Krisenmythos Griechenland

Seite 4: Defizitkonjunktur als globaler Wirtschaftsmotor

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Dabei ist dieser Defizitkreislauf keineswegs einzigartig oder gar der größte seiner Art. Die Weltwirtschaftskrise tritt vor allem als eine Schuldenkrise in Erscheinung. Auch in Osteuropa erblühte bis zum Ausbruch der Weltwirtschaftskrise eine Defizitkonjunktur. Westliche Banken haben sich mit insgesamt 1.500 Milliarden US-Dollar (ca. 1.150 Milliarden Euro) zwischen Baltikum und Schwarzmeer engagiert. Diese riesigen Kreditbeträge fungierten ebenfalls als eine Art Brennstoff, der den Konjunkturmotor in Osteuropa am Laufen hielt. Der Aufprall in der Rezession fiel bekanntlich in Osteuropa umso härter aus.

Griechenland ist bei Weitem nicht das erste Opfer dieser Krise der Staatsfinanzen. Schon bei Krisenausbruch mussten etliche Länder Osteuropas durch Interventionen des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank vor dem Staatsbankrott bewahrt werden. Dabei ist die Tendenz erkennbar, dass sich der Krisenprozess von der Peripherie ins Zentrum des kapitalistischen Weltsystems frisst. Die Einschläge kommen sozusagen immer näher. Mit Griechenland steht erstmals ein Land der Eurozone am Abgrund.

Diese Grafik gibt die Gesamtverschuldung etlicher Volkswirtschaften wieder. Die Verbindlichkeiten werden hier nach Sektoren aufgeschlüsselt und in Prozent des Bruttoinlandsprodukts angegeben. Quelle: http://www.mintme.com. Grafik: TP

Das Potenzial für eine weitere Eskalation der nun als Schuldenkrise sich manifestierenden Systemkrise des kapitalistischen Systems ist jedenfalls enorm. Wie aus der obigen Grafik ersichtlich wird, sind etliche Industrienationen mit mehr als 300% ihrer jährlichen Wirtschaftsleistung verschuldet. Auch wenn einige der Angaben in der obigen Grafik, vor allem in Bezug auf die USA, veraltet sind, visualisiert diese doch die ökonomische Funktion von Schuldenbildung sehr gut. Im Endeffekt ist es egal, ob der Staat, die private Wirtschaft oder die Konsumenten sich verschulden: Gemeinhin stimuliert diese kreditgenerierte Nachfrage die Konjunktur und führt zu weiterem Wirtschaftswachstum. Ob nun der amerikanische Staat neue Marschflugkörper ordert, in Spanien zur Spekulationszwecken neue Ferienhäuser gebaut oder in Osteuropa Konsumentenkredite vergeben werden: All diese Aktionen generieren Nachfrage und beleben die entsprechenden Industriezweige.

Die relativ gute globale Wirtschaftsentwicklung der letzten Jahrzehnte wurde größtenteils durch diese Verschuldungsprozesse ermöglicht. Die Ausweitung dieser kreditfinanzierten Massennachfrage ging einher mit der Expansion des Finanzsektors in etlichen Industriestaaten. Diese Nachfrage wurde gerade vom Finanzsektor erst generiert, für den die Kreditvergabe die wichtigste "Ware" darstellt, die er feilbieten kann! Die Ausweitung der Verschuldung kommt für die Finanzinstitute einer Expansion ihrer Märkte gleich. Die wild wuchernden Finanzmärkte ließen somit nicht nur etliche Spekulationsblasen aufsteigen, sondern seit den achtziger Jahren vermittels exzessiver Kreditvergabe ihre eigenen Märkte expandieren. Nach den Ursachen der gegenwärtigen Wirtschaftskrise befragt, benannte auch der Nobelpreisträger Paul Krugman die ausartende Kreditvergabe als den wichtigsten Faktor:

Nun, ich wusste zwar, dass wir in Amerika gewaltige Probleme haben, etwa auf dem Immobilienmarkt mit seinen Billionen-Verlusten. Doch dann wurde klar, dass es sich um eine globale Kreditblase handelte, von den USA bis nach Europa.

Paul Krugman

Im Zentrum dieses eigentlich seit Jahrzehnten betriebenen schuldenfinanzierten Perpetuum Mobile standen die Vereinigten Staaten. Aufgrund der Größe ihrer Volkswirtschaft spielt die exzessive Defizitkonjunktur in den USA global eine zentrale Rolle. Dort erreichte die Gesamtverschuldung im März 2008 mehr als 350% des Bruttosozialprodukts.

Weltweite Verschuldung der Vereinigten Staaten (Staat, Konsumenten, Privatwirtschaft) in Relation zum Bruttoinlandsprodukt. Quelle: http://www.marketoracle.co.uk. Grafik: TP

Inzwischen ist auch diese Grafik überholt, da die Gesamtverschuldung der USA bei circa 390% des BIP liegen dürfte. Deutlich ist zu erkennen, wie die Schuldenaufnahme in den 80er Jahren rasch ansteigt und inzwischen sogar das Niveau der Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre überschritten hat. Dies ist ein historisch einmaliges Verschuldungsniveau. Diese beispiellose Defizitkonjunktur in den Vereinigten Staaten fungierte als die wichtigste globale Konjunkturlokomotive der vergangenen Jahre. Ähnlich wie Griechenland oder Spanien bildeten die USA ein Handelsdefizit aus, das aber eine gigantische Dimension erreichte:

Auf dem Höhepunkt ihrer Defizitkonjunktur verzeichneten die Vereinigten Staaten ein Handelsdefizit von nahezu 900 Milliarden US-Dollar. Die USA glichen also einem schwarzen Loch der Weltwirtschaft, das durch sein Handelsdefizit einen Großteil der Überschussproduktion der Welt aufnahm und somit stabilisierend auf das gesamte kapitalistische Weltsystem wirkte. Bei diesen Dimensionen verblassen selbst die ökonomischen Ungleichgewichte zwischen Deutschland und den verschuldeten südlichen Ländern der Eurozone. Aufgrund dieser historisch beispiellosen Verschuldungsquote der Vereinigten Staaten - auf diesem "Ground Zero" der globalen Defizitkonjunktur - baut sich ein enormes globales Krisenpotential auf, wie unlängst auch der Krisenprophet Nouriel Roubini bemerkte:

Heute machen sich die Märkte Sorgen um Griechenland, aber Griechenland ist nur die Spitze des Eisbergs, der Kanarienvogel in der Kohlemine, einer breiteren Palette an fiskalischen Problemen. … Schließlich werden auch die fiskalischen Probleme der USA in den Vordergrund rücken … Das Risiko, dass in den nächsten zwei oder drei Jahren in den USA etwas Ernstes passiert, ist erheblich.

Nouriel Roubini

Verstaatlichung der Defizitkonjunktur

Was passierte, als dieser schuldenfinanzierte Turmbau zu Babel auf den Finanzmärkten zusammenbrach? Sobald die Finanzmärkte nach der Pleite von Lehman Brothers in Schockstarre übergingen und global die Kreditvergabe einbrach, wandelte sich die Finanzkrise in eine Wirtschaftskrise.

Die obige Grafik stellt den gewaltigen Einbruch der Industrieproduktion der Eurozone im Jahr 2009 dar, die im Jahresvergleich um bis zu 20% schrumpfte. Der Zusammenbruch des kreditfinanzierten Schneeballsystems ließ die Nachfrage einbrechen, die Industrieproduktion kollabierte und dies hatte folglich auch die ersten massenhaften Entlassungen von Arbeitskräften zur Folge – vor allem in Spanien, wo die Arbeitslosenquote inzwischen die 20% Hürde überschritten hat.

Die Reaktion der kapitalistischen Krisenpolitik auf diesem Einbruch bestand zumeist in einer Verstaatlichung dieser Defizitkonjunktur, indem die meisten Industriestaaten enorme Konjunkturpakete auflegten. Billionen Dollar und Euro wurden überdies in die "Stabilisierung der Finanzmärkte" gepumpt.

Globale Verteilung der Aufwendungen bei Konjunkturprogrammen. Quelle: IfW. Grafik: TP

Die staatlichen Konjunkturprogramme erreichen auf globaler Ebene tatsächlich enorme Dimensionen. Das Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW) beziffert den weltweiten Umfang der staatlichen Konjunkturhilfen auf rund drei Billionen US-Dollar. Dieser gigantische staatliche Nachfrageschub entspricht laut IfW ca. 4,7% des Welteinkommens. Es ist somit klar, dass hier im globalen Maßstab eine "Verstaatlichung" der vormals durch private Verschuldung betriebenen globalen Defizitkonjunktur stattgefunden hat.

Diese staatlichen Konjunkturprogramme können aber nicht in alle Ewigkeit fortgesetzt werden. Die 4,7% des Welteinkommens umfassenden Konjunkturpakete entsprechen auch einer staatlichen Verschuldung von 4,7% des Welteinkommens. Hinzu müssen noch die teilweise weitaus höheren Kosten zur Stabilisierung des Weltfinanzsystems addiert werden, die im Gefolge der Finanzkrise auf die Steuerzahler zukommen. Griechenland brach somit - aufgrund der oben ausgeführten Ursachen – schlicht als erster Staat der Eurozone unter dieser permanent zunehmenden Schuldenlast zusammen.

Immerhin müsste jetzt klar geworden sein, wieso die Weltwirtschaftskrise bisher den eingangs angesprochenen Formwandel durchmachte, also wieso der Krisenprozess zuerst als eine Finanzkrise auftrat, um danach in einen Wirtschaftseinbruch überzugehen, der schließlich von der gegenwärtigen Krise der Staatsfinanzen abgelöst wird: "Vater Staat" sprang mit seinen Konjunkturprogrammen schlicht in die Bresche, als die durch die Finanzmärkte organisierte Defizitkonjunktur zusammenbrach.

Diese Entwicklung lässt sich auch gut an der Explosion der Staatsverschuldung in den Vereinigten Staaten belegen, die den größten potentiellen Krisenfaktor für das gesamte kapitalistische Weltsystem darstellt:

Angesichts dieser Verschuldungsdynamik stellt die griechische Schuldenkrise tatsächlich nur die "Spitze eines Eisberges" dar.