Europäischer Raketenschild: Hohe Kosten, unklarer Nutzen

IRIS-T SLM-Startgerät

Diehl IRIS-T SLM-Startgerät. Bild: Boevaya mashina, CC BY-SA 3.0

Neue Debatte um EU-Raketenschild. Deutschland treibt die Initiative voran. Doch ob der teure Schutz wirklich effektiv ist, bleibt fraglich. (Teil 2 und Schluss)

Lesen Sie im ersten Teil dieses Artikels: Die jüngsten Eskalationen im Gazastreifen, der Iran-Israel-Konflikt und der Ukraine-Krieg haben in Europa die Diskussion über einen Schutz vor weitreichenden Flugkörpern neu entfacht. Insbesondere in Deutschland wurden Initiativen für einen europäischen Raketenschild (Essi) angestoßen, um Abwehrsysteme für verschiedene Reichweiten zu beschaffen.

Deutschland hat bereits Systeme wie IRIS TSL-M und Arrow 3 erworben. Die Essi-Initiative zielt darauf ab, eine umfassende Verteidigung gegen Raketen, Drohnen und Marschflugkörper zu etablieren. Das Projekt ist jedoch politisch und wissenschaftlich umstritten. Kritiker bemängeln die realisierbare Wirksamkeit und die hohen Kosten.

Trotz Nato-Integration gibt es Bedenken hinsichtlich der tatsächlichen Schutzfähigkeit eines solchen Schildes. 21 europäische Staaten wollen nun unter Nato-Kommando ihre Luftsicherheit verbessern, jedoch bleibt die Fähigkeit des Systems, umfassende Sicherheit zu bieten, umstritten.

EU-Raketenabwehr: Soll jede Rakete abfangbar sein?

Zunächst ist auch auf der Seite der offensiven Systeme die Zeit nicht stehen geblieben. Es mag unterschiedliche westliche Einschätzungen über den Grad der Progression der russischen Forschungen im Bereich der hypersonischen Waffensysteme geben.

Man ist sich aber einig, dass die Aussage des russischen Präsidenten Putin, diese neuen Systeme seien bewusst so konzipiert, dass sie westlichen Raketenabwehrsystemen ausweichen könnten, ernst zu nehmen ist.1

Keine Klarheit über Raketenabschüsse

Aufgrund der Kriegsberichterstattung beider Seiten im Ukraine-Krieg gibt es keine allseits akzeptierte Zahlengrundlage über die jeweiligen Raketen-Abschüsse, jedoch muss die Luftverteidigung der Ukraine regelmäßig auch das Verfehlen russischer Flugkörper eingestehen.

So muss auch die Euphorie um den Abschuss einer Kinschal-Rakete durch ein Patriot-System (oder mehrere) im Januar – wenn damals zuerst unbestätigt – und im Mai 2023 gleichzeitig als das Eingeständnis gewertet werden, dass westliche Luftabwehr-Systeme auch weiterhin Probleme haben werden, eine hohe Treffer-Ratio gegen russische Systeme zu erzielen. Dabei wurden wichtige neue russische hypersonischen Waffen noch gar nicht eingesetzt.

Abschussrate von 100 Prozent? Nicht belegt!

Auch der ukrainische Kommentar, die bisherigen Einsätze der drei deutschen Iris-T SLM-Systeme würden Abschussrate von 100 Prozent leisten, ist nirgendwo unabhängig belegt. Wie "umfassend" kann also der Schutz durch eine europäische Luftabwehr überhaupt sein, angesichts dieser Sachlage?

Dass diese Frage sich jetzt stellt, sollte in Berlin oder Brüssel nicht für Überraschung sorgen: Denn seit Jahren verweisen US-Forscher wie Hans Kristensen auf die unsicheren Testergebnisse von Abfangsystemen wie Aegis Ashore, dem auch durch Essi zu beschaffenden PATRIOT, und anderen Systemen.2

Debatte um Sinn von Raketenabwehr

Auch in Deutschland wurde schon seit den 2000er-Jahren umfangreich zur Frage der Sinnhaftigkeit solcher Systeme geforscht – insbesondere die wissenschaftlichen Arbeiten von Mitarbeitern des IFSH sind hierbei zu nennen.

Diese Ergebnisse kamen schon bei der Diskussion der Fähigkeiten des EPAA zu grundsätzlichen Zweifeln an der Möglichkeit eine auch nur annähernd "umfassenden" Schutzes eines Luftraums durch Raketenabwehr unter den technologischen Bedingungen des 21. Jahrhunderts.3

Einsatzszenarien für Essi II: alle Flugkörper eleminieren?

Das zweite Szenario zeigt die Problematik der Ambition eines "umfassenden" Schutzes selbst für den Fall auf, dass das Problem Trefferquote gelöst werden würde. Die Planungen über die Anzahl der im Rahmen von Essi zu beschaffenden Systeme sind zwischen den Partnern noch in Verhandlung.

Trotzdem ist mit der Auswahlentscheidung etwa für Iris-T bereits die Kostendimension für die Beschaffung der Abfangmunition gesetzt. Die im Vorjahr vom Bundestag bewilligte erste Beschaffung von Iris-T für die Bundeswehr stellt 400.000 Euro pro Abwehrflugkörper in Rechnung.

Aufwand und Nutzen der Raketenabwehr

Diese Zahlen lassen eine Kalkulation bei den ausgewählten Systemen für Essi im Sinne eines Kostenvergleichs zwischen angreifenden und verteidigenden Systemen zu. Wenn man ein Szenario zugrunde legt, das von einem vollen konventionellen Konflikt zwischen Russland und der Nato ausgeht, wie die neuen Verteidigungspläne der Nato nahelegen, dann wird die Frage von Aufwand und Nutzen bei der Ausrüstung mit Abfangsystemen entscheidend.4

Wenn heute geschätzt wird, dass den ukrainischen Kosten für eine Abfangrakete des Iris-T SLM-Systems von rd. 150.000 Euro Kosten von nur 30.000 Dollar für die Herstellung einer Geran-Drohne auf russischer Seite gegenüberstehen, dann wird die Asymmetrie des Ressourceneinsatzes offenbar. Die Munitionsknappheit auf ukrainischer Seite ist bekannt.

Die Abwehr überwältigen

Sie würde entweder ein Wear-down (wie jetzt im Falle der Ukraine) oder eine plötzliche, durch den massierten Einsatz von Quantitäten ermöglichte Überwältigung der Luftverteidigung möglich machen. Jüngstes und eindrücklichstes Beispiel dafür waren die Raketenangriffe der Hamas auf das Territorium Israels, die den Terrorangriff vom 7. Oktober 2023 einleiteten.

Zwischen 2.500 und 5.000 Raketen (jeweils nach Angaben Israels und der Hamas) griffen Israel zu gleicher Zeit binnen zwei Stunden an - eine Anzahl, auf die vom Abwehr-System Iron Dome nicht mehr adäquat reagiert werden konnte.

Lehren aus Israel

Denn obwohl die Trefferquoten auch an dem Tag durchaus über 80 Prozent lagen, war die Anzahl der vorhandenen Abfangsysteme nicht in der Lage, der Menge der Angriffssysteme Herr zu werden. Diese Überforderung, die durch die Auswahl von Zeitpunkt und Anzahl vom Gegner bestimmt werden könne, zeige grundsätzlich die 'Grenzen der Technologie im Krieg', wie das Modern War Institute seine Einschätzung dazu überschrieb.5

Selbst wenn ein solcher massiver Schlag abgewehrt werden könnte, stellt sich auf mittlere Sicht die Frage der Effektivität von Luftverteidigungsmaßnahmen mit den Parametern von Essi.

Gerade die Taktiken der Luftkriegsführung seit dem Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien, und mehr noch im Krieg Russlands gegen die Ukraine machen klar, dass diejenige Seite die Frage der Luftüberlegenheit für sich entscheiden kann, die Angriffswaffen kostengünstiger produziert.

Auch auf lange Sicht wäre also eine Überwältigung der durch Essi angeschafften Luftverteidigungssysteme mittels einem massiven Einsatz ressourcengünstigerer Angriffswaffen immer wieder möglich – mit wahrscheinlich kriegsentscheidenden Konsequenzen. Auch bei einem solchen Angriffsszenario wäre also die Fähigkeit zu einer umfassenden Verteidigung des europäischen Luftraums eine Illusion.

Essi – und was es nicht kann: Sicherheitspolitik und nukleare Frage

Unsicherheiten über die letztendlichen Essi-Fähigkeiten lassen sich mittlerweile an den vielen Publikationen zum Thema ablesen, in denen diese Frage gar nicht behandelt wird.

Aufgrund des offiziellen Schweigens zur militärischen Funktion von Essi bemühen sich schon jetzt zahlreiche regierungsnahe Stiftungen um "Erwartungsmanagement": Im Spannungs- oder Verteidigungsfall würden damit "einzelne strategische Hochwertziele wie Stützpunkte, Häfen oder Regierungsinstitutionen geschützt werden", hofft man bei der SWP plötzlich sehr moderat.6

Selbst Positionierungen, die am Ziel der umfassenden Luft-Unverwundbarkeit festhalten, orientieren unter dem Eindruck des geschilderten Überwältigungsszenarios inzwischen auf eine grundlegende technologische Wende weg von "Missile Defence" insgesamt, hin etwa zu Laserabwehr-Technologien.7

Denn im Hintergrund aller dieser Kalkulationen um eine "umfassende Sicherheit" (oder Unverwundbarkeit) steht natürlich die Frage, ob auch nur ein einzelner, nicht abgeschossener Flugkörper eine nukleare Ladung tragen, und so gegebenenfalls jedes weitere Agieren sinnlos bzw. völlig unkalkulierbar machen könnte.

Beide vorgestellten Szenarios legen nahe, dass auch der aktuell geplante Raketenschirm im Ernstfall überwindbar sein dürfte. Und dies hieße im Falle eines vollen konventionellen Konflikts in Europa, dass die unterlegene Seite (wahrscheinlich Russland) trotzdem die Möglichkeit behielte, eine ggf. absehbare Niederlage durch den Einsatz nuklearer Waffen abzuwenden.

Anders gesagt: Auch die Essi-Initiative, genau wie alle vorhergehenden Versuche der Errichtung von Raketenabwehrsystemen in Europa, gibt keine Antwort auf die "ragged second strike question" a la Kristensen et.al., die sich hier wieder neu stellt.

Es ist Zeit, grundsätzlicher zu fragen: Ist Sicherheit vor Luftbedrohungen, letztendlich auch vor einem atomaren Angriff, durch eine europäische Raketenabwehr zu garantieren oder auch nur hinreichend plausibel zu machen? Das kann man mit hoher Wahrscheinlichkeit verneinen.

Die nunmehr von Verteidigern des Projekts hervorgebrachten, immer defensiveren Argumente für eine punktuelle Luftvereidigung machen im Szenario Nato-Russland keinen Sinn, denn sie ignorieren die unausweichliche nukleare Perspektive eines solchen Konflikts.

Die Logik der technologischen Fortentwicklung im Wettrüsten zwischen Luftangriffs- und Luftverteidigungssystemen, und die immer mögliche quantitative Überforderung solcher Systeme sorgen dafür, dass einseitige Sicherheit in dieser militärischen Dimension nicht erzielt werden kann. Sicherheit vor einem vollen strategischen Schlag mit strategischen Abstandswaffen wird nicht zu erreichen sein, wie auch militärnahe US-Experten mittlerweile zugeben.

In wenigen militärischen Dimensionen ist die Alternativlosigkeit gemeinsamer Sicherheits-Arrangements in Europa augenfälliger als hier. Diese Einsicht muss nun Einzug halten. Der Vorschlag, zunächst alle hypersonischen Waffen im Rüstungskontrollregister MTCR einzumelden, könnte ein erster entscheidender Schritt in Richtung Vertrauensbildung sein – und könnte die Grundlage für Verhandlungen für einen neuen, multilateralen ABM-Vertrag bilden – eine politisch schwierigere, aber wesentlich sicherere Perspektive als jeder Raketenschirm.