Krise und Wahn
Je weiter sich die kapitalistische Systemkrise in die Gesellschaft und das Massenbewusstsein hineinfrisst, desto irrationaler gestaltet sich die öffentliche Rezeption des Krisengeschehens
So eine Crisis könnte auch ihre amüsanten Seiten haben. Wären die derzeitigen Zerfallsprozesse in der Europäischen Union nicht so brandgefährlich, dürfte man sich über das absurde Theater köstlich amüsieren, das Politik und Massenmedien mit zunehmender Krisenintensität aufführen. Wenn die eskalierenden nationalen Spannungen in der Europäischen Union mit persönlichen Lästereien des politischen Spitzenpersonals einhergehen, bei denen sich etwa Sarkozy über die mangelnde Disziplin Merkels bei ihrer Diät auslässt oder Berlusconi den "unpackbaren Hintern" der deutschen Bundeskanzlerin beschreibt, dann grenzt das selbstverständlich an eine Satire, wie sie etwa von Spitting Image ausgebrütet worden sein könnte. Die Führer der "westlichen Welt" benehmen sich wie Schuljungen, die bei wechselseitigen Pöbeleien die Hackordnung auf dem Schulhof herzustellen versuchten.
Die schrillen chauvinistischen Töne, mit denen nun immer neue Schuldige an der Zuspitzung der europäischen Schuldenkrise durch die massenmediale Arena getrieben werden - seien es nun Griechen oder Italiener -, hätten noch vor wenigen Monaten Anzeigen wegen Volksverhetzung nach sich gezogen.
Spätestens seit der Ankündigung des Referendums über das nächste Kahlschlagprogramm in Athen gehen viele Massenmedien in offene Hetze gegen Griechenland über. Der Focus vergleicht "die Griechen" mit Junkies, die vom "frischen Geld" abhängig wären (Wer ist das nicht, im Kapitalismus?). Die Leipziger Volkszeitung fragt hingegen rhetorisch: "Spinnen die Griechen?" Das Referendum - eine demokratische Selbstverständlichkeit - wird als "ziemlicher Wahnsinn" bezeichnet.
Für die Sächsische Zeitung ist Demokratie in Krisenzeiten schlicht unverantwortlich: "In einer politisch aufgeheizten Stimmung wie in Griechenland kann man keine Volksabstimmung abhalten." Die übelsten Hetztriaden sondert in bewährter Manier die Bildzeitung ab, die Griechenlands Bevölkerung mit Aussätzigen http://www.az-online.de/nachrichten/politik/spinnen-griechen-pressestimmen-volksabstimmung-1472085.html gleichsetzt: "Und jetzt kommt es einem so vor, als ob man die Patienten auf der Quarantänestation über die Frage abstimmen lässt: Wollt ihr lieber hier bleiben oder in der nächsten Taverne feiern?" Zum Regierungssturz in Athen ruft hingegen kaum verhohlen die Wirtschaftswoche auf:
Spätestens jetzt müssen die Euro-Retter einsehen: Papandreou ist nicht die Lösung. Er ist Teil des Problems. Bisher galt er als einziger möglicher Partner, da der Führer der konservativen Opposition Antonis Samaras die europäischen Rettungspakete in Bausch und Bogen verdammt hat. Die europäischen Politiker müssen sich schnellstens nach Alternativen umsehen. Anders wird der Euro nicht zu retten sein.
Wirtschaftswoche
Die Entscheidung der griechischen Regierung, jüngst die Militärführung auszuwechseln, erscheint somit nicht mehr ganz so abwegig. Den Aufforderungen zum Regierungssturz scheint übrigens bereits der griechische Finanzminister nachkommen zu wollen, der als williger Exekutor des Brüsseler Sparterrors in Griechenland gilt.
Die bizarrsten Auslassungen der hiesigen Medienmeute gründen aber auf der Prämisse, die auf Weisung Berlins und Brüssels in Griechenland exekutierten Krisenmaßnahmen stellten eine "Hilfe" für das in einer schweren Depression versinkende Land dar. Athen wolle über "Europas Hilfe" ein Referendum abhalten, meint etwa Welt Online. Die FAZ sprich witzigerweise von einem "Treppenwitz der Geschichte", da Griechenland ein "billionenschweres Hilfspaket" ablehnen könnte:
Die EU schnürt unter größten Verrenkungen und unter erheblichen politischen Kosten ein billionenschweres Hilfspaket, um den zahlungsunfähigen Mitgliedsstaat im Südosten in letzter Minute vom Abgrund zurückzureißen. Sogar die europäischen Großbanken sind 'freiwillig' mit dabei. Doch möglicherweise macht das Land nicht mit, das gerettet werden soll. Der Ausgang der angekündigten Volksabstimmung ist alles andere als gewiss, Märkte und Politik aber haben schon eine düstere Vorahnung. Papandreou, der jeden Tag stürzen könnte, spielt alles oder nichts.
FAZ
Hierbei handelt es sich um groteske Verdrehungen der Realität, die ohne Übertreibung Orwellsche Dimension erreichen - und bei denen nicht mal mehr aussagenlogische Mindeststandards eingehalten werden können: Wieso sollte der Ausgang der Volksabstimmung "alles andere als gewiss" sein, wenn es sich bei den Krisenmaßnahmen tatsächlich um ein "billionenschweres Hilfspaket" handeln würde?
Die Wirklichkeit wird auf den Kopf gestellt
Die Fieberträume von FAZ und Welt stellen die Wirklichkeit auf den Kopf. Tatsächlich hat die bisherige Krisenpolitik der EU maßgeblich dazu beigetragen, dass Griechenland sich längst im freien Fall in den wirtschaftlichen "Abgrund" befindet. Die Krisenkredite, die Griechenland gewährt wurden, gingen mit der Verordnung extremer "Sparpakete" einher, die einem rabiaten Kahlschlagsprogramm gleichkamen und zu einem schweren Wirtschaftseinbruch führten.
2009 bewegte sich die griechische Staatsverschuldung bei rund 120 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, inzwischen ist die Staatsschuld Athens auf rund 160 Prozent des BIP angeschwollen und soll dank des - inzwischen wieder infrage gestellten - Schuldenschnitts auf rund 120 Prozent des BIP in 2020 absinken. Das jüngste "billionenschwere Hilfspaket" der sogenannten "Euro-Retter" Merkel und Sarkozy würde somit den Schuldenberg in Griechenland auf ein Niveau absenken, das Athen vor Beginn der "Sparmaßnahmen" aufwies.
In der Zwischenzeit ist aber Griechenland in die Depression gespart worden. Dem Scheitern dieser knallharten Sparpolitik in Athen liegt schlicht der Umstand zugrunde, dass die Sparmaßnahmen aufgrund einbrechender staatlicher und privater Nachfrage eine heftige Rezession ausgelöst haben. In dieser ökonomischen Abwärtsspirale sinken die Steuereinnahmen und die Sozialausgaben nehmen rasch zu, wodurch die Einsparungen des "zahlungsunfähigen Musterschülers" Griechenland weit überstiegen werden. Die einsetzende Depressionsspirale lässt neben zunehmender Verarmung - inzwischen fallen in griechischen Schulen angeblich auch schon Kinder vor Hunger in Ohnmacht - auch die Staatsschuld immer höher in Relation zum BIP ansteigen.
Bei jedem EU-Kreditpaket an Griechenland ist Athen genötigt worden, solch drastische Sparmaßnahmen durchzusetzen, die zu einer Vertiefung der Depression führten und die Schuldenkrise immer weiter eskalieren ließen. Und jedes Mal bestanden Brüssel und insbesondere Berlin darauf, dass neue Kahlschlagprogramme durchgesetzt werden. Auch das jüngste "EU-Hilfspaket" für Griechenland ist an solche drastischen Austeritätsmaßnahmen gekoppelt. Die EU setzt somit weiter auf eine offensichtlich gescheiterte Politik. Die Realität in Griechenland - das de facto in die Staatspleite gespart wurde - wird von der Politik und den Massenmedien einfach ausgeblendet. Jedes gescheiterte Sparpaket provoziert in der hiesigen Öffentlichkeit und Politik nur Rufe nach der Fortführung des Sparterrors in Athen. Diese offensichtliche Unfähigkeit, das Scheitern der Austeritätspolitik überhaupt wahrzunehmen, verleitete den US-Ökonomen Krugman zu der Bemerkung, bei den EU-Eliten handele es sich um "Wunderheiler, die sich Dinge ausdenken, um ihre Vorurteile bestätigen zu können".
Der blanke Irrsinn der europäischen Krisenpolitik äußert sich auch darin, dass andere europäische Schuldenländer zu derselben Austeritätspolitik gezwungen werden, die gerade in Griechenland gescheitert ist. Eine ähnliche Entwicklung zeichnet sich in Portugal ab, wo ebenfalls im Gegenzug für Krisenkredite knallharte Sparprogramme umgesetzt wurden. Ende Oktober hat die Regierung in Lissabon ihre Wirtschaftsprognosen für 2012 nach unten korrigiert: Das BIP soll im kommenden Jahr um 2,8 Prozent schrumpfen, ursprünglich ging Lissabon von einem Minus von 1,8 Prozent aus. Diese wirtschaftliche Kontraktion wird auch die Realisierung der Sparvorgaben aus Brüssel und Berlin unmöglich machen.
Auf dem letzten EU-Gipfel wurde überdies Italien von Berlin und Paris gedrängt, mittels rabiater Sparprogramme einen ähnlichen Kurs zur Haushaltkonsolidierung einzuschlagen, wie er Griechenland oder Portugal mit verheerenden Folgen aufgenötigt wurde. So hat sich der unter Druck gesetzt italienische Ministerpräsident Berlusconi verpflichtet, eine "Schuldenbremse" nach deutschem Vorbild in der Verfassung zu verankern, den Staatshaushalt bis 2012 zu konsolidieren, und bis 2013 die Staatsschuld von 120 Prozent des BIP auf 113 Prozent zu senken. Dem ohnehin in wirtschaftlicher Stagnation verharrenden Italien droht somit ein ähnlicher Absturz wie Griechenland und Portugal.
Albert Einstein definierte Wahnsinn als das Bestreben, "immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten". Die europäische Krisenpolitik erfüllt alle Voraussetzungen, um gemäß dieser Einsteinischen Definition als wahnsinnig bezeichnet zu werden.
Autoritäre Identifikation mit der Ökonomie
Dieser manische Wiederholungszwang bei der Durchsetzung von Kahlschlagprogrammen - die ideologisch motivierten sadistischen Bestrafungsaktionen für vermeintliche "Schuldensünder" gleichkommen - seitens der Politik findet auch in den Massenmedien seinen Widerhall. Es scheint, als ob die immer krasser zutage tretenden Widersprüche des in Agonie befindlichen Kapitalismus eine Art Massenflucht in ein weltanschauliches Wunder- oder Zauberland befördern würden. Die kapitalistische Systemkrise wird nicht als solche erkannt, es findet eher eine fiebrige Suche nach den "Schuldigen" statt, während der Kapitalismus als solcher stumme Voraussetzung bleibt. Weite Teile des öffentlich geführten Diskurses kapseln sich von der Realität in einer Art massenmedial induzierten Blase ab, in der die alten ideologischen Gewissheiten weiterhin gepflegt werden können.
Wieso ist eigentlich vor allem in Deutschland der Ruf nach Bestrafung, nach knallhartem Sparterror gegenüber den südeuropäischen "Schuldenländern" so laut vernehmbar? Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Arbeitnehmer in Deutschland spätestens mit den Hartz-IV-Gesetzen zu Lohnverzicht und umfassender Prekarisierung des Berufslebens genötigt wurden, was ja allgemein als ein notwendiges Opfer auf dem Altar des "Wirtschaftsstandorts Deutschland" legitimiert wurde. Im Zuge der Durchsetzung von Hartz-IV ist die Ökonomie zur zentralen Legitimationsinstanz des öffentlichen Diskurses erhoben wurden. Dieser dominante Ökonomismus lässt den Hass auf alle hochkochen, die das reibungslose Funktionieren der Wirtschaftsmaschinerie scheinbar behindern:
Die ständige Orientierung auf wirtschaftliche Ziele - präziser: die Forderung nach Unterwerfung unter ihre Prämissen - verstärkt einen autoritären Kreislauf. Sie führt zu einer Identifikation mit der Ökonomie, wobei die Verzichtsforderungen zu ihren Gunsten in jene autoritäre Aggression münden, die sich gegen Schwächere Bahn bricht.
Aus der Studie: Die Mitte in der Krise
Es handelt sich hierbei um schlichtes Untertanendenken, bei dem die Wut sich gegen alle Menschen richtet, die sich den Prämissen der gerade Amok laufenden "Ökonomie" nicht beugen wollen - und etwa Generalstreiks durchführen, anstatt sich in Niedriglöhne und Hartz-IV-Zwangsarbeit zu fügen. Für alle Menschen, die die Prämissen der Ökonomie verinnerlicht haben und deswegen Verzicht üben, muss ein Widerstand gegen die wirtschaftlichen "Sachzwänge" unerträglich scheinen.
Globales Nullsummenspiel
Vollends ins Absurde driftet aber dieser totalitäre Ökonomismus bei der krampfhaften Exportfixierung ab, wie sie gerade seitens der deutschen Politik in der Krise gegenüber ganz Europa gepredigt wird. Mit dem ursprünglich von Berlin ausgebrüteten "Pakt für Wettbewerbsfähigkeit" sollten alle Eurozonenländer nach deutschem Ebenbild vermittels Sozialabbau und Lohnsenkungen zu wettbewerbsfähigen und exportfixierten Volkswirtschaften umgebaut werden. Tatsächlich konnte Berlin etliche südeuropäische Länder dazu bewegen, "Schuldenbremsen" nach deutschem Vorbild einzuführen. Frankreichs Präsident Sarkozy lobte unlängst sogar öffentlich das "deutsche Modell" und erklärte es zu einem "Vorbild" für Frankreich.
Das Problem bei dieser ökonomischen "Germanisierung" Europas ist nur, dass diesem Vorhaben die Arithmetik im Wege steht. Rund 70 Prozent des Wirtschaftswachstums in der Bundesrepublik seit 2009 resultierte aus den Außenhandelsüberschüssen der deutschen Exportindustrie - ohne diese Handelsüberschüsse gäbe es nicht mal die von den Massenmedien gehegte Illusion eines "Wirtschaftswunders" in Deutschland.
Bei dieser Fixierung auf Handelsüberschüsse wird aber gerne übersehen, dass es sich um ein globales Nullsummenspiel handelt. Werden auf globaler Ebene alle Exportüberschüsse und Handelsdefizite miteinander verrechnet, dann ergibt dies immer genau Null Euro. Eine einzelne Volkswirtschaft kann somit nur dann Exportüberschüsse erwirtschaften, wenn andere Länder Defizite verzeichnen. Deutschland Exportindustrie konnte nur deswegen so erfolgreich sein, weil sich die Zielländer dieser deutschen Exporte verschuldeten - was ja nicht unerheblich zur Schuldenkrise in der Eurozone beigetragen hat. Eine Exportfixierung der gesamten Eurozone könnte nur gegenüber anderen Ländern und Währungsräumen möglich sein, wobei sich dieses auch nur durch Verschuldungsprozesse in den Zielländern dieser Exportoffensiven realisieren ließe. Diesem wahnhaften Versuch, eine Eurozone nach deutschem Ebenbild zu formen, steht schlicht die Mathematik im Wege. Die Welt ist nun mal ein begrenzter Ort.
Suche nach Sündenböcken
Das gefährlichste Moment des um sich greifenden Krisenwahns bildet aber die rastlose Suche nach dem oder den "Schuldigen", die für das sich entfaltende Desaster verantwortlich gemacht werden können.
Großer Beliebtheit als handfeste Sündenböcke erfreuen sich hierzulande ja aktuell die Griechen und Italiener, wobei der Trend dazu geht, die Südeuropäer allgemein mentalitätsbedingter Defizite zu bezichtigen, die zu der Ausbildung der dortigen Schuldenberge beigetragen haben sollen. In Südeuropa wird übrigens zurückgehasst. Hier ist inzwischen der "Europäische Zuchtmeister" Deutschland zu einem zentralen Feindbild avanciert. Des Weiteren werden noch allgemein raffgierige Banker oder auch - etwas spezifischer - angelsächsisches Finanzkapital als Verursacher der Krise gehandelt. Die mit der Krise einhergehende Verelendung wird in Deutschland seit der Sarrazin-Debatte gerne auf angebliche genetische Defekte marginalisierter Muslime zurückgeführt, während in Südosteuropa die Elendskriminalität der Roma als Ursache der Verarmung halluziniert wird.
Gemeinsam ist dieser Sündenbocksuche die brandgefährliche Personifizierung von Krisenprozessen des kapitalistischen Systems. Die nun krass hervortretenden Widersprüche des Krisenkapitalismus werden so zu Eigenschaften von bestimmen Bevölkerungsgruppen gemacht. So werden "gesellschaftliche Probleme zu individuellen oder ethnischen Eigenschaften umgedeutet", was letztendlich zu der mörderischen Schlussfolgerung führen kann, dass der Existenz einer bestimmten Gruppe oder Person ein Ende bereitet werden müsste, um die Krise zu überwinden.
Bei der letzten Weltwirtschaftskrise haben ja die Nazis die Juden zu solch einer Personifizierung der Krise halluziniert. Zudem lässt die Krise auch den in Europa heimischen Nationalismus und Chauvinismus wieder aufblühen, da die Gegensätze zwischen den Staaten an Schärfe gewinnen und dies ebenfalls mit nationalistischen Schuldzuweisungen oder Angriffen einhergeht. Diese Renaissance des Nationalismus fand auch im Gefolge der letzten Weltwirtschaftskrise statt - die Ergebnisse sind bekannt.
Die nun eskalierenden Konflikte zwischen den zentralen europäischen Mächten machen deutlich, dass der Krisenprozess sehr weit fortgeschritten ist. Die Krise des kapitalistischen Systems frisst sich von der Peripherie ins Zentrum. In der Europäischen Union wurden zuerst die randständigen Volkswirtschaften Osteuropas von der Krisendynamik erfasst, die hiernach nach Südeuropa übergriff und sich nun in Frankreich mit drohenden Bonitätsabwertungen ankündigt. Die kapitalistische Krisenpolitik besteht im Grunde darin, die volle Krisenlast den Volkswirtschaften und Bevölkerungsgruppen aufzubürden, die von der Krisendynamik erfasst werden. Man kann für diese menschenverachtende Krisenpolitik die Allegorie eines sinkenden Bootes wählen, bei dem die Passagiere der ersten Klasse diejenigen der zweiten und dritten Klasse über Bord werfen, um noch etwas Zeit zu gewinnen - bis sie selbst an die Reihe kommen. Mit dem sich abzeichnenden Kriseneinzug in Frankreich geht dieses Spielchen zu Ende: Die Krise kann nicht mehr auf randständige Länder oder Bevölkerungsgruppen abgewälzt werden.
Was bei dieser Sündenbocksuche, dem Abwälzen der Krisenlasten und den wechselseitigen nationalen Schuldzuweisungen überhaupt nicht reflektiert wird, ist der in einer Systemkrise befindliche Kapitalismus, dessen Strukturen und dessen Kategorien in Auflösung begriffen sind. Begriffe wie Arbeit, Markt, Kapital oder Geld haben den Charakter von Naturgegebenheiten angenommen, die so gut wie nie hinterfragt werden. Für das in kapitalistischen Kategorien gefangene Bewusstsein scheint es, als ob mit diesem System auch die Welt untergehe, also ob die scheinbaren "ewigen Naturgesetze" kapitalistischer Vergesellschaftung aufgehoben würden. Da der zu einer naturgemäßem Voraussetzung menschlicher Existenz ideologisierte Kapitalismus nicht als Krisenursache infrage kommt, müssen Fehlverhalten oder Eigenschaften einzelner Gruppen für die Misere verantwortlich gemacht werden. Die eigentlich naheliegende Idee, wonach die gegenwärtige Krise eine Krise des Kapitals sein könnte, scheint innerhalb des öffentlichen Diskurses kaum formulierbar.
Dieses offensichtliche Unvermögen, die derzeitige kapitalistische Systemkrise mit dem kapitalistischen System in Zusammenhang zu bringen, äußert sich übrigens besonders krass bei der öffentlichen Interpretation der offensichtlichsten Krisenfolgen: der gigantischen Schuldenberge, unter denen das System gerade zusammenzubrechen droht. Diese werden oftmals auf einen rauschartigen Exzess zurückgeführt, bei dem die beteiligten Volkswirtschaften "über ihre Verhältnisse" gelebt hätten. Die "Gier" der Banker oder der "südeuropäische Schlendrian" werden dann hierfür verantwortlich gemacht. Auf die naheliegende Idee, diese ideologischen Wunschbilder mit der bitteren Realität all jener Länder zu konfrontieren, die tatsächlich sich am Schuldenabbau und Haushaltssanierung versuchen, kommen die Massenmedien nicht. Denn sonst könnte den Verantwortlichen die Einsicht heraufdämmern, dass es gerade diese Verschuldungsdynamik war, die dieses System überhaupt noch am Laufen hielt (Die Weltwirtschaftskrise als Schuldenkrise).
Dabei läuft die Zeit ab, in der ein rationales und auch radikales Hinterfragen der sozialen Verhältnisse (und das Kapital ist nichts anderes als ein Soziales Verhältnis), unter denen wir leben, überhaupt noch möglich ist. Ab einer bestimmten Eskalationsstufe der Krise wird die bereits allgegenwärtige blinde Wut, die das in Agonie befindliche System ausschwitzt - und die sich derzeit in wilden Schuldzuweisungen äußert - übermächtig. Der Wahn wird sich der krisengeschüttelten Gesellschaft vollends bemächtigen.