Krisenmythos Griechenland

Seite 5: Kapitalistische Selbstzerstörung

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Die Umrisse der globalen Handelsstruktur dürften sich nun abzeichnen, die tatsächlich von Defizitkreisläufen gekennzeichnet war. Exportorientierte Volkswirtschaften führen ihre Produktionsüberschüsse in sich immer weiter verschuldende Zielländer aus. Diese Defizitkreisläufe nahmen bis zum Krisenausbruch an Intensität zu – in den USA, Südeuropa, Großbritannien, Osteuropa und in Griechenland. Hierbei handelte es sich - vor allem im Fall der USA - um einen langfristigen, jahrzehntelangen Prozess. Wie dargelegt, funktionierten diese Defizitkreisläufe nur aufgrund einer stetig zunehmenden Verschuldung in den Ländern, welche die Überschüsse der exportorientierten Volkswirtschaften aufnahmen.

Die Preisfrage lautet nun: Wieso kann sich das kapitalistische Wirtschaftssystem ohne Verschuldung nicht mehr reproduzieren? Sobald die - private oder staatliche - schuldengenerierte Nachfrage wegbricht, setzt eine sich selbst verstärkende Abwärtsspirale ein, in der Überproduktion zu Massenentlassungen führt, die wiederum die Nachfrage senken und weitere Entlassungswellen nach sich ziehen. Der Kapitalismus scheint nur noch "auf Pump" zu funktionieren (ob nun die Schuldenmacherei staatlich oder privat betrieben wird, ist in dieser Hinsicht einerlei).

Wir müssen uns also fragen, wann diese Dynamik eigentlich an Fahrt aufnahm. Wie aus der Grafik Nr. 13 (Gesamtverschuldung USA in Relation zum BIP) ersichtlich wird, setzte dieser Prozess der Schuldenexplosion zeitgleich mit der Epoche des finanzmarktgetriebenen Neoliberalismus in den 80er Jahren ein.

Der Neoliberalismus selber konnte sich nur deswegen global durchsetzen, weil er einen scheinbaren Ausweg aus der fundamentalen Wirtschaftskrise – der sogenannten Stagflation - in den 70er Jahren zu bieten schien. Mit zunehmender Inflation, rasch ansteigender Arbeitslosigkeit und sinkendem Wirtschaftswachstum endete in den frühen siebziger Jahren das Goldene Zeitalter des Kapitalismus, in dem seit Ende des Zweiten Weltkrieges in nahezu allen Industrienationen hohe Wachstumsraten und nahezu Vollbeschäftigung erreicht werden konnten.

Diese mit Inflation, zunehmender Arbeitslosigkeit und stagnierendem Wirtschaftswachstum einhergehende Krise der 70er Jahre hatte ihre Ursachen in der Erschöpfung der damals vorherrschenden Wirtschaftsstruktur, die auf massenhafter und hocheffizienter Anwendung von Arbeitskraft in der Industrie (Taylor-System) und dem Fahrzeugbau als ökonomischen Leitsektor beruhte.

Zum einen erfuhren die neuen – größtenteils erst nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen - Märkte erstmals eine gewisse Sättigung, sodass die Konkurrenz zwischen den einzelnen Unternehmen sich verschärfte. Andererseits führte beständig zunehmende Automatisierung in der Produktion erstmals dazu, dass neue Produktionszweige nicht mehr die durch Rationalisierung überflüssig gewordenen Arbeitskräfte wieder aufnehmen können. Neben besagter Stagflation setzte folglich in den Siebzigern der kapitalistische Super-Gau ein, als die Profitrate massiv einbrach:

Profitrate (Kapitalrentabilität) in den Vereinigten Staaten, 1929-2003. Grafik: http://www.glovesoff.org

Eine ähnliche Entwicklung der Profitrate in dem verarbeitenden Gewerbe der USA ermittelt übrigens auch der amerikanische Ökonom Robert Brenner1. Bekanntlich bildet nicht die Befriedigung von Bedürfnissen den letzten Zweck der kapitalistischen Wirtschaftsweise, sondern eine möglichst hohe "Verzinsung" des investierten Kapitals. Solange die im deutschen Sprachgebrauch gerne als Kapitalrentabilität bezeichnete Erwirtschaftung von Profiten auf einem hohen Niveau verbleibt, reproduziert sich das System auch bei zunehmender Verelendung oder steigender Massenarbeitslosigkeit stabil.

Erst aufgrund der in den USA fallenden Profitrate konnte sich der Neoliberalismus durchsetzen – und dies tat er, weil er schlicht das Problem durch eine Stagnation des Lohnniveaus löste:

Inflationsbereinigtes Lohnniveau und Produktivität in den USA, 1890-2007. Grafik: http://www.rdwolff.com/

Seit den siebziger Jahren stagnieren die realen Löhne in den USA, was zu der Erholung der Profitrate ab den achtziger Jahren maßgeblich beitrug. In der obigen Grafik wird ersichtlich, wie das Lohnniveau in den 80ern von der stürmischen Entwicklung der Produktivität abgekoppelt wird. Für gewöhnlich würde dies ja bedeuten, dass hierdurch eine Überproduktionskrise ausgelöst würde: Die Arbeiter wurden zwar immer produktiver, aber zugleich haben sie nicht mehr Geld zur Verfügung, um die immer größer werdende Menge an Waren zu konsumieren, die sie selber produzieren. Trotz stagnierender Löhne, höherer Produktivität und erneut steigender Profitraten fand genau dies nicht statt. Des Rätsels Lösung findet sich in den Finanzmärkten und der schuldenfinanzierten Defizitkonjunktur, die sie befeuerten:

Gesamtverschuldung (rot) und Bruttoinlandsprodukt (blau) der Vereinigten Staaten in Billionen US-Dollar. Grafik: wirtschaftquerschuss.blogspot.com

Es ist offensichtlich, dass zeitgleich mit der Entkopplung der Produktivität vom Lohnniveau auch eine Entkopplung des Schuldenniveaus von der Entwicklung des BIP in den USA stattfand. Die potentielle Überproduktionskrise, die aufgrund der steigenden Produktivität bei stagnierenden Löhnen eigentlich ausbrechen müsste, wurde einfach durch eine ausartende Verschuldung vertagt – bis 2007. Nach dieser langen Inkubationszeit gerät nun der jahrzehntelange Krisenprozess seit circa drei Jahren in ein manifestes Stadium. Je länger dieses globale schuldenfinanzierte Schneeballsystem aufrechterhalten wurde, desto stärker bildete sich die systemische, latente Überproduktionskrise aus.

Letztendlich ist der Kapitalismus schlicht zu produktiv für sich selbst geworden. Dieses System stößt an eine innere Schranke seiner Entwicklung. Die immer schneller um sich greifende Rationalisierung und Automatisierung führt dazu, dass immer mehr Waren in immer kürzerer Zeit durch immer weniger Arbeitskräfte hergestellt werden können. Neue Industriezweige wie die Mikroelektronik und die Informationstechnik beschleunigten diese Tendenz noch weiter. Diese neuen Technologien schufen weitaus weniger Arbeitsplätze, als durch deren gesamtwirtschaftliche Anwendung wegrationalisiert wurden.

Die kapitalistischen Volkswirtschaften entwickelten sich folglich in zwei verschiedene Richtungen, um dieser systemischen Überproduktionskrise zu begegnen: Sie verschuldeten sich, um die besagte Defizitkonjunktur auszubilden, wie Griechenland, Spanien oder die USA. Oder sie versuchen, die Widersprüche der spätkapitalistischen Produktionsweise zu "exportieren", wie es Deutschland, China (gegenüber den USA), Südkorea oder Japan machen. Doch selbst der ehemalige "Exportweltmeister" Deutschland durchlebte erhebliche Deindustrialisierungsschübe. Bezeichnend ist auch die Tendenz zur ökonomischen Stagnation, die sich in den letzten Jahrzehnten in allen Industrieländern verfestigt hat, die keine Defizitkonjunktur ausgebildet haben.

Entwicklung des deutschen BIP zwischen 1950 und 2004, inklusive der Durchschnittswerte pro Jahrzehnt. Quelle: Statistisches Bundesamt. Grafik: TP

Bezeichnenderweise scheinen alle Exportoffensiven der deutschen Industrie diese stagnative Entwicklung höchstens zu verlangsamen. Die Ausbildung eines gigantischen Finanzsektors und des korrespondierenden riesigen Schuldenbergs im globalen Maßstab könnte auch als eine Systemreaktion auf einen nicht mehr erfolgreich stattfindenden Strukturwandel in den führenden kapitalistischen Industrieländern aufgefasst werden. Schon immer gab es in der Geschichte des Kapitalismus einen Strukturwandel, bei dem alte Industrien verschwanden und neue hinzukamen, die wiederum Felder für Kapitalverwertung und Lohnarbeit eröffneten. Was passiert aber, wenn dieser Strukturwandel ins Stocken gerät? In dieser Hinsicht gleicht die heutige Krise durchaus der Krise von 1929:

Wir haben die Produktion so erfolgreich vorangetrieben, sodass wir vor dem Problem stehen, wie die Güter, die wir produzieren, zu konsumieren sind. Wir sind genötigt, die Produktionsmaschinerie zu verlangsamen. Wir wagen nicht, ihre latenten Möglichkeiten zu entwickeln. Unsere Fortschritte im Export waren so groß, aber die Bedingungen der Welt setzten diesem Fortschritt ihrer Grenzen.

John Rascob

Diese Worte sprach der langjährige Vizechef von General Motors, John Rascob, im Jahre 1930. Bei allen Unterschieden in der Krisenpolitik zwischen den 30er Jahren und heute ist es gerade diese strukturelle Überproduktionskrise der warenproduzierenden Industrie, die letztendlich die Ursache beider Weltwirtschaftskrisen bildete und bildet. Damals zeichneten sich mit der Massenmotorisierung der Industrienationen bereits neue Industriezweige ab, die als Leitsektoren der Wirtschaft dienten.

Die totale (und totalitäre) Mobilisierung während des Gemetzels des Zweiten Weltkrieges führte gerade diese im "embryonalen Stadium" befindlichen Sektoren der Industrie zum Durchbruch. Das "Goldene Zeitalter" des Kapitalismus in den fünfziger und sechziger Jahren (in Deutschland als das "Wirtschaftswunder" bezeichnet) wurde auf den Leichenbergen des Zweiten Weltkrieges errichtet. Heutzutage hingegen führten alle neu entstandenen Wirtschaftssektoren durch Rationalisierungsschübe gesamtwirtschaftlich zu immer weiterem Arbeitsplatzabbau in der Industrie.

Zusammenfassend lässt sich festhalten: die Krise ist nicht drei Jahre, sondern 40 Jahre alt. Die Ursachen der Krise sind nicht in den Finanzmärkten, sondern in der warenproduzierenden, realen Wirtschaft zu suchen. Die wild wuchernden Finanzmärkte haben nicht die warenproduzierende Industrie in den Abgrund gerissen, sondern diese bis zum Zusammenbruch der spekulativen Blasenbildung durch kreditfinanzierte Nachfrage überhaupt am Leben erhalten – so wie es nach Verstaatlichung dieser Defizitkonjunktur nun die Staaten tun.

Dem kapitalistischen System ist die – bewunderte wie gefürchtete – Dynamik eigen, seine Produktion beständig zu revolutionieren und mit permanenten Produktivitätsfortschritten sein eigenes ökonomisches Fundament zu untergraben. Es ist dieser objektive Krisenprozess der gesamten kapitalistischen Produktionsweise, der die Widersprüche zwischen einzelnen Gesellschaftsgruppen und Staaten zuspitzt und zur Eskalation treiben könnte. Da ist einerseits der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit: Die Unternehmen sind bemüht, die tendenziell fallende Profitrate durch Lohnkürzungen und Mehrarbeit der Lohnabhängigen zu sanieren – ein Paradebeispiel hierfür ist Hartz-IV.

Andererseits nehmen die Widersprüche zwischen Zentrum und Peripherie des kapitalistischen Weltsystems zu. Exportorientierte Staaten wie Deutschland bemühen sich, ihre Überschussproduktion in ökonomisch unterlegenen Staaten und Regionen abzusetzen, wodurch die Schuldenkrise Griechenlands wie auch der gesamten südlichen Peripherie der Eurozone (und weiter Teile Osteuropas!) maßgeblich ausgelöst wurde.

Zudem könnten militärisch potente Staaten versucht sein, ihren ökonomischen Abstieg mit militärischen Mitteln aufhalten zu wollen. Wie dieses Unterfangen nach Ausbruch der letzten Weltwirtschaftskrise von 1929 endete, ist hinlänglich bekannt. Die Suche nach handgreiflichen Sündenböcken hat nicht nur in Deutschland bereits begonnen.

Ich danke dem Blog wirtschaftquerschuss.blogspot.com, dem Ökonomen Richard Wolff und der Hans Böckler Stifung für die Erlaubnis zur Verwendung ihrer Grafiken.