Kriegsspiele in Europa: Wie sich die Bundeswehr auf möglichen Russland-Angriff vorbereitet
Seite 2: Realistische Umsetzung der Nato-Verteidigungspläne
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Beim Nato-Gipfel in Vilnius wurden im Juli 2023 drei neue Verteidigungspläne beschlossen. Auf rund 4.000 Seiten werden darin detailliert Truppen und Gerät drei neu aufgeteilten Regionen zugeordnet: Für den Atlantikraum und die Nordflanke ist nun das Kommando in Norfolk (USA) zuständig.
Die Ostfront von Mitteleuropa bis zu den baltischen Staaten fällt in den Verantwortungsbereich des Kommandos im niederländischen Brunssum und Südosteuropa, inklusive das Schwarze Meer und das Mittelmeer sind Sache des Kommandos in Neapel (siehe Telepolis-Artikel).
Diese Aufteilung bilde nun die "Blaupause für die kommenden Großmanöver" wie die "Nato-Großübung Steadfast Defender", schreibt die Süddeutsche Zeitung. Für das größte Nato-Manöver seit dem vermeintlichen Ende des Kalten Krieges wird in den meisten Meldungen die Zahl von 40.000 teilnehmenden Soldat:innen genannt.
Wahrscheinlich dürfte die Zahl aber noch deutlich darüber liegen, nachdem Großbritannien Mitte Januar 2024 angekündigt hatte, sich allein schon mit 20.000 Soldat:innen beteiligen zu wollen. Neu an der Übung soll auch sein, dass erstmals mit realen Daten die Umsetzung der Nato-Verteidigungspläne geübt werden soll. Die FAZ schreibt am 17. September 2023:
Die Soldaten werden die gerade erst beschlossenen Verteidigungspläne der Allianz erproben – und zwar nach realistischen Szenarien. […] Das gegnerische Bündnis greift die Nato an ihrer schwächsten Stelle an, der Suwalki-Lücke an der nur 60 Kilometer breiten Landgrenze zwischen Polen und Litauen. Die Angreifer rücken Richtung Weichsel vor. Die Nato aktiviert ihre Eingreifkräfte – Zehntausende Soldaten, die in wenigen Tagen einsatzbereit sind. […]
Bisher waren Nato-Soldaten es dagegen gewohnt, in sorgsam konstruierten Phantasiewelten Krieg zu führen. […] Natürlich war Russland gemeint, aber dieser fiktive Staat hatte fiktive Straßen, Häfen, Grenzen. […] Für die Soldaten heißt der Gegner zwar immer noch nicht Russland, sondern "Occasus". Das ist ein östliches Militärbündnis, das die Nato angreift und den Bündnisfall auslöst. Aber auf den Landkarten für die Manöver sind die Mitglieder der Allianz klar zu erkennen: Russland und Belarus in ihren realen Grenzen.
Quadriga: Großmanöver wie im Kalten Krieg
Über 12.000 Bundeswehr-Soldat:innen sollen an den Quadriga-Manövern teilnehmen, deren Verlegung an nahezu alle Grenzen Russlands dabei erprobt werden soll. Von dort aus (und teils schon unterwegs) sollen sie sich dann in diverse zu Steadfast Defender gehörende Nato-Manöver einklinken. Genauer gesagt setzt sich die Übung aus vier Einzelmanövern zusammen:
Unter Quadriga 2024 fasst die Bundeswehr mehrere Großübungen in Deutschland und im Ausland zusammen und verbindet diese mit Übungsvorhaben ihrer Verbündeten. Gleich dem antiken Vorbild einer Quadriga, einem Viergespann, setzt sich das gleichnamige Großmanöver im Wesentlichen aus vier Teilübungen zusammen: Grand Center (Mitte Februar bis Ende Februar 2024), Grand North (Mitte Februar bis Mitte März 2024), Grand South (Ende April bis Ende Mai 2024) und Grand Quadriga (Mai 2024).
Der Name verweist auch auf die Quadriga auf dem Brandenburger Tor in Berlin, die symbolisch für Freiheit, Einigung und Stärke steht. […] Bei Quadriga geht es darum, die Fähigkeiten zur schnellen Verlegung eigener Kräfte an die Nato-Ostflanke nach Norwegen, Litauen, Rumänien oder Ungarn zu trainieren und dabei Erkenntnisse für den Einsatz der Landstreitkräfte zu gewinnen – von der Alarmierung bis zum multinationalen Gefecht.
Grand Center unterscheidet sich von den drei anderen Übungen insofern, als hier auch die Rolle als Drehkreuz für den Weitertransport vor allem US-amerikanischer Soldat:innen auf dem Manöverzettel steht. Dabei soll sich die 1. Panzerdivision verbündeten Kräften auf der Reise nach Osten anschließen:
Den Beginn machen Kräfte der 1. Panzerdivision, die als Teil eines multinationalen Gefechtsverbandes unter US-amerikanischer Führung durch Polen bis nach Litauen verlegen wird. Dies fordert neben dem Heer als Träger landbasierter Operationen vor allem auch das neu aufgestellte Territoriale Führungskommando der Bundeswehr als operative Schaltstelle für alle in Deutschland zu treffenden Maßnahmen.
Die Bedeutung Deutschlands als Drehscheibe für die Verstärkungskräfte an der Ostflanke wird unterstrichen. Die Übungen "Quadriga Grand Center" und "Saber Strike" ermöglichen es, die reibungslose und schnelle Verlegung zu forcieren und dabei auch das Überwinden von Hindernissen zu üben.
Grand North und Grand South
Bei Grand North soll die Gebirgsjägerbrigade 23 als Teil der Division Schnelle Kräfte (DSK) nach Norwegen verlegt werden, um sich an dem dort geplanten Nato-Manöver zu beteiligen:
Mit der Gebirgsjägerbrigade 23 übt die Division Anfang 2024 bei der nördlichen Teilübung Grand North. Im Anschluss geht es bei der Übung Nordic Response um den Kampf unter extremen Wetterbedingungen, gemeinsam mit Norwegen und erstmals mit den neuen Nato-Partnern Finnland und Schweden sowie einer Vielzahl weiterer Partner.
Bei Grand South sollen Bundeswehr-Truppen über Ungarn nach Rumänien verlegt werden, damit "anschließend bei Swift Response Fallschirmjägerkräfte der Division Schnelle Kräfte die schnelle Verlegung und den Einsatz an der südlichen Ostflanke Europas trainieren."
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Aus Sicht der Bundeswehr wird dann der "Übungshöhepunkt und Schwerpunkt" der Übung mit Grand Quadriga erreicht. Dabei geht es um die Verlegung der gesamten neu in Aufstellung befindlichen 10. Panzerdivision, die ab 2025 den Kern der Nato für das neue Streitkräftemodell zugesagten Kräfte darstellen soll, an die Ostflanke:
Die 10. Panzerdivision, die sich mit dem Projekt "Division 25" derzeit auch für ihren neuen Auftrag im Rahmen des deutschen Beitrags zum Nato deployable force pool aufstellt, wird daher unter anderem die Übung "Grand Qudariga" nutzen, um exemplarisch für einen Großverband des Heeres alle Phasen eines möglichen Einsatzes an der Nato-Ostflanke zu durchlaufen.
Am Ende werden deutlich mehr Soldatinnen und Soldaten des Heeres in Litauen eingesetzt, als dies noch bei der Übung "Griffin Storm" im Frühjahr 2023 der Fall war. Somit üben die Brigaden der Division in "Quadriga" gleichzeitig sowohl an der Nato-Ostflanke wie auch auf deutschen Übungsplätzen in einem noch nie dagewesenen Umfang.
Startschuss erfolgt
Vier Monate soll also ein möglicher Krieg mit Russland geprobt werden – auch und gerade als Signal für eine Re-Normalisierung militärischer Großaufmärsche, wie sie während des Kalten Krieges üblich waren. Bei der Bundeswehr heißt es:
Weil Deutschland als Drehscheibe – als sogenannte Host Support Nation – eine besondere Rolle spielt, wird Quadriga quasi "Zeitenwende zum Anfassen" sein: Züge mit Panzern und Konvois auf Autobahnen könnten dann zum Bild gehören.
Die schnelle Verlegung eigener Kräfte von Norwegen bis Rumänien wird, genau wie Steadfast Defender, ein Test für das Funktionieren von miteinander verknüpften Nato- und nationalen Verteidigungsplänen sein – schließlich wird noch die Verlegung von Kräften von Nordamerika nach Europa geübt. Im ganzen Übungsraum werden insgesamt rund 40.000 Soldaten teilnehmen. Es ist eine Show of Force. Eine Übung, aber eben auch ein Signal nach Moskau.
Tatsächlich ist es alles andere als normal, wenn alle Ressourcen in die Aufrüstung und die Vorbereitung auf einen möglichen Krieg mit Russland gesteckt werden, während kaum Anstrengungen unternommen werden, aus der jetzigen Eskalationsspirale wieder herauszukommen. Voriges Jahr gab es an vielen Orten Proteste gegen die Großübung Air Defender (siehe Telepolis-Artikel Luftwaffen-Manöver Air Defender 23: "Wir sind in der Führungsrolle"). Es wäre wünschenswert, wenn eine ähnliche Mobilisierung auch für die noch einmal weit umfassenderen Quadriga-Manöver gelänge.
Etwas Zeit bleibt hierfür noch, schließlich startet das Manöver offiziell ja erst Mitte Februar und wird dann auch mehrere Monate dauern – mit sichtbaren Vorbereitungen wurde allerdings bereits kürzlich begonnen. Am 16. Januar 2024 war auf der Bundeswehr-Internetseite zu lesen:
Soldaten der Gebirgsjägerbrigade 23 haben in Bad Reichenhall drei Tage lang die schneebeweglichen Geländetransportfahrzeuge vom Typ Hägglunds und anderes Material für den Bahntransport nach Norwegen vorbereitet. […] Die Übung beginnt schon mit den logistischen Prozessen zu Hause, und nicht erst im Norden Norwegens am Polarkreis. Die Verlegung ist somit der Startschuss für mehrere Folgeübungen in Norwegen.