Krisenmythos Griechenland

Die wichtigsten deutschen Handelspartner. Grafik: TP

Athens Schuldenkrise ist nicht Ursache, sondern lediglich Auslöser der neuesten Etappe einer seit Jahrzehnten schwelenden Krise

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Die veröffentlichte Meinung in Deutschland hat einen neuen Krisen-Mythos geschaffen. Nun sollen es die faulen und korrupten Griechen sein, die sich durch die Manipulation statistischen Materials in die Eurozone mogelten, die europäische Einheitswährung an den Rand des Zusammenbruchs führten und künftig den hart arbeitenden Deutschen auf der Tasche liegen dürften. Endlich verfügt Deutschland über ein Feindbild, das nahezu alle Gesellschaftsschichten – vom exportfixierten Unternehmer bis zum prekarisierten Niedriglohnempfänger - im nationalistisch gesättigten Hass volksgemeinschaftlich vereint.

Das tausendfach in allen Medienorganen wiederholte Mantra geht in etwa folgendermaßen: Während in Deutschland hart angepackt werde, die deutschen Lohnabhängigen für immer weniger Geld immer länger arbeiteten und Kürzungen bei Renten und sozialen Leistungen brav schluckten, hätten es sich die Griechen dank ausufernder Korruption in einer gut gepolsterten sozialen Hängematte bequem gemacht. Vielen Menschen in Deutschland schien die Krise nach den milliardenschweren Aufwendungen für Konjunkturhilfen und zur Stabilisierung des Finanzsystems fürs Erste überstanden, doch nun würden "die Griechen" die wirtschaftliche Erholung ruinieren. Das brandgefährliche nationalistische Stereotyp des "ausländischen Parasiten", der am kerngesunden deutschen Volkskörper zehrt, findet so kaum verhüllt Verbreitung.

Im Folgenden soll dargelegt werden, dass die Schuldenkrise Griechenlands nicht die Ursache, sondern lediglich das auslösende Moment für das jüngste Stadium der Weltwirtschaftskrise bildete. Zudem sollen die Ursachen dieses Krisenverlaufs erhellt werden. Diese Krise durchlief bereits einen spezifischen Formwandel. Der Krisenprozess, der sich zuerst als eine Krise der Finanzmärkte äußerte, um später in einen beispiellosen Wirtschaftseinbruch überzugehen, scheint nun zu einer Krise der Staatsfinanzen mutiert zu sein.

Griechenland stellt aber nur das sprichwörtliche "schwächste Glied" in der Kette sich immer stärker verschuldender Staaten dar. Insofern können durchaus Parallelen zwischen der krisenbedingten "Mythenbildung" bei Griechenland und der Investmentbank Lehman Brothers gezogen werden. So wie der Ausbruch der Krise des globalen Finanzsystems immer noch gerne auf die Pleite von Lehman Brothers zurückgeführt wird, werden nun die Griechen für die sich abzeichnende Schuldenkrise der Staatshaushalte verantwortlich gemacht. In beiden Fällen handelte es sich aber nur um Auslöser, die eine langfristige krisenhafte Entwicklung ins manifeste Stadium treten ließen.

Der Zusammenbruch von Lehman Brothers ließ den jahrelangen – ja jahrzehntelangen! – spekulativen Turmbau zu Babel auf dem amerikanischen Immobilienmarkt und den Weltfinanzmärkten zusammenbrechen. Die griechische Schuldenkrise wiederum lässt die global im Gefolge der Weltwirtschaftskrise rasant zunehmende Staatsverschuldung in ein akutes Stadium treten. Seit Krisenausbruch lassen einbrechende Einnahmen und steigende Ausgaben die Staatsschulden geradezu explodieren. Eine ganze Reihe von Faktoren führte dazu, dass ausgerechnet Griechenland als erster Staat der Eurozone am Rande des Bankrotts taumelt.

Südeuropas Defizitkonjunkturen

Zum einen hat Hellas tatsächlich bereits einen enormen Schuldenberg angehäuft. Der griechische Staat ist inzwischen mit gut 125% des griechischen Bruttoinlandsprodukts verschuldet. Dieses Niveau der Staatsverschuldung ist sehr hoch, aber bei Weitem nicht einzigartig. So ist beispielsweise Italien ähnlich stark verschuldet:

Grafik: TP

Entscheidend in diesem Zusammenhang ist aber auch die Dynamik, mit der die weitere Schuldenaufnahme vonstattengeht. Wie hoch fällt also das Haushaltsdefizit Griechenlands in Relation zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) aus? Dieses ist in Hellas viel höher als in Italien, das "nur" ein Defizit von 5,3 Prozent des BIP aufweist:

Grafik: TP

Griechenland liegt bei der Verschuldungsdynamik ebenfalls an der Spitze. Neben diesen Ländern der Euro-Zone weisen übrigens auch Großbritannien und die USA ein zweistelliges Haushaltsdefizit in diesem Jahr auf. Bei Hellas kommen somit zwei Faktoren zusammen, die in dieser Kombination bei keinem anderen Land der Eurozone anzutreffen sind. Griechenland hat ein ähnlich hohes Niveau der Staatsverschuldung wie Italien erreicht, und es weist ein ähnlich hohes Haushaltsdefizit wie Irland auf.

Neben einem bereits bestehenden hohen Schuldenniveau und der rasant ansteigenden Neuverschuldung fungierte natürlich die breit angelegte Manipulation statistischen Materials als konkreter Auslöser dieser schwelenden griechischen Schuldenkrise. Dennoch stellt Griechenland nur den Extremfall einer breiten Tendenz zur exzessiven staatlichen Verschuldung dar. Nahezu alle südeuropäischen Volkswirtschaften der Euro-Zone weisen entweder ein sehr hohes Schuldenniveau oder eine rasante Verschuldungsrate auf.

Grafik: TP

Bei hoch verschuldeten Staaten nimmt die Last des reinen Schuldendienstes immer weiter zu. Bei den in der obigen Grafik gemeinsam aufgeführten südeuropäischen Ländern erreicht der Schuldendienst bereits Dimensionen von Dutzenden von Milliarden monatlich. Im Falle Griechenland führten vor allem die Monate April und Mai zur Eskalation der Schuldenkrise, wo knapp 20 Milliarden Euro zur Refinanzierung anstehen. Nachdem die Renditen griechischer Staatsanleihen aufgrund der deutschen Hinhaltetaktik in astronomische Höhen von bis zu 15 Prozent schossen, wurde klar, dass ihre Refinanzierung im Mai auf den Finanzmärkten unmöglich sein wird.

Spaniens Staatsveschuldung. Grafik: wirtschaftquerschuss.blogspot.com

Neben Griechenland gilt insbesondere Spanien als ein weiterer südeuropäischer Krisenherd, der allein aufgrund des größeren Umfangs seiner Volkswirtschaft einem regelrechten Sprengsatz für das europäische Finanz- und Währungssystem gleichkommt. Die obige Grafik illustriert sehr schön die Explosion der spanischen Staatsverschuldung, die durch wegbrechende Einnahmen und ausartende Sozialausgaben ausgelöst wurde. Dennoch muss betont werden, dass der spanische Staat vor Krisenausbruch ein sehr niedriges Schuldenniveau aufwies (siehe Grafik 1).

Spaniens Staat ist zwar noch nicht über die Maßen verschuldet, dafür stöhnen aber die spanischen Unternehmen und Spaniens Verbraucher unter einem riesigen Schuldenberg. Den Löwenanteil nimmt dabei die Verschuldung spanischer Unternehmen jenseits des Finanzsektors ein, die allein 136 Prozent des BIP erreicht. Die Konsumenten sind mit 85 Prozent des BIP verschuldet. Somit gehört Spanien – nach Japan, Großbritannien und den USA – zu den am stärksten verschuldeten Industrieländern der Welt.

Wir haben nun in Griechenland einen stark verschuldeten Staat, und in Spanien tief in der Kreide stehende Unternehmen und Konsumenten. Was nun Spanien und Griechenland eint, das sind volkswirtschaftliche Effekte, die mit dieser Verschuldungsorgie der vergangenen Jahre einhergehen. Beide Länder bildeten eine Defizitkonjunktur aus.

Dieser Begriff bezeichnet einen Konjunkturaufschwung, der durch die Ausbildung von Defiziten zustande kommt. Salopp gesagt: Der Aufschwung wird durch Schuldenmacherei ermöglich. Der private Sektor oder der Staat nimmt Kredite auf, gibt dieses Geld aus und schafft so kreditfinanzierte Nachfrage, die stimulierend auf die Wirtschaft wirkt. Auf der Iberischen Halbinsel wurde diese Defizitkonjunktur durch den boomenden Immobilienmarkt angefeuert, in Griechenland sorgten die kreditfinanzierten Staatsausgaben für eine Wirtschaftsbelebung.