Krisenmythos Griechenland

Seite 2: Die europäischen Defizitkreisläufe

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Um die Ausbildung dieser Defizitkonjunktur in den südeuropäischen Ländern der Eurozone zu verstehen, sollen im Folgenden die schweren Ungleichgewichte innerhalb dieser Währungsunion thematisiert werden.

Die Leistungsbilanz misst die Veränderung des Vermögens eines Landes gegenüber dem Rest der Welt. Dieses Vermögen ändert sich durch den Handel mit Waren und Dienstleistungen. Ein Exportüberschuss führt in der Regel auch zu einem Überschuss in der Leistungsbilanz und bedeutet einen Vermögenszuwachs eines Landes gegen den Rest der Welt. Grafik: TP

Die Grafik stellt Leistungsbilanzen etlicher Länder der Eurozone in 2008 und eine Prognose für 2010 dar. Es fällt auf, dass die südeuropäischen Staaten ein sehr starkes Leistungsbilanzdefizit aufweisen, während die wirtschaftlich dominierenden Länder Deutschland, Niederlande und Österreich einen Leistungsbilanzüberschuss erwirtschaften konnten. Die wirtschaftlich fortgeschrittenen Länder im nördlichen Zentrum der Eurozone konnten also einen Zugewinn an Vermögen verzeichnen, während die ökonomisch schwächeren Staaten einen Abfluss von Vermögen hinnehmen mussten.

Erschreckend ist hier natürlich das griechische Defizit in der Leistungsbilanz, das allein im Jahr 2008 nahezu 15% der Wirtschaftsleistung betrug. Dieser Vermögensabfluss von rund 15% muss durch Schuldenaufnahme finanziert werden. Natürlich spielt Deutschland aufgrund seines ökonomischen Gewichts bei diesen Ungleichgewichten in der Leistungsbilanz eine zentrale Rolle.

Grafik: Hans Böckler Stifung

Bei dieser Impuls-Grafik der Hans Böckler Stiftung sehen wir oben die Leistungsbilanzüberschüsse der Bundesrepublik und unten die Defizite dreier südeuropäischer Staaten – hier leider ohne Griechenland. Offensichtlich verhalten sich deutsche Überschüsse und die südeuropäischen Defizite nahezu spiegelverkehrt! Die Intensivierung der deutschen Exportoffensive führt zu steigenden Defiziten in Südeuropa. Und umgekehrt lässt der krisenbedingte Einbruch der deutschen Exporte auch die Defizite im Süden der Eurozone schrumpfen.

Wie verhält es sich bei der Handelsbilanz zwischen Deutschland und Griechenland? Die zwischen Flensburg und München tosende Welle nationalistischer Empörung gegen die "faulen Griechen" wurde ja durch die ursprünglichen deutschen Finanzierungsverpflichtungen in Höhe von 8,4 Milliarden Euro ausgelöst. Ironischerweise entspricht diese Summe in ungefähr den 8,3 Milliarden Euro, auf die sich allein in 2008 deutsche Exporte nach Griechenland summierten. Griechenland exportierte im Gegenzug Waren im Wert von nur 1,9 Milliarden Euro in die Bundesrepublik.

Die in den Grafiken dargelegten Leistungsbilanzdefizite der südeuropäischen Staaten sind zuvorderst Handelsdefizite. Selbstverständlich stellt die Handelsbilanz den wichtigsten Posten innerhalb der Leistungsbilanz dar, die ja noch Dienstleistungen und Geldüberweisungen erfasst.

Für den ehemaligen "Exportweltmeister" Deutschland, der erst in 2009 von China auf die Plätze verwiesen wurde, bildet die Europäische Union den wichtigsten Absatzmarkt. Wie die obige Grafik illustriert, bildete die Bundesrepublik im vergangenen Jahr mit nahezu allen Ländern der Europäischen Union Handelsüberschüsse aus. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass hier Deutschlands Exportmaschine schon etwas langsamer lief, da die Weltwirtschaftskrise global die Nachfrage auch nach deutschen Gütern dämpfte. Um sich diese Dimension noch einmal zu verdeutlichen: 2008 sollen sich die Exportüberschüsse der BRD nur gegenüber der Eurozone auf rund 100 Milliarden Euro belaufen haben!

Die Überschüsse der deutschen Exportindustrie bilden aber die Defizite der importierenden Länder. Die unter Druck geratenen südlichen Volkswirtschaften der Eurozone, mussten ja irgendwie für die deutschen Waren aufkommen, die ihre Märkte überschwemmten. Dieses geschah über private oder staatliche Defizitbildung – also durch Verschuldung.

Das rote Segment stellt den jeweiligen Anteil der deutschen Banken an den Gesamtforderungen dar. Grafik: TP

Dabei waren es nicht zuletzt deutsche Finanzinstitute, die diese Defizitkonjunkturen vermittels großzügiger Kreditvergabe finanzierten. Deutsche Institute halten beispielsweise in Griechenland Forderungen in Höhe von 43 Milliarden US-Dollar. In Portugal sind es 47 Milliarden und in Spanien sind es sogar 240 Milliarden Dollar.

Hier erst schließt sich der Kreis der besagten südeuropäischen Defizitkonjunkturen zu einem Defizitkreislauf. Die ökonomisch überlegenen Volkswirtschaften des nördlichen Zentrums der Eurozone – allen voran die BRD - konnten nicht nur enorme Handelsüberschüsse mit Südeuropa erwirtschaften, ihre Finanzsektoren profitierten noch zusätzlich von der Kreditvergabe an den griechischen Staat oder an spanische Unternehmen, Hypothekennehmer und Konsumenten. Während von Deutschland aus die Warenströme in den Süden der Eurozone flossen, strömten in der Gegenrichtung griechische, spanische und portugiesische Wertpapiere in die Banktresore deutscher Finanzinstitute – seien es Staatsanleihen, Hypothekenverbriefungen oder Konsumentenkredite.

Der Magersüchtige Vize-Exportweltmeister

Ein Faktor, der die Ausbildung dieser riesigen Handelsüberschüsse der deutschen Exportindustrie ermöglichte, stellt sicherlich die Einführung der europäischen Gemeinschaftswährung dar. Der Euro nahm den südlichen Euro-Ländern die Möglichkeit, mittels einer Währungsabwertung die Konkurrenzfähigkeit ihrer Wirtschaft zumindest partiell wiederherzustellen. Diese Währungsabwertungen waren beispielsweise in Italien vor der Euroeinführung durchaus üblich.

Krisenverschärfend kommt noch hinzu, dass Griechenland aufgrund der Euro-Einführung die Kontrolle über die Geldpolitik verloren hat. Athen ist somit nicht in der Lage, die eigenen Staatsanleihen aufzukaufen, und durch diese Gelddruckerei den Staatsbankrott aufzuschieben.

Genau diese Verfahrensweise hat beispielsweise Großbritannien praktiziert. Die britische Notenbank kaufte bis Februar 2010 die eigenen britischen Staatsanleihen im Wert von nahezu 200 Milliarden Pfund auf. Bei der Ausformung der konkreten Bestimmungen der Währungsunion sorgte vor allem die deutsche Politik dafür, dass die Europäische Zentralbank nicht befugt war, griechische Staatsanleihen aufzukaufen.

Die äußerst erfolgreiche Exportoffensive der deutschen Industrie wurde aber vor allem durch eine miserable Lohnentwicklung in der Bundesrepublik verursacht. Sie ist die zentrale Ursache für Deutschlands Exportweltmeisterschaft. Der Druck auf die Löhne und Gehälter wurde u.a. durch Abschreckung und Disziplinierung im Rahmen von Hartz-IV erreicht.

Zum einen wirkt die bewusst kalkulierte Verarmung der ALGII-Bezieher abschreckend auf all diejenigen Lohnabhängigen, die sich Unternehmensforderungen ausgesetzt sehen. Widerstandspotential in den Betrieben wird so minimiert. Andererseits wirkt der als "aktivierende Maßnahmen" verniedlichte Druck der Arge-Mitarbeiter gegen die Arbeitslosen. Diese sollen hierdurch zur Annahme jeglicher Arbeit gezwungen werden. Diese Maßnahmen zielten auf den Aufbau eines "Niedriglohnsektors", auf die Herausbildung einer Klasse von "Working Poor" nach amerikanischem Vorbild. Beide Maßnahmen zur Senkung des Preises der "Ware Arbeitskraft" haben einen durchschlagenden Erfolg erzielt.

Grafik: Hans Böckler Stifung

Wie aus der obigen Grafik ersichtlich wird, waren allein 2007 schon 6,5 Millionen Lohnabhängige in Deutschland im Niedriglohnsektor tätig. Alle wichtigen statistischen Erhebungen der letzten Zeit weisen darauf hin, dass Deutschland bei der Lohnentwicklung in der Eurozone das Schlusslicht bildet. Zwischen 2002 und 2008 stiegen die Bruttolöhne und Gehälter in Deutschland um durchschnittlich 15 Prozent, während sie im europäischen Durchschnitt um 32 Prozent zulegten. Inflationsbereinigt sind die Einkünfte laut dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung sogar regelrecht eingebrochen: Die "Arbeitnehmerentgelte je Arbeitnehmer" seien demnach zwischen 2000 und 2008 in Deutschland um neun Prozent gesunken. Kein anderes EU-Land hat laut DIW in diesem Zeitraum einen derartigen Einbruch des Lohnniveaus verbucht.

Grafik: Hans Böckler Stifung

Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch die Hans Böckler Stiftung, die sich auf Material des europäischen statistischen Amtes stützt. In der untersten der drei Grafiken wird die Entwicklung der Bruttolöhne pro Beschäftigten zwischen 1999 und 2008 dargestellt. Offenbar konnten die Lohnabhängigen in Frankreich langfristig ordentliche Lohnzuwächse verbuchen, während die Arbeiter und Angestellten in Deutschland heute weniger verdienen als vor zehn Jahren. Hier erschließt sich die Quelle des deutschen "Exportwunders". Das leicht rückläufige Lohnniveau in Deutschland ging einher mit einer Steigerung der Produktivität der deutschen Industrie.

Grafik: Hans Böckler Stifung

Hieraus ergab sich eine sehr vorteilhafte Entwicklung der Lohnstückkosten in Deutschland – also des Anteils der Löhne an den Kosten einer Ware. Während diese, wie in der obigen Grafik illustriert, im Euro-Raum zwischen 1998 und 2007 nahezu konstant blieben, sanken sie in der Bundesrepublik deutlich. Deutsche Waren sind auf den Weltmarkt deshalb so konkurrenzfähig, weil sie bei hoher Produktivität von – in Relation zu anderen Industriestaaten – gering bezahlten Arbeitskräften produziert werden.

Die "Exportweltmeisterschaft" Deutschlands wurde also durch eine fallende Lohnquote, durch ein stagnierendes Lohnniveau, durch einen expandierenden Niedriglohsektor, durch Mehrarbeit und die allgemeine Hetze gegen "faule Arbeitslose" erkauft – genauso wie die nun anstehende nächste Runde von Sozialkürzungen von einer Kampagne gegen faule Griechen begleitet wird. Bei Deutschland handelt es sich sozusagen um einen magersüchtigen Vize-Exportweltmeister. Die Lohnabhängigen in der BRD mussten sich die Exportweltmeisterschaft der deutschen Exportindustrie durch beständiges "Gürtel-enger-Schnallen" vom Munde absparen.

Hier nochmals eine Wirtschaftsquerschuss-Grafik, die diese aggressive Wirtschaftspolitik der bundesdeutschen Exportindustrie veranschaulicht:

Es ist klar erkennbar, dass selbst nach dem Kriseneinbruch der Außenhandelsüberschuss Deutschlands bestehen bleibt und sich erneut ausweitet. Der Überschuss in der Handelsbilanz erhöhte sich von circa acht Milliarden Euro im Januar auf 12,6 Milliarden im Februar 2010. "Deutschland exportiert sich aus der Krise" titelte beispielsweise Spiegel-Online. Es stellt sich nur die Frage, auf wessen Kosten diesmal diese Exportoffensive ablaufen wird.