geht um guten Journalismus. Wie man das Ding am Ende nennt, ist mir ganz egal. Es lässt sich ja an den Wesensmerkmalen nachweisen, ob es guter Journalismus ist oder nicht. Dazu gehört aus meiner Sicht auch die Frage, wie man mit eigenen Versäumnissen oder mit schwierigen Themen umgeht. Nun sagst Du, Telepolis sei eine kleine Redaktion, die nicht alles leisten könne. Aber wie soll es jetzt praktisch bei Telepolis passieren? Wie geht Ihr jetzt ran?

Harald Neuber: Wir prüfen im Moment, wie wir diesen großen Artikelbestand wieder online nehmen. Ich hätte mir gewünscht, dass wir es getrennt von Telepolis machen. Das ist aber technisch nicht machbar. Da muss man auch irgendwann realistisch sein. Also werden wir es auf unserer Domain wieder veröffentlichen. Und ganz ehrlich, wer meinen Artikel, den ich dazu geschrieben habe, aufmerksam gelesen hat, der muss auch gesehen haben, dass da von "vorläufig" die Rede war.

Wir hatten nie vor, diesen Artikel zu verbannen. Da waren ja wilde Dinge unterwegs im Netz. Von Bücherverbrennung war die Rede, von Orwell. Ein Buch, das verbrannt wird, ist tatsächlich physisch weg. Diese Artikel haben wir dagegen nur von denen getrennt, die seit 2021 erschienen sind. Natürlich müssen wir das alles wieder online stellen.

Ich finde es auch wichtig, gemachte Fehler zu dokumentieren. Und ganz ehrlich, das haben wir auch im Heise Verlag diskutiert. Und wir sind gemeinsam zu dem Schluss gekommen, dass wir zu dem, was in der Vergangenheit geschehen ist, stehen müssen, dass man das transparent machen muss. Davon bin ich ein ganz großer Befürworter.

Aber wir müssen auch kompromisslos den aktuellen Weg weitergehen. Wir haben ja über Mainstream- und Alternativmedien gesprochen. Wenn in einem Alternativmedium oder einem Medium, das als solches verstanden wird, diese Biowaffenlaborthese aufgestellt wird, oder wenn auf tagesschau.de, einem öffentlich-rechtlichen Medium, fälschlicherweise – mutmaßlich auf Basis eines Übersetzungsfehlers – von "Sprengstoff in Pflanzenform" an der Nord Stream 2 Pipeline die Rede ist, dann ist das beides das gleiche Problem. Es ist beides eine Verfehlung.

Und ich vermute, dass in beiden Fällen die Autoren eine bestimmte politisch motivierte These in die Welt setzen wollten.

▶ Welche Reaktionen gab es denn auf den Schritt, den du jetzt gerade noch mal erklärt hast? Haben sich betroffene Autoren darüber beklagt? Wurden auch rechtliche Schritte erwogen?

Harald Neuber: Es gab in der Tat einen kleinen Teil von ehemaligen Autoren, die recht ungehalten waren. Es gab ein paar Publikationen im Netz, aber grundsätzlich war das für uns nicht wirklich relevant, muss man sagen. Wir nehmen jede Kritik ernst. Wir gucken uns das an, aber weißt Du, wenn dann auf X, ehemals Twitter, geschrieben wird, "der Neuber, der ist ja mutmaßlich von der CIA", dann kann ich das nicht ernst nehmen.

Also ich bin wirklich gerne bereit, und ich habe das auch bei uns im Leserforum gemacht, mit Lesern und mit Autoren zu diskutieren. Ich stelle gerne unsere Beweggründe und auch unser Vorgehen dar, das wir ja in Echtzeit entwickeln müssen, weil so was noch niemand gemacht hat.

Es wurden zwar immer mal Texte offline genommen. Das ist auch eine Debatte unter Medienexperten, wie man mit alten Inhalten im Netz umgeht. Aber diese Depublikation und Republikation und die Auseinandersetzung mit den Inhalten und über den journalistisch verantwortungsvollen Umgang mit Dingen, die in die Welt gesetzt wurden, das hat noch niemand gemacht. Und ich tendiere dazu, dass wir das auch bei uns auf der Seite dokumentieren.

▶ Du hast gerade die Kommentare erwähnt, die es bei Telepolis im Forum gibt. Aber bei deinem Erklärstück zur Depublikation war das Forum abgeschaltet. Darüber konnte man nicht diskutieren. Hast du befürchtet, dass du mit Vorhaltungen überschwemmt wirst?

Harald Neuber: Ja, natürlich. Und so war es auch. Das hat dann in anderen Foren stattgefunden. Ich wollte tatsächlich, dass die Argumente im Vordergrund stehen. Wir bei Heise wissen ja, welche Autoren da geschrieben haben und um welche Inhalte es geht. Was da kam, war zu erwarten, und darauf hatte ich keine Lust.

Wir werden übrigens auch das Leserforum bei Telepolis einschränken müssen. Dahinter steht eine ähnliche Erwägung, nämlich die, dass wir gute Debatten haben wollen. Wir wollen inhaltliche Debatten haben. Wir wollen gewinnbringende Informationen von Leserinnen und Lesern haben. Wir haben aber nicht genug personelle Möglichkeiten, die Debatten hinreichend zu moderieren, wenn wir sie überall öffnen.

Ich habe mir das jetzt ein paar Jahre angeguckt. Dabei sind einige Erkenntnisse gereift. Nach den vier letzten Jahren haben wir gesagt, es reicht für ein, zwei Artikel pro Tag. Aber dort wollen wir dann tatsächlich eine gute Debatte haben.

▶ Was verstehst Du unter einer guten Debatte? Wer entscheidet das? Sagst Du als Chefredakteur, der Kommentar gefällt mir, der ist gut, der ist stichhaltig, und der andere gefällt mir nicht? Welche Kriterien soll es da geben?

Harald Neuber: Es geht überhaupt nicht um Meinungen und um Ansichten. Da muss man auch immer stark darauf achten, wenn man moderiert. Wir diskutieren das auch zwischen Redaktion und Moderatoren-Team. Das sind Regeln, die auch in jedem anderen professionellen Forum gelten: Leute nicht beleidigen, keine diskriminierenden Inhalte, keine Fehldarstellungen, bewusste Fehlinterpretation à la "Du bist ja von Russland bezahlt, du bist ja von USAID bezahlt". Das ist Quatsch.

Ich habe das am Anfang unseres Gesprächs schon gesagt, wir erleben eine unglaubliche Polarisierung in der Gesellschaft und gerade jetzt kurz vor der vorgezogenen Bundestagswahl auch in der Politik und in den Medien.

Das müssen wir durchbrechen. Und das kann man nur, wenn man diese Pöbler und die Provokateure von allen Seiten einhegt. Und ich glaube tatsächlich, dass sie von allen Seiten kommen, von Anhängern von Verschwörungsmythen genauso wie von Grünen und AfD-Leuten. Man redet ja nicht mehr miteinander. Und das ist auch etwas, was wir wieder erreichen wollen.

▶ Lass uns über die Arbeitsweise bei Telepolis sprechen. 1996 ging es los, ich habe es schon gesagt. Da war das fast noch ein Alleinstellungsmerkmal, es gab nur ganz wenige solche Online-Magazine. Mittlerweile ist der Markt fast unüberschaubar geworden. Es gibt das Althergebrachte, sage ich mal, die Fernsehsender, die Nachrichtenagenturen, die großen Zeitungen, aber auch auf dem Online-Markt passiert viel.

Wer sich informieren will, sitzt manchmal ratlos vor dem Rechner, wenn er sich nicht vorher schon festgelegt hat, wem er vertraut. Was ist das Besondere an Telepolis?

Harald Neuber: Die Frage haben wir uns auch gestellt. Und wir sind zu dem Ergebnis gekommen, dass Telepolis von Anfang an, also von 1996 an, immer ein Charakteristikum hatte. Das war, Dinge zu thematisieren und zu diskutieren, die woanders keine Beachtung finden.

Das haben wir noch mal überarbeitet und in einem Leitbild festgeschrieben. Da steht dann drin, ich habe die genaue Formulierung jetzt nicht im Kopf, wir schauen auf die blinden Flecken in der Berichterstattung. Und da gibt es ja viele Dinge – vom Ukraine-Krieg über die Geopolitik.

Nehmen wir hier wirklich wahr, was im asiatischen Raum diskutiert wird? Oder interpretieren wir es nur und sehen es nur durch die europäische Brille?

Es werden wahnsinnig viele Dinge ausgegrenzt. Und auch das finde ich tatsächlich ein echtes Problem unserer Zeit. Wie konnten wir denn in diese Lage in der Ukraine, in Europa kommen? Also als Europa, als Europäische Union und als Europäer? Das ging doch nur, weil diejenigen, die realistisch waren, ausgegrenzt wurden oder nicht eine solche mediale Plattform geboten bekommen haben wie diejenigen, die ein militärisches Vorgehen begrüßt haben.

Das war zum Beispiel so ein Punkt, den wir von Anfang an immer mit dem Versuch der sachlichen Darstellung und des Beförderns von Diskussionen verfolgt haben. Na ja, wir sehen ja, was gerade passiert …

▶ Noch einmal zur Arbeitsweise. Wie läuft das konkret? Wer entscheidet, welche Themen an einem bestimmten Tag hereinkommen? Wer schaut sich die Beiträge an? Gehst du als Chefredakteur da abermals drüber? Nimmst du Kontakt mit den Autoren auf, oder bleibt das alles so, wie es die Autoren anbieten?

Harald Neuber: Nein, auf keinen Fall. Das geht gar nicht. Unsere Autoren reichen von professionellen, ausgebildeten Journalisten bis zu Blog-Autoren oder auch Aktivisten.

Es ist auch gerechtfertigt, dass man Gastkommentare hineinnimmt. Man muss es eben entsprechend kenntlich machen. Natürlich gucken wir uns aber alle Texte an. Wir würden es gerne mehr machen, ganz ehrlich. Wir sind vier, genauer gesagt, fünf Leute in der Redaktion – mit mir.

Wir können nicht alle Texte zwei- oder dreimal lesen, aber wir achten darauf, dass die grundsätzlichen Standards eingehalten werden. Das heißt, wenn ein kontroverser politischer Fall dargestellt wird, dann kann man natürlich den auf eine bestimmte Weise interpretieren oder eine bestimmte Botschaft transportieren, aber man muss fair bleiben.

Das heißt, es müssen alle Seiten dargestellt werden. Ich hatte gerade einen Artikel, in dem es um Einflussnahme der Politik auf Universitäten ging. Was wirklich ein Problem ist, vorwiegend im Zusammenhang mit der Nahostdebatte.

Da wurde ein Streitfall erwähnt, bei dem ein Wissenschaftler bei einer wissenschaftlichen Gesellschaft entlassen wurde. Aber das wurde nur in einem Satz behandelt, und die verschiedenen Seiten wurden gar nicht richtig dargestellt. Genau das wäre aber ganz wichtig. Wie hat diese Gesellschaft die Entlassung begründet? Auf welcher rechtlichen Basis ist das geschehen?

Diese Information braucht man doch, um sich hinreichend mit dem Thema auseinanderzusetzen. Alles andere ist, weiß ich nicht, Agitation und Propaganda.

▶ Da hake ich gleich nochmal ein. Achtest du auf Ausgewogenheit? Also, dass, wenn eine bestimmte Meinung präsentiert wird, dann auch mal jemand zum Zuge kommt, der vielleicht das Gegenteil behauptet oder die Sache ganz anders sieht?

Harald Neuber: Nein. Das ist ein ganz wichtiger Unterschied. Ich finde es wahnsinnig bequem, man könnte auch sagen feige, wenn immer diese Pro-Kontra-Kolumnen kommen. Es ist ja mitunter so, dass in der Redaktion Pro und Kontra willkürlich verteilt wird. Das hat gar nichts mit der Meinung der Leute zu tun. Das ist doch nicht ehrlich.

Ich habe kein Problem damit – und ich habe eben die Ukraine-Berichterstattung genannt – hart in Debatten hineinzugehen. Aber man muss dabei sauber bleiben. Das heißt, dass wir auch Texte überarbeiten. Wir haben fast täglich Fälle, bei denen wir Forenkommentare in der Redaktion aufgreifen und diskutieren.

Gestern gab es einen Fall, bei dem aus einer asiatischen Zeitung eine Darstellung bestimmter militärischer Erfolge der Russen in der Ukraine übernommen wurde. Diese Zeitung hat aber schon bei der Interpretation der Erstquelle einen Fehler gemacht. So was müssen wir uns dann auch ansehen. Und eine Sache, die wir eingeführt haben, ist, dass wir Fehler transparent machen, und zwar richtig transparent.

Also wir schreiben nicht, ja, da wurde irgendwas verändert in dem Text, sondern wir schreiben, hier stand dieser oder jener Fehler drin, und wir haben ihn so und so korrigiert. Das steht unter dem jeweiligen Artikel und das steht auch noch mal auf einer statischen Seite, auf einer Dokumentationsseite.

Telepolis ist ein Produkt von Heise Medien. Wie unabhängig bist du als Chefredakteur vom Herausgeber, und wie wird das Ganze finanziert?

Harald Neuber: Es ist der ganz große Verdienst von Ansgar Heise, unserem Verleger, dass er Telepolis über so viele Jahre finanziert hat. Und das war von Anfang an defizitär. Einer meiner Aufträge war tatsächlich, als ich diese Redaktion, dieses Projekt übernommen habe, die Arbeit redaktionell zu überprüfen und zu professionalisieren, aber natürlich auch die unternehmerische Seite mehr in den Blick zu nehmen.

Das heißt, wir müssen auch gucken, dass wir aus dieser massiven Verlustzone herauskommen. Das ist doch auch eine Verantwortung. Ich glaube, und ich bin davon überzeugt, dass Telepolis eine wichtige Rolle spielt, weil wir uns zwischen allen Lagern positionieren, zwischen Mainstream- und Alternativmedien oder Leitmedien und freien Medien oder auch zwischen professionellen und nicht-professionelle Medien.

Das ist keine bequeme Position so zwischen den Stühlen, nicht metaphorisch und auch nicht wirklich. Es ist aber wichtig, dass diese Position eingenommen wird, damit wir die Sprachlosigkeit zwischen diesen ganzen Echokammern durchbrechen, die bei uns existieren.

▶ Ich muss trotzdem noch mal konkret nachfragen: Wie läuft das? Interessiert sich der Herausgeber für Telepolis-Inhalte? Ist der auch mal sauer? Ruft er an? Nimmt der Einfluss auf Inhalte?

Harald Neuber: Nein, Einfluss nicht. Aber er meldet sich tatsächlich, und zwar, weil ich es so will. Bevor ich die Redaktion übernommen habe, war sie völlig isoliert vom Haus.

Es hatte auch damit zu tun, dass die verschiedenen Redakteure, auch der damalige Chefredakteur Florian Rötzer, nicht in Hannover waren wie der Verlag. Florian lebt in München, ein anderer Kollege auch, und die Leute waren in der ganzen Republik verteilt.

Ich habe dann dieses Projekt wieder stärker an den Verlag herangeführt, was ich richtig finde. Es ist übrigens auch nicht bequem. Der Heise Verlag gibt ja sonst keine politischen Medien heraus, es ist ein IT-Verlag. In diesem Umfeld mit einer politischen Redaktion zu arbeiten, sorgt für Debatten. Aber das ist auch gut, man braucht doch dieses Korrektiv.

Es gibt keine doofen Meinungen, oder so. Alles ist legitim. Denn eine Frage, die im Haus gestellt wird, wird im Zweifel auch in der Leserschaft und in dem Teil der Bevölkerung gestellt, den wir erreichen wollen.

▶ Wer hat, was die Inhalte angeht, das letzte Wort? Bist du das, oder ist das im Zweifelsfall der Verleger?

Harald Neuber: Ich weiß nicht, wie es rechtlich, also de jure ist, aber de facto habe ich das letzte Wort und das ist auch wichtig, weil wir hier tatsächlich kohärent die Arbeit entwickeln müssen. Es hat ja keinen Sinn, wenn da jetzt verschiedene Leute drin herumpfuschen und Einfluss nehmen. Wir diskutieren natürlich. Und noch einmal: Es ist tatsächlich wichtig, dass so ein Projekt wie Telepolis gemeinsam entwickelt wird, sowohl journalistisch als auch kaufmännisch-unternehmerisch.

▶ Wir haben jetzt viel über den Ist-Zustand gesprochen, aber die Medienbranche verändert sich ja rasch. Gedruckte Zeitungen verschwinden mehr und mehr vom Markt. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk steht unter hohem Druck. Wie siehst du die Zukunft für Telepolis?

Harald Neuber: Grandios! Wir werden diesen Kurs, den wir vor vier Jahren eingeschlagen haben, konsequent weiter verfolgen. Und wir werden weiterhin das Medium sein, das sich nicht bestimmten Lagern zuordnet, sondern das immer von einer auktorialen, also einer übergeordneten Ebene, das Geschehen analysiert und Zusatzinformationen bringt.

Es würde ja keinen Sinn ergeben, wenn wir den anderen Medien, vorwiegend den großen Redaktionen, hinterherrennen würden. Das heißt, tagespolitische Berichterstattung machen wir nicht. Aber wenn Du die FAZ liest oder die TAZ, dann musst du am Ende immer sagen: Ich schaue mal auf Telepolis, die haben bestimmt noch mal einen anderen Blick drauf. Das ist mein Ziel.

Dietmar Ringel sprach mit Telepolis-Chefredakteur Harald Neuber.