Krisenmythos Griechenland

Seite 3: Die Zeit der Demagogen

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Aus den vorhergegangenen Ausführungen müsste vor allem eins klar geworden sein: Es ist Unsinn, die lohnabhängige Bevölkerung Griechenland als eine Ansammlung von faulen "Schmarotzern" darzustellen, die von der harten Arbeit der deutschen Arbeitnehmer leben würden. Dieses propagandistische Muster fand in der hiesigen Boulevardpresse enorme Verbreitung.

Es geht aber auch anders, wie diese Passage aus einem Artikel der "Deutschen Welle" veranschaulicht:

Griechenland steckt unter anderem in einer tiefen ökonomischen Krise: Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei über 20 Prozent. Hinzu kommen sinkende Einkommen bei denen, die dennoch Arbeit finden. Viele müssen mit 800 bis 1000 Euro im Monat zurechtkommen, trotz Studium. Von der "Generation 700 Euro" ist bereits die Rede. ... Hinzu kommt eine soziale Spaltung des Landes. Ein Fünftel der elf Millionen Griechen lebt unterhalb der Armutsgrenze.

Deutsche Welle

Wohlgemerkt, dieses Zitat stammt aus dem Dezember 2008, als schwere Unruhen Griechenland erschütterten, nachdem ein Jugendlicher von Polizisten erschossen wurde. Damals diente Griechenland - das Land mit dem nach Portugal zweitniedrigsten Lohnniveau in der Eurozone - noch nicht als kollektiver Sündenbock der veröffentlichten Meinung in Deutschland. Es ist schlicht absurd, hier eine auf Kosten deutscher Steuerzahler ein Lotterleben führende Bevölkerung halluzinieren zu wollen.

Bei der gegen Griechenland losgetretenen Kampagne sind neoliberale und nationalistische Demagogen bemüht, die Hoheit über den Stammtischen zu erringen. Hierbei sollen Sündenböcke präsentiert werden, die von den wahren Ursachen der jüngsten Etappe der kapitalistischen Krise ablenken sollen. Es ist nicht zufällig, wenn gerade die schärfsten neoliberalen Einpeitscher – wie Hans-Werner Sinn oder Thilo Sarrazin – sich nun auch am lautesten über die "faulen Griechen" empören.

Die aggressive, exportorientierte Ausrichtung der deutschen Industrie ist sowohl für die schleichende Verelendung breiter Bevölkerungsschichten in Deutschland, wie auch für die griechische Defizitbildung verantwortlich. Diese expansive Ausrichtung ist aber kein ewiges Naturgesetz, sondern Produkt einer bestimmten Politik, die spätestens seit den Hartz-IV-Gesetzen unter Rot-Grün forciert wurde. Es sind die wichtigsten Propagandisten dieser aggressiven außenwirtschaftlichen Strategie, die sich nun am lautesten gegen die Opfer dieser Politik wenden – seien es nun griechische Arbeiter oder deutsche Arbeitslose.

Das perverseste Moment an dieser nationalistischen und demagogischen Kampagne, die von den Massenmedien und weiten Teilen der deutschen Politik getragen wird, bildet die Tatsache, dass ein Großteil der Opfer dieser Politik sich nun im nationalistischen Hass gegen die Griechen mit den politischen Kräften und gesellschaftlichen Klassen verbrüdert, die für Sozialraub und Lohnkahlschlag verantwortlich sind. Unter den circa 65% der Deutschen, die laut einer Umfrage jegliche Hilfen an Griechenland ablehnen, befinden sich auch viele Lohnabhängige, die Einkommenskürzungen oder Arbeitszeitverlängerung in den letzten Jahren hinnehmen mussten – oder auch viele Rentner und Arbeitslose.

In gewisser Weise werden bei der derzeitigen Kampagne genauso Neidreflexe gegenüber den Griechen geschürt, wie sie bei der Durchsetzung der Hartz-IV-Gesetze gegenüber den Arbeitslosen entflammt wurden. Letztendlich wurde in beiden Kampagnen die Wut der vom sozialen Kahlschlag betroffenen Menschen auf die schwächsten Mitglieder der deutschen Gesellschaft und der Eurozone gerichtet. Die Implementierung einer nationalistischen Kampagne ist für die Profiteure und Propagandisten dieser Politik äußerst verführerisch, liefert sie doch den verunsicherten Menschen konkrete handgreifliche Sündenböcke für die kommenden Spar-Grausamkeiten.

Griechenland ist nur das schwächste Glied einer Kette von Staaten, die durch eine ausartende Defizitbildung auf die Exportoffensive deutscher Unternehmen reagierten. Der europäische Währungsraum war charakterisiert durch den Exportvizeweltmeister Deutschland im Zentrum und die Defizitkonjunkturen Südeuropas in der Peripherie, die durch stetige Verschuldung die Exportüberschusse Deutschlands aufnahmen. Diese als Defizitkreislauf bezeichnete Wirtschaftsstruktur innerhalb der Eurozone ist längerfristig selbstverständlich nicht aufrecht zu erhalten – Deutschland wird sich nicht dauerhaft "aus der Krise exportieren" können.