Kriegsspiele in Europa: Wie sich die Bundeswehr auf möglichen Russland-Angriff vorbereitet
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Es geht beim Quadriga-Manöver um die schnelle Truppenverlegung an die russische Grenze. In einem "Geheimpapier" werden Szenarien durchgespielt. Was steckt dahinter?
Aktuell macht in den Medien ein "Geheimpapier" der Bundeswehr die Runde, dem ein Szenario zugrunde liegt, in dem mit massiven Truppenverlegungen auf einen – aus Nato-Sicht – möglicherweise bevorstehenden russischen Angriff reagiert wird. Generell wird der raschen Verlegung von Soldat:innen und Material an die Grenzen Russlands inzwischen große Bedeutung beigemessen.
Mehrere Monate Krieg spielen
Bereits auf dem Nato-Gipfel im Juni 2022 beschloss die Nato die diesbezüglichen Zielgrößen, die nun auch die Grundlage für das aktuell diskutierte Bundeswehr-Papier bilden, massiv nach oben zu schrauben. Vor allem logistisch stellt dies eine enorme Herausforderung dar, wobei Deutschland und die Bundeswehr eine zentrale Rolle spielen.
Unter anderem mit "Steadfast Defender", dem größten Nato-Manöver seit dem vermeintlichen Ende des Kalten Krieges, sollen deshalb die diesbezüglichen Abläufe eingeübt werden. Im Zusammenhang damit will die Bundeswehr zwischen Februar und Mai 2024 in den Quadriga-Manövern mehrere Monate lang ebenfalls die schnelle Verlegung von Truppen und Material erproben. In der Süddeutsche Zeitung heißt es dazu am 14. November 2023:
[Nun] soll der Ernstfall im großen Maßstab geübt werden – bis zu 40.000 Soldaten sollen zur Nato-Großübung ‚Steadfast Defender‘ allein aus den USA kommen – Teil des Manövers ist auch die von Deutschland organisierte Übung "Quadriga". Damit will die Bundeswehr den raschen Aufmarsch an die Nato-Ostflanke trainieren. […]
Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) spricht inzwischen davon, dass Deutschland wieder "kriegstüchtig" werden müsse. Für die Formulierung hat er Kritik auch aus den eigenen Reihen bekommen. Wie das dann aussehen und wie es sich im bundesdeutschen Alltag auswirken wird, soll die Großübung "Quadriga" zeigen. Viel Militär wird dann auf der Straße zu sehen sein, lange Kolonnen mit Bewaffneten und Panzern, eben wie einst im Kalten Krieg. "Zeitenwende zum Anfassen" nennen sie das im Verteidigungsministerium.
Streitkräftemodell: Großer Verlegungsbedarf
Schon lange vor dem russischen Angriff auf die Ukraine wurden in Nato-Kreisen intensive Überlegungen über die schnelle Verlegefähigkeit von Truppen und Gerät angestellt. Prägend waren hier 2016 veröffentlichte Planspiele der Rand Corporation, denen zufolge Russland in der Lage gewesen sein soll, innerhalb von längstens 60 Stunden die Außenbezirke von Tallin und Riga zu erreichen.
Anschließend wäre es Russland möglich, die sogenannte Suwalki-Lücke, ein nur etwa 60 Kilometer breiter Landstrich zwischen Litauen und Polen, zu schließen und so die einzige Landverbindung der baltischen Staaten mit den übrigen Nato-Ländern dichtzumachen. Der kurz darauf beschlossenen Vorwärtsstationierung von Nato-Truppen sowie der Fähigkeit zur schnellen Verlegung zusätzlicher Soldat:innen wurde vor diesem Hintergrund größte Bedeutung zugemessen.
Permanente Nato-Vorwärtspräsenz
Schon 2014 war hierfür beschlossen worden, die Schnelle Eingreiftruppe der Nato (damals verlegbar innerhalb von 30 Tagen) auf 40.000 Soldat:innen zu vergrößern. 2016 folgte die Entscheidung, eine permanente Nato-Vorwärtspräsenz in Bataillonsgröße (~1.500 Soldat:innen) in jedem der baltischen Staaten und in Polen aufzubauen.
Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine wurde diese Vorwärtspräsenz auf vier weitere Staaten (Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien) ausgedehnt und angekündigt, zumindest in einigen dieser Länder die Truppenstärke auf Brigadegröße (~3.000 bis 5.000 Soldat:innen) anzuheben. Dazu gehört auch der Ausbau der von Deutschland angeführten Brigade in Litauen, wo künftig rund 5.000 Bundeswehrangehörige dauerhaft stationiert sein sollen (siehe Telepolis-Artikel Bundeswehr-Kitas in Litauen – die deutsche Rolle in der Nato).
Als Nächstes wurde dann beim Nato-Gipfel im Juni 2022 ein neues Nato-Streitkräftemodell (NSM) auf den Weg gebracht, das 2025 an den Start gehen soll. Es sieht vor, 100.000 Soldat:innen innerhalb von zehn Tagen, weitere 200.000 bis Tag 30 und zusätzliche 500.000 bis Tag 180 in Marsch setzen zu können: Deutschland hat für die ersten beiden Bereitschaftsgrade einschließlich der bereits in Litauen fest stationierten Einheiten 35.000 Soldat:innen zugesagt (siehe Telepolis-Artikel Nato will Schnelle Eingreiftruppe auf über 300.000 aufstocken).
"Geheimpapier" Bündnisverteidigung 2025
An diesem neuen Streitkräftemodell orientiert sich augenscheinlich auch das aktuell diskutierte Bundeswehr-Szenario "Bündnisverteidigung 2025". Erstmals wurde in der Bild-Zeitung darüber berichtet, wobei das Blatt nicht vergaß, prominent auf den angeblich hochgradig geheimen Charakter des Papiers hinzuweisen, obwohl es mit "Verschlusssache – Nur für den Dienstgebrauch" eine vergleichsweise niedrige Einstufung erhielt.
Dennoch sind das darin aufgespannte Szenario, die beschriebene Eskalationsdynamik sowie die einzelnen Nato-Schritte von großem Interesse, zeigen sie doch unter anderem, wie eng man sich in der Bundeswehr an den Vorgaben des neuen Nato-Streitkräftemodells orientiert. Die Bild-Zeitung berichtet am 14. Januar dieses Jahres:
Das geheime Bundeswehr-Szenario "Bündnisverteidigung 2025" beginnt im Februar 2024. Russland startet eine weitere Mobilisierungswelle und beruft zusätzlich 200.000 Mann in die Armee ein. […] So könnte es laut dem Geheimpapier der Bundeswehr eskalieren: Im Oktober verlegt Russland Truppen und Mittelstreckenraketen nach Kaliningrad und rüstet seine Exklave mit der Propaganda-Lüge eines bevorstehenden Nato-Angriffs weiter auf.
Das geheime Ziel des Kreml: Die Suwalki-Lücke zu erobern – den schmalen polnisch-litauischen Korridor zwischen Belarus und Kaliningrad. […] Im Mai 2025 beschließt die Nato laut Bundeswehr-Szenario "Maßnahmen zur glaubhaften Abschreckung", um einem russischen Angriff auf die Suwalki-Lücke aus Richtung Belarus und Kaliningrad zuvorzukommen. […] Am "Tag X", so das Geheimpapier der Bundeswehr, befiehlt der Oberbefehlshaber der Nato die Verlegung von 300.000 Soldaten an die Ostflanke, darunter 30.000 Bundeswehrsoldaten.
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Das Szenario lässt offen, wie die ganze Geschichte ausgeht, es ist aber völlig offensichtlich, dass die Bedeutung schneller Truppenverlegungen nicht nur in der Nato, sondern auch in der Bundeswehr hoch eingeschätzt wird.
Ohne Logistik verliert man Kriege
Für eine schnelle Verlegung von Truppen und Gerät ist die entsprechende Logistik von entscheidender Bedeutung, wie der Militärexperte Roger Näbig ausführt:
Kampfflugzeuge, Kriegsschiffe und Panzer erhalten in den letzten Jahren zunehmend eine größere mediale Aufmerksamkeit. Militärtransportern, Tankwagen oder gar Feldküchen, die für den Nachschub und die Versorgung einer Armee von Bedeutung sind, schenken der militärische Laie und weite Teile der Presse dagegen kaum Beachtung.
Dabei ist gerade eine funktionierende Logistik entscheidend für den militärischen Erfolg einer Armee, wie es der Krieg in der Ukraine gerade im ersten Kriegsjahr wieder einmal deutlich demonstriert hat. […] Durchschnittlich rechnen Nato-Logistiker im Kampfeinsatz pro Soldat/in mit 100kg an Nachschub am Tag. Bei Angriffsoperationen erhöht sich diese Menge durch den vermehrten Treibstoff- und Munitionsverbrauch auf rund 200kg.
Oder, etwas kürzer vom in der Bundeswehr zuständigen Generalmajor Gerald Funke zusammengefasst: "Logistik gewinnt keine Kriege, aber ohne Logistik gehen Kriege verloren."
Funke muss es wissen, schließlich befehligt er aktuell das Logistikkommando der Bundeswehr. Insgesamt verfügt die größte Abteilung der Streitkräftebasis über 17.000 Angehörige, die für die Organisation der gesamten Logistik der Bundeswehr zuständig sind.
Deutschland als Drehkreuz
Doch auch über die Planung der Bundeswehrlogistik hinaus müsse Deutschland aufgrund seiner zentralen Lage "Verantwortung" als "Gastland" ("Host Nation") übernehmen und als Drehkreuz für den zügigen Transport befreundeter Armeen Richtung Russland sorgen – und genau das wird auch ein wesentlicher Teil der anstehenden Manöver sein. In der Süddeutschen Zeitung heißt es am 14. November 2023 dazu:
Deutschland ist dabei, wieder den Krieg zu denken – und muss schnell eine Fähigkeit neu erlernen, die das Land bereits einmal besaß, in Zeiten des Kalten Kriegs: Es muss in der Lage sein, in kürzester Zeit Zehntausende Soldaten aufzunehmen – und diese dann schnell durch das Land in Richtung Osten zu verlegen. "Host Nation Support" nennt das die Nato.
Bereits die "Konzeption der Bundeswehr" sah im Juli 2018 eine "Rolle Deutschlands als mögliche Basis für Operationen, rückwärtiges Einsatzgebiet und Drehscheibe der Unterstützung" voraus. Dementsprechend wurde schon im selben Jahr die Einrichtung eines Nato-Logistikkommandos (Joint Support and Enabling Command, JSEC) in Ulm beschlossen und schlussendlich im September 2021 in Dienst gestellt (siehe Telepolis-Artikel Deutschland auf (Führungs-)Kurs).