Kriegsschauplatz Irak: Wo "wertebasierte und feministische Außenpolitik" aufhört
Wenn Nato-Partnerstaaten Täter sind, nimmt es die Bundesregierung mit dem Völkerrecht nicht so genau. Das zeigt ihre Antwort auf eine Anfrage zu türkischen Kriegshandlungen (Teil 1)
Seit Tagen demonstrieren Kurden und Kurdinnen weltweit gegen die Angriffe der türkischen Armee auf kurdische Gebiete im Nordirak und die Angriffe der irakischen Armee im jesidischen Siedlungsgebiet Şengal. Ihre Proteste und der Aufruf zum Frieden werden von der Politik nicht zur Kenntnis genommen. Am morgigen Samstag läuft ein Ultimatum der irakischen Armee ab, mit dem die jesidischen Selbstverteidigungseinheiten zum Abzug aufgefordert werden.
Bundesregierung stellt sich hinter Erdogans völkerrechtswidrige Politik
Im Schatten des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine hatte die türkische Armee nach tagelangen Luft- und Bodenangriffen in der Nacht zum Ostermontag die völkerrechtswidrige Großoffensive "Claw-Lock" im Nordirak begonnen. Während Russlands völkerrechtswidriger Krieg gegen sein Nachbarland zu Recht sofort verurteilt und sanktioniert wurde, wird der türkische Krieg gegen Kurden seit Jahrzehnten von der jeweiligen Bundesregierung in Berlin toleriert.
In einer mündlichen Anfrage am 27. April fragte die Bundestagsabgeordnete der Gökay Akbulut (Die Linke) nach der Haltung der Bundesregierung zu den völkerrechtswidrigen Angriffen der Türkei in Nordsyrien und im Nordirak – und ob die Bundesregierung ähnliche Konsequenzen ziehen wird, wie sie sie gegen Russland, aufgrund des Angriffskrieges gegen die Ukraine, beschlossen hat.
Die Sprecherin der Bundesregierung, Dr. Anna Lührmann, übernahm in ihrer Antwort unhinterfragt die Sichtweise des türkischen Verteidigungsministeriums: "Im Nordirak geht die Türkei laut Medienberichten und nach Angaben des türkischen Verteidigungsministeriums seit dem 18. April verstärkt gegen Stellungen der PKK vor. Dabei beruft sich die Türkei, wie auch bei früheren Militäreinsätzen gegen die PKK in Nordirak, auf das Selbstverteidigungsrecht gemäß Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen..."
Diese Antwort steht im Widerspruch zu den Ausführungen der Wissenschaftlichen Dienste (WD) des Bundestags, die schon 2020 feststellten: "Gerade weil die Intensität der PKK-Angriffe auf die Türkei in den letzten Jahren deutlich abgenommen hat, lässt sich von einem gegenwärtigen bewaffneten Angriff im Sinne des Art. 51 der UN-Charta nicht ohne weiteres sprechen."
Wie schon 2020 moniert, hat die Türkei auch diesmal ihre Absicht, "militärische Operationen" im Nordirak durchzuführen, nicht dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen angezeigt, wie das die UN-Charta (Art. 51 Satz 2) verlangt
Die fehlende Begründung des Vorliegens eines bewaffneten Angriffes seitens der PKK sei damit ein "gewichtiges Indiz" dafür, das Selbstverteidigungsrecht der Türkei gegenwärtig nicht gegeben sei, schrieb damals der Wissenschaftliche Dienst. Nach wie vor bleiben die Menschenrechtsverbrechen der türkischen Autokratie unter Recep Tayyip Erdogan weitgehend unbeachtet.
"Vielmehr wird Erdogan wahlweise als Verbündeter der westlichen Staaten oder als Friedensvermittler hofiert. Das zeigte sich noch Anfang März bei einem Treffen der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) mit ihrem türkischen Amtskollegen Mevlüt Cavusoglu, von dem Baerbock demonstrativ Fotos auf Twitter veröffentlichte", kommentiert der Politikwissenschaftler Ismail Küpeli die Haltung der Bundesregierung.
Selbst ein Sprecher des irakischen Außenministeriums erklärte, die türkischen Übergriffe entbehrten jeglicher rechtlichen Grundlage, auch wenn Ankara sich auf Artikel 51 der UN-Charta zur Selbstverteidigung berufe.
Auch im ARD-Politmagazin "Monitor" wurden die Doppelmoral und das Schweigen über den Völkerrechtsbruch der Türkei im Nordirak und Nordsyrien kritisiert:
Im Schatten des Krieges in der Ukraine hat die Türkei in den letzten Wochen mit Kampfflugzeugen Angriffe auf kurdische Gebiete im Irak und in Syrien geflogen. Und türkische Truppen marschierten in den Irak ein. Ein internationaler Aufschrei blieb aus. (…) Damit bricht die Türkei Völkerrecht, denn die UN-Charta untersagt "jede gegen die territoriale Unversehrtheit eines Staates gerichtete Anwendung von Gewalt".
Neu ist dieses Vorgehen türkischer Regierungstruppen nicht. Seit Jahren werden nicht nur in der Türkei, sondern auch in den Nachbarländern kurdische Siedlungsgebiete bombardiert: 2011 Kortek im Nordirak und Roboski an der türkisch-iranischen Grenze, 2015 Zergele im Nordirak und 2016 in Cizre in der Türkei.
Immer hieß es, man habe PKK-Stellungen bombardiert. Tatsächlich traf es Zivilisten, vor allem jene, die sich gegen die repressive Politik der Türkei stellten. Nachdem die kurdischen Selbstverteidigungseinheiten in Nordsyrien die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) besiegt hatten, was weltweit gelobt und beklatscht wurde, marschierte die Türkei 2018 in den überwiegend von Kurdinnen und Kurden bewohnten Kanton Afrin in Nordsyrien ein.
Dieses Gebiet im Nordwesten Syriens war bis dato ein vom Syrien-Krieg weitgehend verschontes und sicheres Gebiet. Heute ist es ein quasi türkisches Protektorat, in dem Angst und Schrecken herrschen; täglich werden dort Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen.
2019 wurden die Gebiete um Serekaniye und Gire Spi in Nordsyrien von der Türkei erobert – verbunden mit neuen Fluchtbewegungen, Enteignungen, Vertreibungen und sexualisierter Gewalt an der Zivilbevölkerung. Zu all dem schwieg die damalige Bundesregierung, wie heute die Ampel-Koalition zu den Angriffen auf den Nordirak und Nordsyrien schweigt.
Die Doppelmoral, die die Bundesregierung offen an den Tag legt, sei kaum auszuhalten, schreibt Rosa Burç, politische Soziologin am Centre on Social Movement Studies in Florenz, in der Zeit:
Während die Grenzen für ukrainische Geflüchtete – zu Recht – geöffnet sind, stecken fliehende Kurd:innen entweder an den Grenzen von Belarus und Polen fest, ertrinken im Mittelmeer oder sie bekommen in Deutschland kein Asyl und werden wieder abgeschoben. (…)
Wenn es gleichzeitig "russische Invasion in der Ukraine" und "türkische Präsenz in Syrien" heißt, wenn dieselben Gewaltpraktiken in einem Fall als Krieg bezeichnet werden und im anderen Fall als Militäroperation, wenn Kriegsopfer als Ukrainer:innen benannt werden, bei Angriffen auf Kurd:innen aber von Terrorist:innen und PKK-Stellungen gesprochen wird, dann sind es diese Gleichzeitigkeiten, die uns vermitteln, dass völkerrechtswidrige Kriege legitim sind, solange sie von unseren Nato-Partnern geführt werden.
Rosa Burç
"Feministische Außenpolitik"?
Wer erlöst die Bundesregierung und das Auswärtige Amt endlich von ihrem Tunnelblick in Bezug auf die Türkei? Die vielen Menschenrechtsverletzungen der Türkei im Inland und ihren Nachbarländern sind mit viel Beweismaterial gut dokumentiert.
Es stünde einem grünen Außenministerium gut zu Gesicht, mit seinem postulierten feministischen und an Menschenrechten orientierten Blick das Gebaren der Türkei zur Kenntnis zu nehmen und endlich auch Konsequenzen zu ziehen. Sonst macht sich eine Außenministerin Baerbock unglaubwürdig.
Eine "feministische" Außenpolitik, die das Leid der Frauen und Kinder in den Kriegen ihrer strategischen Partnerländer in Kauf nimmt, ist keine "wertebasierte und feministische Außenpolitik", sondern Augenwischerei.
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